Bühne des Kapitels / Moduls
Begriffe, theoretische Bezüge und praktische Implikationen
1. Grundlagen der Extremismusprävention
Inhalt des Kapitels / Moduls
Begriffe, theoretische Bezüge und praktische Implikationen
Obwohl sich dieses Handbuch vornehmlich an die anwendungsorientierte Praxis in den diversen gesellschaftlichen Handlungsfeldern richtet, wollen wir in Kapitel 1 zunächst einige für das Handlungsfeld der Extremismusprävention zentrale Begriffe einführen und einen theoretischen Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich die Praxis der Extremismusprävention vollzieht – unabhängig davon, ob es den jeweiligen Praktikern bewusst ist, oder nicht. Hierbei ist das Verhältnis von Theorie und Praxis ausdrücklich nicht entsprechend einem weitläufig geteilten Verständnis als Widerspruch gesetzt:
Der hier gesetzte theoretische Bezugsrahmen strebt eine überblickartige Erfassung und Skizzierung der vielfältigen Rahmenbedingungen unseres praktischen Handelns in diesem komplexen Feld an. Es gilt, für die jeweils gegebenen handlungspraktischen Realitäten zu einer jeweils bestimmten Zeit – sowohl mit Blick auf ein individuelles als auch gesamtgesellschaftliches Radikalisierungsgeschehen – zu sensibilisieren. Ändern sich die Rahmenbedingungen und ändern sich die Phänomene, denen wir präventiv begegnen wollen, so ergeben sich andere handlungspraktische Erfordernisse und die Notwendigkeit der Anpassung bzw. Erweiterung unserer theoretischen Modelle.
In diesem Sinne ist Theorie hier nichts anderes als eine systematisch strukturierte Bündelung unserer praktischen Erfahrungen und damit ein geeignetes Werkzeug, Neueinsteigern im jeweiligen Praxisfeld eine erste Handlungsorientierung an die Hand zu geben: Worauf sollte ich achten, was ist unter welchen Umständen und zu welchem Zeitpunkt mehr oder weniger bedeutsam und damit mehr oder weniger prioritär handlungspraktisch anzugehen? Stets die Darstellung begleitend und schließlich das Kapitel abschließend sollen einige zentrale praktische Schlussfolgerungen für das hier gegenständliche Handlungsfeld herausgestellt werden.
Handlungsfeldrelevante Begriffe – Einordnung und Definitionen
In einem ersten Schritt soll zunächst eine erste inhaltliche Annäherung an die hier zentralen Begriffe erfolgen. Hierbei handelt es sich zum einen um die Einzelbegriffe der Komposition „Extremismusprävention“ und zum anderen um die Begriffe „Radikalisierung“ und „Terrorismus“, die im Zusammenhang mit dem Extremismusbegriff immer wieder auftauchen. Folgen wir der medialen Berichterstattung und den (sicherheits-)politischen Diskursen, scheinen die Phänomene, die mit diesen Begriffen belegt sind, eng miteinander verzahnt. Folgen wir jedoch der empirischen Forschung, scheinen wir mit Blick auf die Gestaltung der Präventionspraxis gut beraten, hier eine begrifflich-phänomenologische Abgrenzung vorzunehmen. Die bisweilen anzutreffende Gleichsetzung von Radikalisierung und Extremismus bzw. Terrorismus birgt ein hohes Risiko, eine ungeeignete Therapie bzw. Handlungspraxis auf den Weg zu bringen.
Betrachten wir zunächst den Begriff der Prävention, mit dem im Gegensatz zu den anderen Begriffen im Allgemeinen zunächst positive Assoziationen verknüpft sind: Prävention ist ein Oberbegriff, der im weitesten Sinne Maßnahmen umschreibt, die umgesetzt werden, um einen ungewünschten Zustand einer Person (etwa: Krankheit) oder Gesellschaft (hier: Extremismus) zu verhindern.
Je nach Handlungskontext werden zahlreiche Unterbegriffe differenziert, auf die in den jeweiligen (Unter-)Kapiteln näher eingegangen wird. Um den theoretischen Bezugsrahmen spannen und das Handlungsfeld der Extremismusprävention abstecken zu können, sind hier folgende grobe Binnendifferenzierungen hinreichend: Mit Blick auf den jeweiligen Interventionszeitpunkt präventiver Maßnahmen differenzieren wir zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Ist es beabsichtigt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, bevor ein ungewünschter Zustand eingetreten ist, sprechen wir von Primärprävention. Im Arbeitsfeld der Sekundärprävention gilt es, im Falle eines bereits eingetretenen ungewünschten Zustandes eine weitere Verschlechterung zu verhindern, und die Tertiärprävention richtet ihr Augenmerk darauf, im Falle einer Zustandsstabilisierung bzw. -verbesserung eine erneute Verschlechterung bzw. einen Rückfall zu vermeiden. Differenzieren wir präventive Maßnahmen hinsichtlich der jeweiligen Zielgruppen, sprechen wir von universeller, selektiver und indizierter Prävention. Maßnahmen der universellen Prävention richten sich an die Gesamtbevölkerung, während die selektive Prävention auf bestimmte Bevölkerungs- bzw. Personengruppen fokussiert, die nach Kenntnislage ein höheres Risiko tragen, den ungewünschten Zustand zu entwickeln. Die indizierte Prävention ist auf Personen ausgerichtet, die den ungewünschten Zustand bereits entwickelt haben (ausführlich: Kap. 5.3). In diesem Handbuch wird die Extremismusprävention im Wesentlichen entlang der Differenzierung nach universeller, selektiver und indizierter Prävention aufgefächert (vgl. ausführlich Kap. 5). Ferner – und für den theoretischen Bezugsrahmen von einiger Relevanz – werden Präventionsmaßnahmen dahingehend unterschieden, ob sie am (individuellen) Verhalten von Personen (Verhaltensprävention) oder aber an den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen (Verhältnisprävention) ansetzen, die Entwicklungen in Richtung eines ungewünschten Zustandes mehr oder weniger wahrscheinlich werden lassen bzw. begünstigen.
Wenn wir uns den Begriffen Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus zuwenden, soll dies zunächst von allgemeinen Beobachtungen ausgehend geschehen. Die sich um diese Begriffe immer wieder entspinnenden öffentlichen – medialen und (sicherheits-) politischen – Debatten machen deutlich, wie politisch hoch geladen diese Begriffe sind. So sind hiermit keine Fachtermini angesprochen, die – wie etwa in den Naturwissenschaften – objektiv greifbare Größen bzw. Phänomene beschreiben. Es mangelt sowohl im internationalen wissenschaftlichen als auch im politischen Bereich an einer allgemein geteilten, einheitlichen Definition. Es finden sich gemäß einer Studie von Alex Schmid1) über 200 (sic!) mehr oder weniger stark abweichende Definitionen im wissenschaftlichen sowie institutionellen Gebrauch der verschiedenen, mit dem Phänomen in irgendeiner Weise befassten nationalen sowie internationalen Einrichtungen.
In diesen Definitionen offenbaren sich neben „objektiven“ Wesensmerkmalen von Terrorismus (etwa: Gewaltanwendung, Hinweise auf angewandte Strategien und Taktiken) vor allem „subjektive“ soziale Zuschreibungen: Wie wird der Terrorismus aus der Perspektive der jeweiligen Institution bzw. wissenschaftlichen Disziplin wahrgenommen? Es besteht weder Einigkeit darüber, welcher Personenkreis mit dem jeweiligen Extremismus oder Terrorismus assoziiert ist, noch darüber, was den jeweiligen Terrorismus und Extremismus inhaltlich ausmacht beziehungsweise charakterisiert. Dies behindert eine „aufgeklärte“ Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen.
Das Fehlen einer (international) allgemein geteilten Definition erschwert darüber hinaus auch ein (international) abgestimmtes und koordiniertes Handeln zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren: Auf welche Gruppierungen sollen sich die Aktivitäten sowie die konkreten – repressiven sowie auch präventiven – Maßnahmen beziehen? Was sind also die Orientierungsgrößen unserer gesellschaftlichen Bekämpfungs- bzw. Präventionsmaßnahmen in diesem Feld? Und um welche Extremismus- oder Terrorismusform geht es jeweils: um einen nationalistischen, separatistischen, sozial-revolutionären oder religiös motivierten Extremismus oder Terrorismus?2) Für diese unterschiedlichen Spielarten des Terrorismus stehen mit Blick auf Deutschland etwa die Kürzel NSU (National-Sozialistischer Untergrund), IS (sog. Islamischer Staat) oder – zeitlich weiter zurückreichend – RAF (Rote Armee Fraktion). Die hier angesprochenen Ausdrucksformen eines rechts-, links- sowie religiös motivierten Terrorismus rekrutieren ihre Akteurinnen und Akteure aus grundverschiedenen sozialen Gruppierungen, verfolgen bzw. verfolgten sehr unterschiedliche Zielstellungen und geschehen bzw. geschahen vor dem Hintergrund äußerst unterschiedlicher Ideologien und historischer gesellschaftlicher Bedingungen. Daraus resultiert ganz offensichtlich ein Forschungs- und Handlungsfeld, das alles andere als einheitlich ist – es ist durch eine in sich höchst unterschiedliche Phänomenologie verschiedener Ausprägungen gekennzeichnet, die gemeinhin unter dem Label „Terrorismus/Extremismus“ kategorisiert werden (zur Differenzierung der unterschiedlichen Extremismen vgl. ausführlich: Kap. 2).
