Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Salafismus ist in Deutschland und Europa ein relativ neues Phänomen. Er manifestierte sich in der islamischen Welt jedoch schon machtvoll im 18. Jahrhundert. Der Prediger Muhammad ibn Abd al-Wahhāb (1702-1792) löste auf der Arabischen Halbinsel die Bewegung für einen strengen Monotheismus (tauhîd) aus, gereinigt von allen „unislamischen Neuerungen“ (bida‘, Sing. bid‘a) und Rückfällen in „abergläubische“ Praktiken, wie die Verehrung von Steinen und Bäumen, aber auch von Heiligengräbern (letzteres ein im real existierenden „Volks-Islam“ universell verbreitetes Phänomen).

Wahhabismus10)

Der Wahhabismus ist eine islamische Bewegung, die im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halb-insel entstanden ist. Die Anhänger des Wahhabismus, die Wahhabiten, stützen sich die rigide und dogmatische monotheistische Auslegung des Begründers Muhammad ibn Abd al-Wahhāb (1703- 1791). Die Wahhabiten bezeichnen sich selbst als Muwahhidun (strenge Monotheisten) und orientieren sich am Wortlaut des Korans und an den überlieferten Aussprüchen und Handlungsweisen (Sunna) des Propheten Muhammad. Sie lehnen grundsätzlich alle "unerlaubten Neuerungen" ab, die sich nach der frühislamischen Zeit entwickelt haben, besonders die Verehrung von Menschen "neben Gott" bzw. als "Vermittler" zwischen den Gläubigen und Gott, wie sie für den schiitischen Islam und den Sufismus typisch sind. Der Wahhabismus ist in Saudi-Arabien die Staatsreligion.

Ibn Abd al-Wahhāb gewann den lokalen Stammesführer Muhammad Ibn Sa‘ud für seine Lehren und begründete ein inzwischen mehr als 250 Jahre altes politisches Bündnis, aus dem das heutige Königreich Saudi-Arabien (Staatsgebiet erobert 1902-1934) und zwei Vorgängerreiche, die jeweils von den Osmanen zerschlagen wurden (1744-1818; 1824-1891), hervorgegangen sind. In Saudi-Arabien blieb die von Ibn Abd al-Wahhāb geprägte fundamentalistische Auslegung des Islams, der „Wahhabismus“, Staatsdoktrin und das Land gewann durch die Kontrolle über die heiligen Stätten Mekka und Medina sowie durch den Erdölreichtum weltweiten Einfluss. Seit den 1970er-Jahren exportiert es durch den Bau von Moscheen und religiösen Schulen weltweit ein Islammodell, das neben dem Wahhabismus auch von den Muslimbrüdern beeinflusst wurde. Viele wurden nämlich nach Verhaftungswellen in Ägypten u. a. in Saudi-Arabien sesshaft und beeinflussten den dortigen religiösen Diskurs, sei es über die 1962 gegründete Islamische Weltliga oder über die religiösen Hochschulen in Saudi-Arabien, die zur internationalen Ausbreitung der salafistischen Bewegung beitrugen.

Der Jihadismus, oder genauer jihadistische Gruppen, entwickelte sich schon in den 1970er-Jahren aus dem radikalisierten Flügel der Muslimbruderschaft in Ägypten, aber auch aus radikaleren, politischen Versionen des Salafismus in Saudi-Arabien.11) Hatten diese noch den „nahen Feind“ im Visier (s. o.), entwickelte sich in der Dekade der sowjetischen Besatzung Afghanistans (1979-1989) der Keim einer von Kämpfern aus aller Welt gespeisten globalen jihadistischen Bewegung, die in den 1990er-Jahren ausdrücklich den „fernen Feind“, sprich westliche Mächte, bekämpfen wollte. Zu ihren Vordenkern zählten Gelehrte wie Abdullah Azzam (1941-1989), ein an der ägyptischen islamischen Hochschule Al-Azhar ausgebildeter Palästinenser, der bis heute höchstes Ansehen in radikal-islamistischen Kreisen genießt. Von Azzam stammt das Postulat, der Jihad sei individuelle Pflicht12)

für jeden waffenfähigen Muslim, solange irgendein islamisches Land von „Ungläubigen“ besetzt sei. Auch Usama Bin Laden und Aiman al-Zawahiri13) gehörten vor der Gründung der Al-Qa‘ida (1988) zum Umfeld von Abdullah Azzam in Afghanistan und wurden von ihm beeinflusst. Bis zum Abzug der sowjetischen Truppen 1989 genossen nicht nur die islamistischen afghanischen Mujahidin14) vollumfängliche westliche Unterstützung, sondern die einigen tausend Freiwilligen aus arabischen und anderen islamischen Ländern, die zum „Jihad“ nach Afghanistan gereist waren, wurden im Westen ebenfalls noch nicht als künftiges Sicherheitsrisiko wahrgenommen. (Abdullah Azzam, der im pakistanischen Peshawar ein Verbindungsbüro für solche frühen „globalen Jihadisten“ eingerichtet hatte, konnte sogar in den USA auf Vortragsreisen Spenden einwerben).