Es würde den Rahmen sprengen, hier tiefer in die Problematik der Definition von „Extremismus“ und „Terrorismus“ einzutauchen. Ich verweise zur Definitionsproblematik an dieser Stelle auf die einschlägige Fachliteratur.3) Da insbesondere um die verschiedenen Erscheinungen eines religiös-salafistisch und politisch links motivierten Extremismus und dessen Verhältnis zum Rechtsextremismus gestritten wird4), sollte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die amtlichen, von den Sicherheitsbehörden verwendete Extremismusbegriffe sich von vielen in den Wissenschaften verwendeten unterscheiden.5)
Und nähern wir uns mit Wikipedia (2019) den Begriffen Radikalisierung und Radikalismus zunächst wiederum ganz allgemein, so wird hiermit „eine politische Einstellung (angesprochen), die grundlegende Veränderungen an einer herrschenden Gesellschaftsordnung anstrebt.“ Mit dem Begriff der Radikalisierung ist ein Prozess in Richtung der Ausbildung radikaler politischer Einstellungen gemeint. Derartige Prozesse bergen das Risiko in sich, in eine kriminelle Karriere zu münden, an deren Ende die Ausübung schwerer Gewaltstraftaten in Gestalt terroristischer Anschläge stehen kann. Dies aber ist nicht das zwangsläufige Ende eines Radikalisierungsprozesses – obwohl der bisweilen aufgeregte öffentliche Diskurs um Radikalisierungserscheinungen in der Gesellschaft dieses nahezulegen scheint.
Warum ist dieser Hinweis hier von Bedeutung? Er ist von Bedeutung, weil eine politische Radikalisierung von Personen oder sozialen Bewegungen durchaus auch positiv sein kann und nur selten in Kriminalität und Gewalt mündet. Hierfür stehen beispielhaft die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika der 1960er-Jahre sowie die indische Unabhängigkeitsbewegung der 1940er-Jahre und deren zentrale Leitfiguren: Martin Luther King und Mahatma Gandhi – zwei zutiefst radikalisierte Personen, die allerdings ihre radikalen Überzeugungen nicht in Gewalt münden ließen, sondern, ganz im Gegenteil, eine Anti-Gewalthaltung, eine konsequente gewaltabstinente Politik propagiert und praktiziert haben. Dies ist allein aus strategischen Gründen schon naheliegend: Warum sollte eine soziale (Protest-)Bewegung auch das Risiko eingehen, durch Gewaltanwendung die verfolgten politischen Ziele in Misskredit zu bringen und sich der Möglichkeit berauben, in breiteren Bevölkerungsgruppen und weiteren sozialen Milieus für ihr Anliegen um Unterstützung zu werben?
Ganz offensichtlich ist kein direkter und unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Radikalisierung und Gewalt gegeben. Radikalität ist in aller Regel nicht zerstörerisch, sondern vielmehr Motor individueller und gemeinschaftlicher gesellschaftlicher Entwicklung. Sowohl in der Entwicklung von Individuen als auch Gesellschaften beobachten wir radikale Entwicklungsphasen. Mit Blick auf die Individualentwicklung finden sich diese in erster Linie im Jugendalter, in der Pubertät: In dieser Phase der Identitätsfindung werden verstärkt unbequeme, provokante Meinungen entwickelt, die die Alltagsroutinen der Erwachsenen und gesellschaftliche Konventionen infrage stellen.
Wenn diese Fragen von allgemeiner Bedeutung sind – etwa den Frieden in der Welt, die wirtschaftliche Entwicklung oder Energieversorgung betreffend – ergibt sich hier in der Regel ein Potenzial für mehr oder weniger radikale Protestbewegungen mit mehr oder weniger Breitenwirkung. Grob überschlagend bilden sich solche Protestbewegungen im Schnitt alle 10 bis 20 Jahre aus. Die letzten Jahrzehnte rückblickend betrachtet stehen hierfür beispielhaft die Hippie- und studentische Protestbewegung in den 1960er-, 1970er-Jahren, die Öko- und Anti-Atomkraft-Bewegung sowie die (neue) Friedensbewegung der 1970er- bis 1980er-Jahre, die Anti-Globalisierungs- und Occupy-Bewegung der 1990er- bis 2000er-Jahre sowie aktuell die das Thema Klimaschutz bzw. Klimawandel aufgreifenden internationalen Bewegungen Fridays for Future (FFF – Freitage für die Zukunft) und Extinction Rebellion (XR – Rebellion gegen das Aussterben).
Ganz allgemein und neutral betrachtet erscheint dieses Protestgeschehen begrüßenswert: Die nachwachsende Generation konfrontiert die Eltern(-generation) bzw. die gesellschaftlichen Entscheidungsträger im Kern mit der Frage, ob sie noch die richtigen Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen haben. Die so provozierten Auseinandersetzungen generieren idealerweise nicht selten ein innovatives und in der Regel konfliktregulierendes gesellschaftliches Klima, in dem sich radikalisierte Gewalt im Verhältnis zur Breite der Protestbewegungen nur geringfügig ausbildet. Dies geschieht zwar nicht immer gänzlich reibungslos, aber schlussendlich sorgen diese „radikalen“ Prozesse politischer Neuausrichtung in diesem oder jenem Politikfeld für Innovationsschübe. Über eine durch nachwachsende Generationen angestoßene gemeinschaftliche kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Konfliktherden betreibt die Gesellschaft sozusagen „Zukunftssicherung“.
Droht oder ist gar bereits eine Situation entstanden, in der Radikalität sich außerhalb des Bereichs eines wünschenswerten gesellschaftlichen „Innovationskorridors“ bewegt und in Extremismus, in kriminelles, gewalttätiges Verhalten umschlägt, welches von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werden kann, weil bestimmten gesellschaftlichen Gruppen Gewalt angetan wird, sind repressive und präventive Maßnahmen zu ergreifen, um das konstruktive Potenzial radikaler Auseinandersetzungen (wieder) zu befördern bei gleichzeitiger Unterdrückung des zweifelsohne gegebenen Gewaltpotenzials.
Angesichts der Vielgestaltigkeit der verschiedenen Definitionen zu diesen Begriffen bzw. sozialen Phänomenen ist bewusst ein weiter Definitionsrahmen gewählt, der eine weitgehende Kompatibilität mit Definitionen garantiert, die insbesondere auch in phänomenbezogenen gesellschaftlichen Praxisfeldern (in der Spannbreite von wissenschaftlicher Forschungspraxis über zivilgesellschaftliche Präventionspraxis bis hin zu sicherheitsbehördlicher Verfolgungspraxis) Anwendung finden.
Das bedeutet, dass die dem Handbuch zugrunde gelegten Definitionen nicht notwendigerweise alle Aspekte abbilden, die in unterschiedlichen handlungsfeldbezogenen Definitionen Berücksichtigung finden. Die Definitionen verstehen sich als Arbeitsdefinitionen, die eine grundlegende Orientierung zu den infrage stehenden Phänomenen geben sollen. Sie können auch als Ausgangspunkte für erweiterte Definitionen dienen, indem mit Blick auf spezifische Erfordernisse in verschiedenen phänomenbezogenen Handlungsfeldern weitere Aspekte bzw. Definitionskriterien aufgenommen werden.
Voranzustellen ist ferner, dass die Definitionen entgegen dem geflügelten Wort „Des einen Terroristen ist des anderen Freiheitskämpfer!“ nicht beliebig und gänzlich offen gegenüber unterschiedlichen Wertvorstellungen sind. Es existiert ein zentraler definitorischer Ausgangspunkt, der in den unveräußerlichen Menschenrechten und dem Toleranzgebot einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung begründet sowie dem Ideal eines pluralistischen Gemeinwesens verpflichtet ist.6)
Unter Radikalisierung soll hier ein Prozess in Richtung der Ausbildung einer grundsätzlich von aktuell in der Gesellschaft mehrheitlich geteilten Einstellungen abweichenden politischen und/oder religiösen Einstellung verstanden werden, die streitbar öffentlich vertreten wird. Innerhalb des Prozesses der Radikalisierung wird eine kritisch-ablehnende Haltung zu gesellschaftlich dominierenden Einstellungen und Praktiken in Bereichen des politisch-ökonomischen und/oder kulturellen Alltags innerhalb einer Gesellschaft ausgebildet. In der Regel äußert sich Radikalisierung als ein protestgeladenes Aufbegehren gegenüber konkreten ökonomischen (etwa: Antiglobalisierung), infrastrukturellen (etwa: Protest gegenüber Bauprojekten), kulturellen (etwa: Mohammed-Karikaturen), sozialen (etwa: Hartz IV), ökologischen (etwa: Pestizideinsatz, Klimawandel) Entwicklungen bzw. Zuständen und/oder normativen (etwa: Abtreibungsdebatte um § 218) Verhältnissen in der Gesellschaft. Dieses Aufbegehren ist in der Regel zeitlich und (sozial-)räumlich begrenzt sowie thematisch fokussiert.
Radikalisierung ist zunächst ein neutraler Prozess. Radikaler Protest kann Ausgangspunkt sowohl für negative aber eben auch positive gesellschaftliche Entwicklungen sein. Die Bewertung einer Einstellung als „radikal“ ist entscheidend vom jeweiligen historischen gesellschaftlichen Zusammenhang abhängig. Was heute noch „radikal“ erscheinen mag, ist es möglicherweise morgen nicht mehr.
Dies wird besonders deutlich am historischen Beispiel der Suffragetten: Die so bezeichneten Aktivistinnen einer Frauenrechtsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die äußerst streitbar und in der seinerzeitigen Bewertung „radikal“ für das Wahlrecht von Frauen eintraten, haben letztlich einen wesentlichen Beitrag geleistet, den unveräußerlichen Menschenrechten in unseren freiheitlich-demokratisch verfassten Grundordnungen Geltung zu verschaffen.
Bei der Bewertung „radikaler“ Protestbewegungen hinsichtlich ihres möglichen negativen oder positiven Einflusses auf die gesellschaftliche Entwicklung ist der oben erwähnte wertebezogene Bezugspunkt unserer Definitionen von Bedeutung. Spätestens dann, wenn der „radikale“ Protest auf eine Einschränkung des Geltungsbereichs der unveräußerlichen Menschenrechte oder des Toleranzgebots unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinwirkt, ist das Radikalisierungsgeschehen kritisch zu bewerten und sind Maßnahmen zu ergreifen, derartige Entwicklungen abzuwenden. Hierfür möchte das vorliegende Handbuch Handlungsorientierung bieten.
Bei der Definition des Extremismusbegriffs kommt dem Bezug zum oben skizzierten Wertehorizont der geltenden Gesellschaftsordnung zentrale Bedeutung zu. Unter Extremismus soll hier eine ideologisch – politisch und/oder religiös – begründete Fundamentalopposition im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung der in Deutschland herrschenden freiheitlich-demokratisch angelegten Gesellschaftsordnung verstanden werden, die den grundgesetzlich verankerten unveräußerlichen Menschenrechten und dem Toleranzgebot verpflichtet ist.7)
Terrorismus wird hier als Strategie verstanden, um die jeweils verfolgten politischen und/oder religiösen Ziele zu realisieren, wobei vor allem das Moment des organisierten, strategischen und fortgesetzten Einsatzes physischer Gewalt zu betonen ist: Terrorismus wird in der Intention eingesetzt, eine massive psychologische Wirkung auf das gesellschaftliche Umfeld auszuüben, um es so zu den angestrebten Änderungen zu bewegen. Die vorgestellten Arbeitsdefinitionen verdeutlichen, dass mit Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus unterschiedliche soziale Phänomen bezeichnet sind, die nicht in einem unmittelbaren, prozesshaften Verhältnis zueinander stehen: Radikalisierung mündet nicht automatisch und zwangsläufig in Extremismus und in Folge zu Terrorismus.
Und „radikalisierte“ Personen können sich auch terroristischer Strategien und Aktionsformen bedienen, ohne extremistisch zu sein.8) Dies mahnt dazu, die jeweiligen entsprechenden Erscheinungen von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus genau zu analysieren, um entsprechende Präventionsmaßnahmen zu konzipieren und auf den Weg zu bringen.
Zentrale praxis- und theorierelevante Befunde der Radikalisierungsforschung
Um die konkreten Rahmenbedingungen der Präventionspraxis in diesem Feld besser einordnen zu können, bedarf es eines Überblicks zu den zentralen Befunden der Forschung zu den sozialen Phänomenen von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus. Obwohl die Phänomene voneinander zu differenzieren sind und nicht in einer wie auch immer gearteten kausalen Wechselwirkung zueinander stehen, sind folgende phänomenübergreifend geltenden Befunde herauszustellen.
Multikausale Bedingtheit
Die Ursachen für Radikalisierung im Allgemeinen sowie Extremismus und Terrorismus im Besonderen sind vielfältig. Sowohl individuelle (vgl. im Detail: Kap 3.3) als auch gruppenbezogene (Kap. 3.2) sowie kollektive, auf gesellschaftliche Großgruppen (Kap. 3.1) bezogene Radikalisierungsprozesse sind weder monokausal erklärbar noch monokausal motiviert. Jedem Radikalisierungsgeschehen liegen komplexe Ursachenbündel zugrunde, die in individuellen Faktoren (psycho-soziale, biografische Hintergründe) und auf den differenten gesellschaftlichen (mikro- und makrosozialen) Systemebenen verankert sind.
Der Versuch, Radikalisierung nur unter Berücksichtigung eines Einflussfaktors zu begreifen, resultiert unweigerlich in einem defizitären Verständnis mit entsprechend kritisch zu bewertenden handlungspraktischen Konsequenzen. So erscheint als eine zentrale Erklärungsgröße im öffentlichen Diskurs immer wieder die jeweils zu Grunde liegende Ideologie. Aber: Bis heute ist keine Ideologie ausmachbar, die unabhängig von Raum und Zeit ein Potenzial in sich birgt, Personen quasi aus der „Verführungskraft" der Ideologie selbst heraus zu radikalisieren. Offensichtlich sind die jeweiligen historischen, gesellschaftlichen Kontextbedingungen relevant, damit sich zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen bzw. Milieus ein Radikalisierungsgeschehen unter Bezugnahme auf eine jeweils gegebene Ideologie entwickelt. Andernfalls wäre zu fragen, warum beispielsweise die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts durch Sayyid Qutb gelegten ideologischen Grundlagen von Al Qaida erst zu Beginn des
21. Jahrhunderts in ein mit terroristischen Aktivitäten einhergehendes Radikalisierungsgeschehen mündeten. Ebenso könnte mit Blick auf eine rechtsextremistische Ideologie gefragt werden, warum sich um diese Ideologie in Deutschland ein Radikalisierungsgeschehen entspinnt, das sich über Zeit und Raum hinweg sowohl in Qualität und Quantität immer wieder sehr unterschiedlich darstellt. Ferner stellt sich die Frage, warum unterschiedliche Personen in gleichen historisch-gesellschaftlichen Kontextbedingungen mehr oder weniger bis gar nicht empfänglich für eine bestimmte Ideologie sind. Und wie auch das Radikalisierungsgeschehen nicht nur über die Einflussgröße „Ideologie" zu entschlüsseln ist, kann die Radikalisierung einer Person nicht allein über die persönlichen Eigenschaften der jeweiligen Person erklärt werden. Eine zum Extremismus genetisch prädisponierte Persönlichkeit ist bisher nicht ausgemacht worden, was sich indirekt in der Beobachtung widerspiegelt, dass sich in bestimmten gesellschaftlichen Umfeldern und zu bestimmten Zeiten mehr oder weniger viele Personen radikalisieren. Und gleichermaßen ist bisher kein gesellschaftliches Umfeld ausgemacht, in dem sich quasi automatisch ein Radikalisierungsgeschehen entfaltet bzw. das gänzlich immun gegenüber radikalen Einflüssen und Entwicklungen scheint: Sowohl in ausgesprochen diktatorischen als auch demokratischen Gesellschaftssystemen entstehen immer wieder radikale Milieus, aus denen auch Gewalthandlungen hervorgehen. Kurzum: Radikalisierung und deren mögliche Ausdrucksformen Extremismus und Terrorismus haben viele Ursachen. Um das Geschehen zu verstehen, bedarf es der parallelen Berücksichtigung dreier sich in einer komplexen Wechselwirkung aufeinander beziehenden Größen. Erstens, die dem jeweiligen Radikalisierungsprozess zugrunde gelegte Ideologie. Zweitens, die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und persönlichen Lebensumstände der betroffenen Person. Und drittens, das jeweilige mikro- sowie makrosoziale gesellschaftlich-kulturelle Umfeld, in dem sich das Radikalisierungsgeschehen vollzieht. Insofern kann von einer Ursachen-Trias für die hier betrachteten Phänomene mit den Bezugsgrößen Ideologie, Person und Umfeld gesprochen werden. In der Konsequenz bedarf es eines breiter angelegten theoretischen Bezugsrahmens als Grundlage der konzeptionellen Gestaltung der Präventionspraxis, wie er im folgenden Abschnitt vorgestellt wird
Individual- und sozialzeitliche Entwicklungsdynamik
Radikalität, Extremismus und Terrorismus sind keine statischen Phänomene. So beobachten wir innerhalb der Entwicklung von Individuen Phasen mehr oder weniger intensiver Radikalisierung – letztere zumeist innerhalb des Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalters. Und mit Blick auf die sozialzeitliche Dynamik beobachten wir immer wieder Phasen im historischen Entwicklungsprozess von Gesellschaften, in denen sich mehr oder weniger große gesellschaftliche Gruppen radikalisieren. Dies ist von gesellschaftlichen Kontextbedingungen, den jeweilig vorliegenden Konflikten abhängig (ausführlich: Kap 3.1).
Sozialräumliche Unterschiede
Aber nicht nur über die Zeit hinweg wandelt sich das Radikalisierungsgeschehen und zeigen die unterschiedlichen Extremismen verschiedenartige Erscheinungsformen. Auch starke geografische sowie sozialräumliche Unterschiede sind ausmachbar: Sowohl zwischen als auch innerhalb von Gesellschaften lassen sich beachtliche Unterschiede hinsichtlich der Erscheinungsbilder von Radikalisierung ausmachen. Nehmen wir beispielsweise das sich um das Migrationsgeschehen in Europa rankende Radikalisierungsgeschehen in Gestalt der sog. Gida-Bewegungen. In Nachbarländern Deutschlands haben sich diese nicht in der Größe entwickelt wie in Deutschland und auch innerhalb Deutschlands beobachten wir große regionalräumliche Unterschiede.9)
Theoretischer Bezugsrahmen – Soziale Kontextstruktur ‚Radikalisierung‘
Um die vielfältige Realität des Radikalisierungsgeschehens und die unterschiedlichen Erscheinungen von Extremismus und Terrorismus abbilden und erfassen zu können, ist ein theoretisches Rahmenmodell mit großer Reichweite notwendig – auch, um es offen zu halten für mögliche neue Phänomenerscheinungen, die sich der Präventionspraxis immer wieder stellen. Ein solches Modell hat im Kern eine soziologische, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtete, und psychologische, auf die individuellen Voraussetzungen und Umstände bezogene, Perspektive zu verknüpfen. Nur so werden wir in die Lage versetzt, sowohl kollektive, auf größere gesellschaftliche Teilgruppen bezogene als auch darin eingebettete individuelle Radikalisierungsprozesse zu verstehen und ihnen angemessen präventiv begegnen zu können. Es bedarf eines Modells, das die spezifischen Dynamiken des jeweiligen Radikalisierungsgeschehens nachvollziehbar macht und im Einklang mit dem Forschungsstand „Radikalisierung" als ein multi-kausal bedingtes soziales Phänomen begreift. Theoretische Modelle mit geringer Reichweite, die sich in der Regel auf Teilausschnitte sozialer Realität beziehen, sind nicht in der Lage, die Komplexität des Radikalisierungsgeschehens theoretisch nachvollziehbar und damit handlungspraktisch fassbar zu machen.
Vorgenannten Ansprüchen wird der bereits eingeführte theoretische Ausgangspunkt unseres Modells gerecht – die Ursachen-Trias von Extremismus: Person – Ideologie – Umfeld.10)
Das Zusammenwirken dieser drei Eckpunkte befindet sich in einem fortwährenden dynamischen Prozess und entscheidet über die jeweiligen extremistischen Ausdrucksformen. Damit wird die Berücksichtigung des Wechselwirkungs-Geschehens unverzichtbar für ein tieferes Phänomenverständnis als Grundlage einer angemessenen Präventionspraxis.