Dies änderte sich grundlegend in den 1990er-Jahren, als Bin Laden zunächst vom Sudan aus den Aufbau eines internationalen Netzwerks von radikalen Islamisten organisierte. Seinerzeit machten sich arabische „Afghanistan-Veteranen“ vor allem in Algerien und Ägypten mit zahlreichen Anschlägen bemerkbar, und einige reisten zu neuen „Jihad-Schauplätzen“ wie Bosnien, Tschetschenien und Tadschikistan. In Afghanistan selbst ging der Sturz des pro-sowjetischen Regimes 1992 nahtlos in einen Machtkampf der Mujahidin untereinander über, der Ende 1994 die Taleban als neue Bewegung hervorbrachte. Usama Bin Laden fand nach seiner Ausweisung aus dem Sudan im Machtbereich der Taleban Zuflucht und verbreitete von dort aus im August 1996 einen langen Aufruf zum Jihad gegen die USA. Im Februar 1998 proklamierte er von Afghanistan aus zusammen mit al-Zawahiri und zwei weiteren Extremisten eine „Globale Islamische Front zur Bekämpfung von Juden und Kreuzfahrern“ und rief zur Ermordung von Amerikanern weltweit auf, ob Militärs oder Zivilisten.

Islamismus in Deutschland

Radikaler Islamismus hat in Deutschland bis in die späten 1990er-Jahre nur eine geringe Rolle gespielt. Polizeilich wurde er noch bis 2001 als quantitativ und qualitativ wenig bedeutsamer Teilbereich des Phänomens „Politisch motivierte Ausländerkriminalität“ (siehe Kap. 2.4) eingeordnet, aber auch gesellschaftlich führten radikal-islamistische Gruppen und Personen eine von den Medien und der Wissenschaft kaum beachtete Randexistenz.

Eine Ausnahme bildete der von Cemalettin Kaplan (Hocaoğlu) 1994 in Köln ausgerufene „Kalifatstaat“, der später von seinem Sohn Metin Kaplan fortgeführt wurde.15) Der Kalifatstaat kann als „deutsches“ Phänomen angesehen werden, da ein solches Projekt in der Türkei nicht möglich gewesen wäre. Dort waren seinerzeit islamistische Gruppen und Parteien noch staatlichen Restriktionen oder sogar Verfolgung ausgesetzt So war auch die 1973 gegründete „Islamische Gemeinschaft Milli Görüş“ (IGMG), ein Ableger der türkischen „Nationalen Heilspartei“ von Necmettin Erbakan (s. o.), bis in die 1990er-Jahre hauptsächlich in Deutschland mit Hauptsitz in Köln aktiv. Mit ihrer ausschließlich türkischstämmigen Anhängerschaft stellen die IGMG, bzw. Vertretungen der Saadet-Partei und der Erbakan-Stiftung, ein zahlenmäßig bedeutsames Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes dar.

Logo der IGMG
Logo der IGMG

Ähnlich wie die heute in der Türkei unter Erdoğan regierende AKP können all diese Organisationen als (wenn auch entfernte) Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft gelten, bzw. sie stehen ihr ideologisch nah. In Deutschland sind die „Brüder“ bereits seit 1958 vertreten, spielten eine zentrale Rolle bei der Ausdehnung der Bewegung in Europa und haben es über den Ableger Islamische Gemeinschaft Deutschland (Abkürzung: IGD) – die ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird – vermocht, bundesweit zahlreiche Moscheegemeinden unter einem Dach zu organisieren. Der organisatorische Bezug zur Muslimbruderschaft ist dabei nicht immer offensichtlich. Das gilt neben einer Fraktion echter Muslimbrüder im Kern der Bewegung auch für Ableger oder Einzelpersonen, die der Muslimbruderschaft zumindest nahestehen.16) So gab es früher, und mit der Sächsischen Begegnungsstätte (SBS) auch aktuell, Initiativen,17) die sich etwa um Moscheegründungen in verschiedenen Bundesländern bemühen, sich dabei aber überparteilich geben und jegliche organisatorische Anbindung an die Bruderschaft verneinen. An diesem diffusen Organisationsgrad wird deutlich, wie schwer sich der Einfluss des politischen Islam einschätzen lässt. Das lässt sich auch am Beispiel der DITIB18) ermessen, die bis vor einigen Jahren noch als staatlicher Partner deutscher Behörden fungierte, jetzt aber unter den Vorzeichen zunehmender Islamisierung in der Türkei auch hierzulande als problematisch empfunden wird.

Weitere Zweige der Muslimbruderschaft sind Organisationen, die wie die später transnational agierende Hizb ut-Tahrir (HuT)19) oder die palästinensische Hamas einen gemeinsamen Palästina-Fokus aufweisen. Die in Deutschland bereits 2003 verbotene HuT führte zwischenzeitlich ein Schattendasein, macht aber in jüngster Zeit mit Internet-Initiativen wie Realität Islam oder Generation Islam wieder von sich reden, indem sie u. a. über eine Kopftuchdebatte Anhänger zu mobilisieren versucht. Mit massiven Straßenprotesten gegen Israel machen sich die Hamas und die libanesisch-schiitische Hizbullah bemerkbar, (u. a. am von Ayatollah Khomeini schon 1979 eingeführten „Jerusalem-Tag“, jeweils am letzten Freitag des Monats Ramadan), ein Phänomen, das seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen und nachfolgenden „Gaza-Kriegen“ mit schweren Luftangriffen Israels (2008-2009, 2012, 2014) stark zugenommen hat (siehe unten). Dennoch ist festzuhalten, dass terroristische Aktivitäten der o. g., von türkischen und arabischen Migranten geprägten islamistischen Szene in Deutschland bis heute nicht bekannt sind. Ähnliches gilt für das Phänomen der Auslandskämpfer. Obwohl aus den islamistischen Milieus in Deutschland bereits in den 1990er-Jahren einzelne zum „Jihad“ nach Afghanistan oder Bosnien aufbrachen, waren es nach 2001 andere, sogenannte salafistische Milieus, aus denen sich fast alle Auslandskämpfer rekrutiert haben (siehe unten).

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen

Bildquellen

KapitelAbschlussNavigation_Titel