Das auf der Ursachen-Trias „Extremismus" aufbauende und im Weiteren näher erklärte Model der "Kontextstruktur Extremismus" ist ein „vortheoretisches" Modell und keine Theorie im klassischen Sinne, weil es keine klassischen theoretischen Aussagen in Gestallt von "Wenn-Dann-Aussagen" enthält. Ein solches Modell wäre dem Gegenstand auch nicht angemessen, denn es gibt keine Bedingungskonstellation, die unweigerlich zu Extremismus führt. Allenfalls gibt es Konstellationen, die Entwicklungen in Richtung eines Extremismus mehr oder weniger wahrscheinlich werden lassen, ohne dies allerdings - mit theoretisch fundierten Gesetzmäßigkeiten unterlegen zu können.
Das Modell stellt eine Erweiterung der Ursachen-Trias dar, indem vor allem die Einflussgröße „Umfeld" differenzierter aufgeschlüsselt wird, um so die vielfältigen potenziellen phänomenrelevanten Einflüsse in den mikro- und makrosozialen Umfeldern einer Person erfassen zu können.
Dies geschieht unter Rückgriff auf Bronfenbrenners (etwa: 1989) Theorie von der „Ökologie menschlicher Entwicklung". Gemäß diesem theoretischen Ansatz vollzieht sich menschliche Entwicklung im Allgemeinen sowie diejenige in Richtung eines Extremismus im Besonderen unter den Bedingungen unterschiedlicher Systeme bzw. Systemebenen, die das soziale Umfeld einer Person bilden. Das soziale Umfeld einer Person bzw. das jeweilige gesellschaftliche sowie kulturelle Umfeld, innerhalb dessen sich Extremismus entwickelt, stellt sich als ein komplexes Gebilde von unterschiedlichen Systemebenen dar.
Es erstreckt sich von relevanten Mikrosystemen (etwa: Familie, Freundeskreis, jeweilige extremistische Bezugsgruppe etc.) einer Person bis hin zum jeweilig spezifischen Makrosystem einer Gesellschaft, womit die geltenden Gesetze und bestehenden Wertvorstellungen angesprochen sind. Zwischen den Ebenen des Mikro- und Makrosystems sind die Meso- und Exosystemebene angesiedelt. Die Mesosystemebene stellt die jeweils spezifische Kombination der unterschiedlichen Mikrosysteme dar, in die ein Individuum eingebunden ist – sie kann mehr oder weniger komplex sein: Für das Kleinkind ist sie in der Regel sehr übersichtlich und beschränkt sich im Kern auf die Herkunftsfamilie – mit zunehmendem Alter differenziert sie sich aus und wird in der Regel deutlich komplexer und heterogener. Das Exosystem umfasst vor allem die größeren institutionellen Kontexte einer Gesellschaft (wie etwa: das Ausbildungssystem, die Arbeitswelt, den Verwaltungsapparat), die die Handlungsmuster auf der individuellen und mikrosozialen Ebene beeinflussen. Blicken wir auf die unterschiedlichen extremistischen Erscheinungen, so ist hier natürlich insbesondere auch der gesellschaftliche Sicherheitsapparat (primär: Polizei, Nachrichtendienste) angesprochen, aber eben nicht nur, denn auch andere institutionelle Strukturen können potenziell und durch indirekte Einflussnahmen für die Entwicklung des Phänomens äußerst relevant sein: die Medien- und Parteienlandschaft, der Justizapparat, Einwanderungsbehörden, der Arbeits- und Ausbildungsmarkt, Moscheegemeinden, islamische Verbände, Einrichtungen der Wirtschafts- und Finanzwelt sowie nicht zuletzt auch zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, die sich zu diesen Phänomenen positionieren bzw. konkret – etwa im Rahmen von Präventionsarbeit – engagieren.
Wie sich andeutet, stellt sich dem Einzelnen das Umfeld auf unterschiedlichen Stufen sozialer Kollektivität, sozialer Nähe und formaler Struktur gegenüber. Theoretischer Ausgangspunkt dieses soziologisch-entwicklungspsychologischen Modells ist die Auffassung von menschlicher Entwicklung als Prozess der „fortschreitenden, lebenslangen, wechselseitigen Anpassung von einem sich entwickelnden menschlichen Organismus und den sich verändernden unmittelbaren Umwelten, in denen er lebt, der Art und Weise, wie dieser Prozess durch Beziehungen innerhalb und zwischen diesen unmittelbaren Settings beziehungsweise durch die größeren sozialen Kontexte beeinflusst wird, sowohl informeller als auch formeller Art, in denen die Settings eingebettet sind".11) Das Umfeld wird als eine „verschachtelte Anordnung von Strukturen aufgefasst, von denen jede wiederum in der nächsten enthalten ist".

Wie Abbildung 2 illustriert, ist das Umfeld eines Individuums nach Bronfenbrenner auf mehreren Strukturebenen angeordnet; es ist sozial mehrschichtig organisiert, wobei die in den unmittelbaren Umwelten auf der Mesosystemebene gemachten Erfahrungen durch Bedingungen von und Wechselwirkungsbezügen zwischen den Umwelten auf den übergeordneten Strukturebenen beeinflusst sind, an denen die entsprechende Person nicht direkt partizipiert. Die gemäß Bronfenbrenner zu unterscheidenden vier Systemebenen werden nach einer kurzen Darstellung der Theoriekomponenten „Ideologie" und „Person" näher skizziert.
Person
Wesentlich im Zusammenhang mit dem zu untersuchenden Phänomenfeld scheinen die Einstellungen und Werthaltungen sowie die allgemeinen Persönlichkeitseigenschaften des infrage stehenden Personenkreises. Diese „erwirbt" das Subjekt im Rahmen des Sozialisationsprozesses, der wesentlich von den strukturellen Umfeldbedingungen der jeweiligen Person beeinflusst ist.
So bedarf es etwa eines gewissen Maßes an Gewaltbereitschaft, um als Terroristin oder Terrorist in Erscheinung zu treten, und die dominanten Wertorientierungen müssen offenbar eine gewisse Schnittmenge mit denjenigen der jeweiligen terroristischen Gruppierung aufweisen, um sich entsprechend zu engagieren – so wären beispielsweise Andreas Baader und Ulrike Meinhof, zentrale Köpfe der RAF, schwerlich als Rechtsextremistin oder Rechtsextremist vorstellbar, auch wenn es immer wieder Beispiele für einen Wechsel zwischen gegensätzlichen extremistischen Positionen gibt.12)
Ferner sind die Kenntnisse und Fähigkeiten wichtig, über die die jeweiligen Personen verfügen, die sich in extremistischen oder terroristischen Gruppen engagieren. Denn bestimmte Fertigkeiten sind letztlich die Grundlage für die Durchführung bestimmter Aktionen. Um das extremistische Geschehen zu verstehen, ist es notwendig, sich auf die Weltsichten der Akteurinnen und Akteure einzulassen. Denn entsprechend dem sog. Thomas-Theorem (benannt nach dem amerikanischen Soziologen Thomas) können wir davon ausgehen, dass es zu realen Konsequenzen führt, wenn ein Mensch eine Situation als real definiert. Dies ist im Protest- und auch Anschlagsgeschehen gegenüber Migrantinnen und Migranten beobachtbar oder wird offenkundig in Terrorakten, die gegen die vermeintlich „Ungläubigen" gerichtet sind. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die Gestaltung von Präventionsmaßnahmen – es gilt, die subjektive Sicht der Akteurinnen und Akteure zu berücksichtigen, also deren Wirklichkeitskonstruktionen und Deutungsmuster, welche sie zu extremistischen Aktionsformen oder gar Gewalthandlungen bewegen.
(Extremistische) Ideologie
Hiermit ist das jeweilige vorherrschende Überzeugungssystem gemeint, dem sich eine Person – aus welchen individuellen Beweggründen auch immer – verschreibt und aus dem heraus sie sich extremistisch engagiert. Derartige Überzeugungssysteme sind in der Regel an bereits bestehende soziale Gruppierungen gekoppelt und fungieren quasi als „motivationaler" Auslöser. Das jeweilige ideologische, ideengeschichtliche Bezugssystem stellt sozusagen die Legitimationsbasis extremistischen Engagements dar. Hieraus resultiert die spezifische Bedeutung des Begriffs „Ideologie", wie sie für den hier vorgestellten theoretischen Bezugsrahmen wichtig ist: „Ideologien dienen so stets der Rechtfertigung (...) herzustellender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse und der zu ihrer (...) Veränderung angewandten Machtmittel".13)
Diese Legitimationsbasis wird in der Regel von den Akteurinnen und Akteuren auch als schuldentlastendes Moment im Sinne der Neutralisierungstechniken nach Sykes und Matza (1968) genutzt, insofern das gewalttätige Handeln angesichts der Verfolgung höherer Ziele als gerechtfertigt gedeutet wird.
Wenn auch diese Einflussgröße des theoretischen Modells so offensichtlich und offen zugänglich erscheint – schließlich sind die extremistischen Gruppierungen darum bemüht, ihre Ziele in irgendeiner Weise zu kommunizieren – ist das Verstehen der ideologischen Grundlagen extremistischer Bewegungen in der Regel nicht einfach. Hinter den vermeintlich einheitlichen Ideengebäuden verbergen sich häufig höchst unterschiedliche Auslegungen und politische (sowie konkret ökonomische) Interessenlagen der einzelnen extremistischen Teilgruppierungen und Aktiven (im Detail: Kap. 2).
Mikrosystem
Mikrosystem bezeichnet die unmittelbaren Umwelten, in denen eine Person lebt und in denen sich das Alltagsgeschehen vollzieht (etwa: Familie, Schule, Freundeskreis und im Einzelfall auch extremistische oder terroristische Gruppen). Gekennzeichnet sind diese Umwelten, in denen sich die Person bewegt, durch direkte zwischenmenschliche Kontakte in Form von „Face-to-Face-Interaktionen". Als konstitutive Elemente der Mikrosysteme erscheinen ebenso die jeweiligen physikalischen Eigenschaften (z.B. Wohnraum der Familie, Beschaffenheit des Klassenraumes in der Schule), vorliegende Rollenmuster
(z. B. Mutter, Vater, Schüler, Angestellter etc.) und die jeweiligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, also die jeweils spezifische personelle Zusammensetzung des Mikrosystems sowie die Zeit, die Bestandsdauer und die Veränderungen, die sich im jeweiligen Mikrosystem ergeben. Mit Blick auf eine extremistische Gruppe wäre insbesondere zu berücksichtigen, welche Rollenmuster und entsprechende Erwartungshaltungen im jeweiligen Mikrosystem an deren Mitglieder herangetragen werden und wie sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammensetzen: Handelt es sich eher um eine homogene oder heterogene Gruppe, welche Persönlichkeitstypen treffen aufeinander? All dies hat enorme Auswirkungen auf die Entwicklungsverläufe der Gruppe und auch deren Mitglieder (hierzu vertiefend: Kap 3.2).14)
Mesosystem
Das Mesosystem bezeichnet die Kombination der verschiedenen Mikrosysteme, in die eine Person innerhalb eines bestimmten Lebensabschnitts eingebunden ist. Es ist als ein soziales Netzwerk zu verstehen, das die unterschiedlichen Lebensbereiche einer Person überspannt. Die Struktur eines Mesosystems bemisst sich anhand der Anzahl und anhand des Grades der Unterschiedlichkeit der in ihm angesiedelten Mikrosysteme. Je strukturdifferenzierter ein Mesosystem ist, desto höher sind die kognitiven und sozialen Anforderungen an die Person, zwischen den unterschiedlichen Rollenmustern, sozialen Zusammenhängen, Tätigkeiten etc. in den einzelnen Mikrosystemen zu vermitteln beziehungsweise diese „auszuhalten". Formelhaft verkürzt stellt ein Mesosystem ein System von Mikrosystemen dar.
Blicken wir auf die hier gegenständlichen Phänomenfelder, wird geradezu greifbar, welche „Vermittlungsanforderungen" das jeweilige Mesosystem einer Person an diese stellt: Wie vermittelt, wie bewegt sich die Person zwischen den Mikrosystemen der mehr oder weniger abgeschotteten, geheimen Welt extremistisch-terroristischer Gruppierungen und etwaig vorhandenen mikrosystemischen Bezügen zur Normalgesellschaft, wie beispielsweise in der Familie oder Arbeitswelt? Es ist nicht selten zu beobachten, dass mit fortschreitender Integration in extremistisch-terroristische Zirkel und der Übernahme zentraler Positionen mehr und mehr ein Zurückziehen aus gesellschaftlichen Bezügen und ein Abtauchen in den Untergrund zu beobachten sind, um die Identität als Terroristin oder Terrorist zu „schützen", was mehrdeutig gemeint ist: Es gilt, sich einerseits dem polizeilichen Zugriff zu entziehen und andererseits etwaige kognitive Dissonanzen zu minimieren, die aus den widerstreitenden Botschaften der heterogenen Mikrosysteme resultieren könnten, in welche die Person eingebunden ist. Die Person muss beispielsweise zwischen sich widersprechenden Botschaften aus der extremistischen Gruppe und dem Elternhaus vermitteln, wie es sich beispielhaft anhand der Biografen der Linksextremistinnen und -extremisten der 1960er-/1970er-Jahre in Deutschland gut illustrieren lässt. Häufig fungieren extremistische Gruppierungen und deren Sympathisantenmilieus als eine Art Sozialisationsagentur mit dem Effekt eines allmählichen Wegdriftens vom Werte- und Normhorizont (siehe unten: Makrosystem) der (Mehrheits-)Gesellschaft in Richtung alternativer, radikaler – politischer und/oder religiöser – Ideologien und Wertesysteme.15) 16) In einer solchen Situation haben alternative Sichtweisen kaum noch die Chance, von den sich mehr und mehr in extremistisch-terroristische Umfelder zurückziehenden Personen gehört zu werden – ein Ausstieg aus dem Radikalisierungsprozess wird zusehends unwahrscheinlicher.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Heterogenität des Mesosystems zwischen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlicher Extremismusarten deutlich variieren kann. So sind die Wertedifferenzen zwischen extremistischen Gruppen und den Herkunftsfamilien der Mitglieder nicht notwendigerweise ausgeprägt. Beispielsweise beobachten wir im Umfeld separatistischer Bewegungen oder auch im Bereich eines religiös-motivierten Extremismus häufiger Überschneidungen der Wertehorizonte der jeweiligen Herkunftsfamilien und extremistischen Gruppierungen. Demgegenüber finden sich – wie beispielhaft die Biografen der zentralen Akteurinnen und Akteure des sozial-revolutionären RAF-Terrorismus illustrieren – im Bereich des Linksextremismus häufig sehr extreme Wertedifferenzen zwischen den genannten Mikrosystemen (siehe Kap. 2.3).
Exosystem
Das Exosystem stellt sich als eine Art Zusammenballung sozialer Strukturen formeller und auch informeller Art dar, die das Mesosystem einer Person umgeben, denen die Person allerdings nicht selbst angehört. Allerdings berühren die sozialen Strukturen des Exosystems die unmittelbaren Umwelten einer Person oder schließen sie ein und beeinflussen oder diktieren gar die Ablauf- und Aktivitätsmuster in den jeweiligen Mikrosystemen. Hiermit sind größere Institutionen der Gesellschaft gemeint, „wie sie auf einer konkreten lokalen Ebene wirksam werden. Neben anderen Strukturen umfassen sie die Arbeitswelt, die Nachbarschaft, die Massenmedien, Regierungsinstitutionen (kommunal, staatlich und national), die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, das Kommunikations- und Transportnetz und informelle soziale Kanäle",17) wie sie beispielsweise auch über das Internet zugänglich werden. Speziell mit Blick auf das spezifische Phänomenfeld ist hier vor allem auch der Sicherheitsapparat (primär: Polizei, Nachrichtendienste) beziehungsweise – abstrakter formuliert – die Sicherheitsarchitektur einer Gesellschaft angesprochen. Auch fallen hierunter die vielfältigen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteurinnen und Akteure im Bereich der Extremismusprävention.
Es ist offensichtlich, dass die hier angesprochenen gesellschaftlichen Strukturen auf ihre jeweilige Bedeutung für das jeweilig im Präventionsfokus stehende extremistische Umfeld zu betrachten sind – und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits begrenzen diese Strukturen den Möglichkeitsraum extremistischer Gruppierungen: Auf welche Ressourcen können sie zurückgreifen? Wie stellen sich ihre Kommunikations- und Bewegungsmöglichkeiten dar, um für sich zu werben und Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu rekrutieren? Wie angreifbar, wie beeinflussbar ist das zu verändernde Gesellschaftssystem? Andererseits begrenzt das Exosystem einer Gesellschaft auch deren Möglichkeitsraum, sich gegen extremistische Aktivitäten im Sinne eines umfassenden Bekämpfungsansatzes präventiv und konkret repressiv zu schützen: Wie ist es um den jeweiligen Sicherheitsapparat bestellt? Welche technischen Aufklärungsmöglichkeiten bestehen? Welche Möglichkeiten der „ideologischen" Einflussnahme bestehen? Wie kann extremistischen Propagandaaktivitäten innerhalb und außerhalb des Internets begegnet werden?
Führen wir den Fokus enger auf das Phänomen des Terrorismus, wird die Interaktionsdynamik zwischen den unterschiedlichen Systemebenen besonders deutlich: Ganz allgemein gesprochen, versuchen die aufeinander treffenden Systeme der terroristischen Gruppierungen und der angegriffenen Gesellschaft, jeweils die Schwachstellen des Gegners zunutze zu machen, um – aus Sicht der terroristischen Gruppierung – größtmöglichen Schaden bei möglichst geringer Entdeckenswahrscheinlichkeit zu erzielen, oder um – aus Sicht des angegriffenen Gesellschaftssystems – den terroristischen Gegner dingfest zu machen. Wie der 11. September 2001 drastisch vor Augen geführt hat, verfügen terroristische Gruppierungen – besonders im Falle eines bis zur Selbstaufgabe reichenden terroristischen Willens – über die Möglichkeit, immensen materiellen und immateriellen (politischen, psychologischen) Schaden bei geringstem Mitteleinsatz anzurichten. Demgegenüber garantiert auch ein noch so hoher Ressourceneinsatz einem Gesellschaftssystem keine absolute Sicherheit gegenüber terroristischen Anschlägen.
Was bedeutet das? – Praktische Schlussfolgerungen für die Extremismusprävention
Makrosystem
Das Makrosystem ist die übergeordnete Systemebene, die sich nicht unmittelbar auf das Umfeld einer Einzelperson bezieht, „sondern auf allgemeine Prototypen in der Kultur oder Subkultur, die die Muster der Strukturen und Aktivitäten auf dem konkreten Level festlegen".18) Hierunter fallen kulturelle und subkulturelle Normen, Werte und Ideologien, wie sie sich in bestimmten wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und kulturellen Systemen manifestieren und damit auf die Systeme „niedrigerer" Ordnung wieder rückwirken. Mikro-, Meso- und Exosystem stellen so die Manifestation des Makrosystems dar: Die Art und Weise, wie sich unsere Arbeitswelt, unser Ausbildungssystem oder unsere Parteienlandschaft auf der Exosystemebene darstellt, ist Ausdruck entsprechender Wertorientierungen und Gesetze auf der Makrosystemebene. Auf der Makrosystemebene einer Gesellschaft sind die kulturellen und auch subkulturellen Grundmuster angelegt, die die Organisation und das Verhalten auf den untergeordneten Systemebenen steuern. Sie treten explizit in formeller, institutionalisierter Gestalt – etwa in Form von Gesetzen – auf. Vorrangig sind sie jedoch implizit angelegt: Sie sind informeller Natur und stellen in der Regel nicht bewusst reflektierte Weltanschauungen und Werthaltungen der Gesellschaftsmitglieder dar, die sich im Alltagsgeschehen durch entsprechende Gewohnheiten, Routinen und Traditionen eingelebt haben und sich im Verhalten entsprechend einem „Das macht man nicht!" ausdrücken.19)
Die im Innenkreis des grafischen Modells aufgeführte Einflussgröße „extremistische/ terroristische Ideologien" ist theoretisch ebenfalls auf der Makrosystemebene angesiedelt, weshalb in die Abbildung zur Verdeutlichung ein direkter Wechselwirkungspfeil eingetragen ist. Es muss natürlich nicht betont werden, dass derartige Ideologien nur von gesellschaftlichen Teilgruppierungen – nicht aber von der Mehrheit – geteilt und getragen werden. Von besonderer Bedeutung mit Blick auf das Makrosystem sind die Unterschiede und die damit korrespondierenden Wechselwirkungsbezüge zwischen den verschiedenen Wertehorizonten, Normsystemen und Ideologien, die sich in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen – bis hin zu terroristischen Mikrosystemen – in einer Gesellschaft finden lassen. Beispielsweise ist es in Folge der Terroranschläge am 11. September 2001 zu Gesetzesänderungen und – bezogen auf die Exosystemebene – Erweiterungen des Sicherheitsapparates mit Blick auf die Gefahrenabwehr eines islamistisch geprägten Terrorismus sowie zur Auflage umfänglicher entsprechend ausgerichteter Präventionsprogramme in Deutschland gekommen, die eine vielgestaltige Präventionslandschaft auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene haben entstehen lassen (ausführlich: Kap. 6).
Die sich auf der Makrosystemebene abzeichnenden Widersprüche zwischen unterschiedlichen kulturellen Orientierungen, Werte- und Normsystemen sowie Ideologien können als Katalysatoren für die Entwicklung der unterschiedlichen Radikalisierungs- und Extremismusphänomene angesehen werden.
Interaktionsdynamiken „Person – Ideologie – Umfeld": Was wir (nicht) wissen
Gehen wir nun der Frage nach, was das Modell in „Bewegung" bringt, was sozusagen die Entwicklungsdynamik von Radikalisierung treibt. Dies geschieht hier ganz allgemein und eher auf einer theoretisch abstrakten Ebene, ohne hier den differenzierteren Betrachtungen zum individuellen (Kap. 3.3), gruppenbezogenen (Kap 3.2) und dem auf Ebene gesellschaftlicher Großgruppen greifenden Radikalisierungsgeschehen (Kap. 3.1) vorzugreifen.
Betrachten wir das theoretische Modell im Spiegel der Radikalisierungs-/Extremismusforschung überblickartig, so kann auf eine Vielzahl von Befunden zum Einfluss einzelner Systemebenen beziehungsweise Bezugsgrößen des Modells auf das Radikalisierungsgeschehen und die diversen extremistischen Erscheinungsformen zurückgegriffen werden (vgl. hierzu insbesondere: Kap. 3). Misslich – insbesondere mit Blick auf die Gestaltung präventiver Phänomenzugänge – ist jedoch, dass die Forschung bisher nur recht oberflächliche und selten empirisch abgesicherte mehrdimensionale Einblicke in das interaktive Geschehen zwischen den unterschiedlichen Bezugsgrößen des Gesamtsystems vermittelt. Es lässt sich nur schwer ausmachen, inwieweit sich die Einflüsse unterschiedlicher Bezugsgrößen wechselseitig verstärken, moderieren oder gar neutralisieren. Gerade ein vertieftes Wissen über derartige multiple Wechselwirkungsbezüge ist von Bedeutung, um eine gelingende, wirkungsvollere Präventionspraxis zu gestalten.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Extremismus eben kein sich nur auf ein Individuum beschränkendes Phänomen darstellt. Mit Extremismus sind im klassisch-soziologischen Sinne soziale Verhaltensweisen angesprochen, die wiederum auf Verhaltensweisen anderer Akteurinnen und Akteure Bezug nehmen. Problematisch wird es insbesondere dann, wenn ein extremistisches Verhalten in Kriminalität, in Gewalt umschlägt.
Das Modell der Kontextstruktur Extremismus illustriert, dass die Radikalisierung von Individuen sowie Gruppen ganz allgemein als ein systemischer zirkulärer Prozess zu verstehen ist, wobei insbesondere drei systemtheoretische Dynamiken zu berücksichtigen sind:20)
Erstens: Das (individuelle sowie gruppenbezogene) Radikalisierungsgeschehen in einer Gesellschaft wirkt sich auf unterschiedliche systemische Ebenen in der Spannbreite von mikro- (etwa: Familie, Terrorgruppierungen) bis zu makrosystemischen (etwa: Gesetzgebung, Wertorientierungen) Strukturen aus und wird seinerseits von Reaktionen auf diesen Ebenen beeinflusst.
Zweitens: Es sind soziokulturelle, gesellschaftliche – in der Regel konfliktträchtige - Bedingungen, die Radikalisierung auslösen, wobei die Radikalisierung wiederum eine Rückmeldung auf diese Bedingungen darstellt (ausführlich: Kap 3.1).
Drittens: Radikalisierung ist als ein durch zahlreiche Faktoren beeinflusstes Phänomen zu verstehen, das vielfältige neue Bedingungen schafft, die sich wiederum auf alle Teilsysteme auswirken. Diese systemtheoretische Betrachtungsweise urteilt nicht über die jeweiligen Ursachen von Radikalisierung, Extremismus oder Terrorismus. Vielmehr erscheinen diese Phänomene gleichermaßen als Ursache und auch als Wirkung von Veränderungen im systemischen, soziokulturellen Gefüge einer jeweiligen Gesellschaft. So ist beispielsweise Terrorismus damit keine statische Größe, sondern ein kriminelles, prozessgleiches Geschehen – mit entsprechenden Auswirkungen auf alle beteiligten Akteurinnen, Akteure und Systemebenen.
Was bedeutet das? – Praktische Schlussfolgerungen für die Extremismusprävention
Aus dieser systemtheoretischen Betrachtungsweise ergeben sich einige für die Gestaltung von Extremismusprävention praxisrelevante Ableitungen, die abschließend und resümierend herausgestellt werden sollen.
Extremismusprävention erfordert realistische Zielbestimmungen
Extremismusprävention sollte ganz entsprechend der notwendigen und vorgenommenen begrifflichen Differenzierung nicht mit Radikalisierungsprävention gleichgesetzt werden, wie es der öffentliche Diskurs bisweilen nahelegt. Präventionsbemühungen sind darauf zu fokussieren, dass Radikalisierung nicht in kriminelle Handlungen, in Gewalt umschlägt. Radikalisierung ist – wie betont – eine Begleiterscheinung (konfliktgeladener) gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und eröffnet in der Regel Korridore für Erneuerungen, für ein neues Austarieren von Interessen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Eine primäre Radikalisierungsprävention wäre somit in erster Linie auf die Verhinderung gesellschaftlicher Konflikte auszurichten – eine letztlich utopische Unternehmung, denn innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung sind Konflikte letztlich unvermeidlich. Insofern sollte eine übergeordnete Zielstellung darauf gerichtet sein, das in einem Radikalisierungsgeschehen enthaltene Potenzial zu minimieren, in kriminelle Handlungen und/oder in die Ausbildung extremistischer Positionierungen umzuschlagen, bei gleichzeitig bestmöglicher Wahrung des einer Radikalisierung, einem radikalen Protest innewohnenden Innovationspotenzials.
Extremismusprävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Das interaktiv-dynamische Gefecht zwischen den verschiedenen Systemebenen lässt offenkundig werden, dass Extremismusprävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und vor allem zu gestalten ist (hierzu ausführlich: Kap. 6). Der Umgang mit Extremismus- oder Terrorismusphänomenen weist letztlich allen Akteurinnen und Akteuren auf sämtlichen Systemebenen eine Verantwortung im Rahmen der Phänomenprävention/-bekämpfung zu. Und sei es nur die Verantwortung, sich nicht gleichgültig gegenüber einem extremistischen Geschehen und seinen möglichen Opfern zu verhalten.
Extremismusprävention als stetig anzupassende Praxis
Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Einflussgrößen Person, Ideologie und dem Umfeld mit dessen unterschiedlichen Subsystemen bedingen die in der Regel enorme Entwicklungsdynamik eines individuellen sowie sich in gesellschaftlichen Gruppen vollziehenden Radikalisierungsgeschehens. Stets konstruiert sich das Geschehen neu, stets formieren sich neue Bedingungskonstellationen auf individueller, auf kleingruppenbezogener und gesamtgesellschaftlicher Ebene. Dies erfordert angepasste Reaktionen – sowohl mit Blick auf repressive wie auch präventive Phänomenzugänge. Hierauf hat sich die Präventionspraxis in den verschiedenen Phänomenfeldern (siehe Kap. 2) und auf den unterschiedlichen Handlungsfeldern der universellen, selektiven und indizierten Prävention (siehe Kap. 5) einzustellen. Dabei ist stets kritisch-reflektierend zu fragen, ob unsere präventiven Zugänge noch angemessen sind. Dies ruft eine systematische Evaluationspraxis auf den Plan, die das präventive Handeln auf den Prüfstand stellt (siehe Kap. 4).
Extremismusprävention fallspezifisch gestalten
Der hier zugrunde gelegte theoretische Bezugsrahmen stellt die Grundcharakteristika des in der gesellschaftlichen Praxis beobachtbaren Radikalisierungsgeschehens dar: Radikalisierung geschieht prozesshaft und weist stets individuelle, sozial-räumliche und sozial-zeitliche bzw. historische Besonderheiten auf. Nicht jede rechtsextremistische Person radikalisiert sich in gleicher Weise, wie auch unterschiedliche radikale Milieus und Gruppen mit gleichen ideologischen Bezügen (wie etwa dem Salafismus) mitunter höchst unterschiedliche Radikalisierungsdynamiken durchlaufen. Ferner stellen sich diese Radikalisierungsdynamiken zu unterschiedlichen Zeiten aufgrund verschiedener sozialzeitlicher bzw. historischer Einflusskonstellationen unterschiedlich dar. Die Ursachen und Konsequenzen eines jeden individuellen und kollektiven Radikalisierungsprozesses sind höchst spezifisch – insofern sind auch präventive und repressive Zugänge zum jeweiligen Radikalisierungsgeschehen fallspezifisch auszurichten: Eine One-sizefits-all-Strategie wird nicht funktionieren.
Extremismusprävention lebensweltorientiert gestalten
In diesem Handlungsfeld, in dem es wesentlich auch um politisch-religiöse Einstellungen, um die Sicht auf diese Welt geht, ist das Erfordernis einer fallspezifisch zu gestaltenden Präventionspraxis um das Erfordernis einer „Lebensweltorientierung" zu ergänzen. Wie bereits gesagt und wie in Radikalisierung in konflikttheoretischer Perspektive - Seite 1 vertiefend betrachtet, sind Radikalisierungsphänomene Ausdruck zugrunde liegender gesellschaftlicher Konflikte. Sie sind in der Regel nicht isoliert, nicht ohne ihre Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen und Radikalisierungserscheinungen zu verstehen. Und die verschiedenen individuellen und institutionellen Akteurinnen und Akteure nehmen diese Konflikte höchst unterschiedlich, aus der Perspektive ihrer jeweiligen Lebenswelt,21) ihrer jeweiligen Überzeugungen und Wertehorizonte wahr. So treffen mit Blick auf die Bekämpfung von Extremismus höchst unterschiedliche Alltagswirklichkeiten und Weltsichten aufeinander. Verweisen wir alleinig auf die Weltsichten der extremistischen Personen, der zivilgesellschaftlichen Institutionen und der Sicherheitsbehörden, so wird offenkundig, mit welcher Verschiedenheit von Überzeugungen und Deutungen dieser Welt wir es in diesem Handlungsfeld zu tun haben. Frei nach Berger und Luckmann (1987, 3): Was für eine rechtsextremistische oder salafistische Person „wirklich" ist, ist noch lange nicht „wirklich" für eine Sozialarbeiterin, einen Sozialarbeiter oder die Polizei! Eine verantwortlich gestaltete Extremismusprävention muss sich dies stets vor Augen führen. Sie muss sich auf extremistische Weltsichten einlassen, sie verstehen – ohne sie damit zu akzeptieren. Und sie muss sich ihrer eigenen wertebezogenen Grundlagen und Deutungen des sozialen Geschehens in dieser Welt bewusst sein.
Extremismusprävention als Dialog
Das Dialogerfordernis im Arbeitsfeld der Extremismusprävention begründet sich in dreifacher Hinsicht:
Erstens – Dialog zur Abstimmung von Maßnahmen
Angesichts der vielfältigen Akteurinnen und Akteure, die mittelbar und unmittelbar mit der Kontrolle des Extremismusphänomens betraut und in den unterschiedlichen (universell-, selektiv- und tertiär-)präventiven Handlungsfeldern tätig sind, bedarf es eines umfassenden Austauschs. Wesentliches Ziel ist hier die Abstimmung der in der Regel parallel laufenden Maßnahmen und Interventionen. Diese Notwendigkeit wird ganz offensichtlich im Handlungsfeld der indizierten Prävention im Zusammenhang mit Ausstiegsprozessen. Hier greifen häufig parallel Maßnahmen der Repression (Strafverfolgung/Strafvollzug) und Prävention (Ausstiegshilfeangebote), die einer engen, fallbezogenen Abstimmung zwischen Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen bedürfen.
Zweitens – Dialog als Instrument der Lebensweltorientierung
Um der Anforderung einer Lebensweltorientierung genügen zu können, bedarf es eines offenen Dialogs, um die dem extremistischen Geschehen jeweils unterlegten Motive und Weltsichten erschließen zu können. Dass dies eine große Herausforderung ist, muss nicht betont werden, denn die Kommunikation mit extremistischen Akteurinnen bzw. Akteuren und Milieus ist in der Regel sehr von einem strategisch-taktischen Kalkül der Dialogpartnerinnen und -partner beeinflusst. Hier bedarf es situativ und auf den jeweiligen Fall ausgerichteter Kommunikationsstrategien.
Drittens – Dialog als Instrument der Konflikttransformation
Anknüpfend an den Allgemeinbefund, dass einem Radikalisierungsgeschehen gesellschaftliche Konflikte zugrunde liegen, die von den verschiedenen extremistischen Gruppierungen ideologisch aufgeladen bzw. gedeutet werden, um die Konflikte so für die Verfolgung der eigenen Interessen zu instrumentalisieren, bedarf es Austauschplattformen für die am jeweiligen Konflikt beteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen.
Über einen transparenten, offenen Dialog sollten Radikalisierung treibende und damit potenziell die verschiedenen Extremismen befeuernde Konflikte transformiert werden. Ein sozialer Protest und ein entsprechendes Radikalisierungsgeschehen sollte immer als Frühwarnindikator betrachtet werden – spätestens dann, wenn sie sich parallel in unterschiedlichen Gruppen und Milieus abbilden. Protest sollte als Aufruf an die Gesellschaft, an die politischen Verantwortungsträger ernst genommen werden, sich der zugrunde liegenden Konflikte zu widmen. Wird dieser Ruf ignoriert, so wird er unweigerlich lauter– möglicherweise bis hin zu Gewalthandlungen, im Extremfall gar in Gestalt von Terroranschlägen ganz im Sinne des anarchistischen Konzepts der „Propaganda der Tat" aus dem 19. Jahrhundert.22) Hieraus folgt aus konflikttheoretischer Perspektive die praktische Notwendigkeit, die jedem Konflikt unterliegende sichtbare und unsichtbare Dimension zu berücksichtigen:23) die beobachtbare Dimension von konkret gezeigtem Verhalten sowie die nicht beobachtbare und in der Regel schwer erfassbare Dimension von Einstellungen und widersprüchlichen Bewertungen des jeweiligen Konfliktes. Es ergibt sich so häufig eine unklare Situation sozialer Interaktion und Kommunikation. Dies insofern, als auf radikales, extremistisches Verhalten zustimmend oder ablehnend reagiert werden kann, nicht aber auf die nicht kommunizierten sowie nicht sichtbaren bewussten und unbewussten Annahmen und Motive der Handelnden. Hier gilt es, einen Austausch, einen Dialog zu kreieren, der diese verborgene Dimension sichtbar macht, indem das Unsagbare sagbar bzw. mitteilbar gemacht wird.24)
Werden Radikalisierungstendenzen ausschließlich aus einer sicherheitspolitischen Logik heraus als ein Angriff auf die Gesellschaft, als Sicherheitsrisiko eingestuft, verbleibt es unweigerlich bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem sichtbaren, ggf. gewalttätigen Verhalten. Die tieferliegenden Ursachen wären so weiterhin ausgeblendet. Die Konflikte verblieben so auf ihrer verborgenen Ebene unbearbeitet und könnten sich so künftig durch gewaltsame Handlungen und in Gestalt der verschiedenen Extremismen manifestieren. Insofern ist ein offener Dialog zwischen den Konfliktparteien immer auch als fundamentaler Beitrag einer gesamtgesellschaftlich angelegten Extremismusprävention zu verstehen.
Das vorstehend skizzierte, eher abstrakt gehaltene und theoretisch begründete Anforderungsprofil einer stets aktuelle Entwicklungen berücksichtigenden, gesamtgesellschaftlich, flexibel, fallspezifisch, lebensweltorientiert und dialogisch zu gestaltenden Extremismusprävention ruft nach Konkretisierung, wie sie in den anstehenden Kapiteln geleistet wird. Derartige handlungspraktische Konkretisierungen der Präventionspraxis sollten entsprechend der Komplexität und Dynamik der unterschiedlichen Extremismen folgenden Fragen folgen: Wann sollte wer in welcher Weise mit welcher Zielstellung und mit welchen Mitteln sowie an welchem (geographisch-physischen sowie sozialen) Ort kontaktiert werden?
Resümee und Ausblick
Im vorliegenden Kapitel sind Kernbefunde herausgestellt und zu einem theoretischen Bezugsrahmen verdichtet worden, die aus einer Zusammenschau der Forschung der letzten Dekade hervorgehen. Die Befunde sind jedoch oftmals noch zu abstrakt, um sie direkt in eine umsetzbare Praxis der Extremismusprävention in Gestalt eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes zu übersetzen. Immer noch verbleibt der Hinweis auf sozialzeitliche Unterschiede im Radikalisierungsgeschehen mit Blick auf eine angestrebte handlungspraktische Umsetzung recht vage, weil eben noch nicht umfassend beschreibbar ist, was beispielsweise salafistische Deutungsangebote bzw. Weltsichten gerade zu dieser Zeit so attraktiv macht und wie sich diese wechselseitig mit anderen extremistischen Weltsichten verstärken. Ebenso verbleibt der generelle Forschungsbefund auf (sozial-)räumliche Differenzen im Radikalisierungsaufommen ohne handlungspraktischen Wert, wenn wir nicht näher identifizieren können, warum ein salafistischer oder politisch rechts motivierter Extremismus gerade an diesem Ort, in dieser Stadt, in dieser Region und in diesem Milieu, bei diesen Personen auf offensichtlich positiven Widerhall stößt. Auch ist es für die Gestaltung von Prävention wenig hilfreich, wenn nicht zwischen dem Radikalisierungsgeschehen auf Individual-, kleingruppenbezogener und kollektiver Ebene unterschieden wird: Wie Radikalisierung in konflikttheoretischer Perspektive - Seite 1 illustrieren wird, beobachten wir auf der Individualebene andere Anfälligkeiten als auf Ebene gesellschaftlicher Großgruppen – hier ist weitergehender Forschungsbedarf angezeigt.
Gleichwohl: Der Handlungsbedarf ist jetzt gegeben, und so muss die Gestaltung von Präventionspraxis notgedrungen auch aus einem weiterhin defizitären Wissen zu den verschiedenen Radikalisierungs- und Extremismusphänomenen heraus gestaltet werden. Um in einer solchen Situation verantwortlich zu agieren, bedarf es praxisbegleitender Evaluation und eines verstärkten Austausches zwischen Wissenschaft und Praxis.
Eines aber können wir mit Blick auf die Gestaltung der künftigen Wissenschafts- und Präventionspraxis zu dem im vorliegenden Handbuch gegenständlichen Phänomenfeld als wissenschaftlich abgesichert festhalten: Radikalisierung im Allgemeinen und Extremismus im Besonderen sind ernst zu nehmende Sensoren und wichtige Indikatoren für die jeweilige Verfasstheit einer Gesellschaft sowie deren aktuelle Konfliktlinien. Ein etwaiges Radikalisierungsgeschehen ist so immer auch eine Rückkoppelung bzw. Widerspiegelung sozialer Konflikte. Radikalisierung richtig verstanden und nicht direkt mit einem pauschalen Abwehrreflex und entsprechenden Überreaktionen begegnet, eröffnet Chancen und sollte nicht pauschal mit Kriminalitätsrisiken gleichgesetzt werden. Die Risiken zu kontrollieren und die im gesellschaftlichen Radikalisierungsgeschehen verankerten Chancen zu nutzen, erfordert ein noch tieferes Verständnis von Ein- und vor allem auch Ausstiegsbedingungen von Radikalisierung. Ein umfassenderes Verständnis wird sich uns allerdings nur erschließen, wenn wir bereit sind, das Phänomen der Radikalisierung offen und wertneutral zu betrachten und die Reflexion nicht gleich unter das Diktat einer Zielsetzung zu stellen, entsprechend derer „Radikalität" in jedem Falle zu bekämpfen und zurückzudrängen ist.
Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schmid 2011.
2)
Ausführlich zur Differenzierung unterschiedlicher Terrorismen etwa: Waldmann 2005, 99 ff.
3)
Vergleiche hierzu überblickartig etwa: Pfahl-Traughber 2014, 15 ff.; Backes 2006, 17 ff, Waldmann 1998, 9 ff.
4)
Etwa: Neu 2012, 7 ff.; Jennerjahn 2010.
5)
Beispielhaft: Neugebauer 2010, 5 ff.
6)
Vgl. in diesem Kontext zu den rechtlichen Grundlagen einen Beitrag der Rechtswissenschaftlerin Ilse Staff 1993 auf einer Diskussionsveranstaltung der Johann Wolfgang Goethe-Universität zum Thema „Fremde, Andere und das Toleranzgebot des Grundgesetzes“, die unter dem Eindruck der rechtsextremistisch, fremdenfeindlich motivierten Mordanschläge von Mölln im Dezember 1992 in Frankfurt am Main stattfand.
7)
Diese Definition findet beispielsweise mit Blick auf das polizeiliche, auf Kriminalitätsbekämpfung und -abwehr gerichtete Handlungsfeld eine deutliche quantitative Erweiterung, indem jede Handlung, die gegen einen der folgenden Verfassungsgrundsätze gerichtet ist, als extremistisch eingestuft wird: - Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der voll ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, - Die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, - das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, - die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, - die Unabhängigkeit der Gerichte, - die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, - den Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft. - Ebenfalls hinzugerechnet werden Straftaten, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten.
8)
Als Beispiel seien hier die radikalen Abtreibungsgegner in den Vereinigten Staaten angeführt, die bisweilen einer terroristischen Strategie folgend massiv Gewalt einsetzen, bis hin zu gezielten Tötungsdelikten, um mit dem Ziel der Aufgabe von Abtreibungen – insbesondere beim medizinischen Fachpersonal – Angst und Schrecken zu verbreiten.
9)
Zu den hier angesprochenen Dynamiken von Protestbewegungen vgl. etwa Roth/Rucht 2008, 660 ff.
10)
Im Folgenden wird nur noch von „Extremismus“ gesprochen – das theoretische Modell lässt sich allerdings gleichermaßen auf die Phänomene von Radikalisierung und Terrorismus übertragen.
11)
Bronfenbrenner 1978, 35.
12)
Ein prominentes Beispiel ist mit Horst Mahler gegeben, der sich linksterroristisch in den 1970er-Jahren engagiert hat (u. a. als Gründungsmitglied der RAF) und heute ein bekennender Neonazi ist.
13)
Beck 1986; zitiert nach Rabert 1991, 73.
14)
Einen sehr illustrativen Eindruck, wie sich offenbar differente mikrosystemische Einbindungen auf biografische Entwicklungen von Terroristen auswirken, bietet die Studie von Koenen zu Schlüsselfiguren der RAF (2003). Die hohe Bedeutung der Gruppe für eine terroristische Karriere stellt Rasch in einer bereits in den 1970er-Jahren erschienenen Studie deutlich heraus: „The group itself is also important for the continuation of a terrorist career, not only in a technical sense, but also with respect to the psychological development of its members. The group provides back-up when other support is eradicated” (1979, 164). In dieser Weise erscheinen extremistische Gruppen und entsprechende Sympathisantengruppen als eine Art Kokon, in dem sich extremistische Karrieren entwickeln.
15)
Silke 2003, 37 ff.
16)
Dies findet sich gut im Artikel ‘Becoming a Terrorist’ von Andrew Silke 2003 herausgearbeitet.
17)
Bronfenbrenner 1978, 36.
18)
Ebd.
19)
Wie eine ältere Studie von Tololyan 1988 nahe legt, sind hierzu auch die Geschichte einer Nation sowie deren Legenden und Mythen zu zählen, die Einfluss auf die Weltsicht einer Gesellschaft beziehungsweise einer gesellschaftlichen Teilgruppierung nehmen und in Richtung extremistisch-terroristischer Haltungen motivieren können: Dies wird beispielhaft am Staatsterrorismus im Nationalsozialismus deutlich. Dieser gründete in symbolhaften, (vermeintlich) identitätsstiftenden und vor allem in den verklärten Interpretationen historischer Geschehnisse (etwa: Erster Weltkrieg) und kultureller Wurzeln (etwa: Nibelungen-Sage), die sich zum Wahn von der ‘Herrenrasse’ verstiegen, welcher wiederum als zentrale motivationale Triebkraft des nationalsozialistischen Terrorregimes fungierte.
20)
Dies geschieht in Anlehnung an Rennert 1989, 16, der diese systemtheoretischen Thesen mit Blick auf das Phänomen der Drogenabhängigkeit formuliert hat, die sich entsprechend der Theorie- und Forschungslage quasi deckungsgleich auf die hier diskutierten Phänomene von Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus übertragen lassen.
21)
Der hier unterlegte, eher alltagstheoretisch gefasste Lebensweltbegriff knüpft vorranging an eine soziologisch begründete Begriffsfassung an. Lebenswelt meint hier die Alltagspraktiken und die Alltagstheorien, die tradierten Handlungspraktiken, den alltäglichen Nachrichtenstrom sowie die Kulturgüter (von der Architektur über die Musik bis hin zur Literatur), die die Menschen einer jeweiligen Gesellschaft, eines jeweiligen Milieus oder auch einer jeweiligen Kleingruppe teilen bzw. mit denen sie in ihrem Alltag typischerweise konfrontiert sind (ausführlich mit Blick auf den hier diskutierten Themenkreis: Kemmesies 2019).
22)
Hierzu ausführlich etwa: Hoffman 2002, 18 ff.
23)
Hierzu ausführlich: Kemmesies/Weber 2019.
24)
Hierzu kann auf die mittlerweile elaborierten Methoden der Konflikttransformation verwiesen werden, vgl. etwa Berghof Foundation 2019.
Literatur
Backes, Uwe (2006): Politische Extremismen – Begriffshistorische und begriffssystematische Grundlagen. In: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, Seiten 17-40.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1987): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main, Fischer.
Berghof Foundation (2019): Berghof Handbook for Confict Transformation.
Bronfenbrenner, Urie (1978): Ansätze zu einer experimentellen Ökologie menschlicher Entwicklung. In: Oerter, Rolf (Hrsg.): Entwicklung als lebenslanger Prozeß. Hamburg, Hoffmann und Campe, Seiten 33-65.
Bronfenbrenner, Urie (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Frankfurt am Main, Fischer.
Hoffman, Bruce (2002): Terrorismus – der unerklärte Krieg. bpb Schriftenreihe, Band 417. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Jennerjahn, Miro (2010): Der Extremismusansatz aus politischer Perspektive. In: Weiterdenken - Kulturbüro Sachsen e. V./Heinrich Böll Stiftung Sachsen/Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung, Leipzig/Studierendenrat der TU Dresden, Referat für Politische Bildung (Hrsg.): Gib es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti-demokratischen Einstellungen. Dresden, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 21-25.
Kemmesies, Uwe E. (2019): Zwischen Co-Terrorismus und Lebensweltorientierung: Ist das Internet ein geeignetes Feld der Radikalisierungsprävention? In: Schmitt, Josephine B./Ernst, Julian/Rieger, Diana/Roth, Hans-Joachim (Hrsg., im Druck): Propaganda und Prävention. Forschungsergebnisse, didaktische Ansätze sowie interdisziplinäre Perspektiven zur pädagogischen Arbeit zu extremistischer Internetpropaganda. Wiesbaden, VS Verlag.
Kemmesies, Uwe E./Weber, Karoline (2019): Frieden und Deradikalisierung. In: Giessmann Hans-J./Rinke Bernhard (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden, Springer VS, Seiten 319-329.
Koenen, Gerd (2003): Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln, Kiepenheuer und Witsch.
Neu, Viola (2012): Linksextremismus in Deutschland: Erscheinungsbild und Wirkung auf Jugendliche. Sankt Augustin/Berlin, Konrad-Adenauer Stiftung.
Neugebauer, Gero (2010): Zur Strukturierung der politischen Realität in einer modernen Gesellschaft. In: APuZ, 44, Seiten 3-9.
Pfahl-Traughber, Armin (2014): Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden, Springer VS.
Rennert, Monika (1989): Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Freiburg, Lambertus.
Roth, Roland/Rucht, Dieter (2008) (Hrsg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main, Campus.
Schmid, Alex P. (2011): The Definition of Terrorism. In: (ders.): The Routledge Handbook of Terrorism Research. New York, Routledge, Seiten 39-98.
Silke, Andrew (2003): Becoming a Terrorist. In: Silke, Andrew (Hrsg.): Terrorists, Victims and Society. Psychological Perspectives on Terrorism and its Consequences. Chichester, Wiley, Seiten 29-54.
Staff, Ilse (1993): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. In: Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Hrsg.): „Fremde“, „Andere“ und das Toleranzgebot des Grundgesetzes. Dokumentation einer Diskussionsveranstaltung. 1. Auflage, Frankfurt am Main, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Goethe-Universität, Seiten 9-13.
Tololyan, Khachig (1988): Cultural Narrative and the Motivation of the Terrorist. In: Rapoport David (Hrsg.): Inside Terrorist Organizations. London, Frank Cass, Seiten 217-236.
Waldmann, Peter (1998): Terrorismus. Provokation der Macht. München, Gerling Akademie Verlag.
Waldmann, Peter (2005): Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg, Murmann.