Bühne des Kapitels / Moduls
Die bedeutendsten Erscheinungsformen von transnationalem Extremismus in Deutschland
2.4 Phänomene der Politisch motivierten Kriminalität
Inhalt des Kapitels / Moduls
Der polizeiliche Phänomenbereich „Politisch Motivierte Kriminalität – ausländische Ideologie“ geht Hand in Hand mit der vom Verfassungsschutz geprägten Kategorie „Ausländerextremismus“. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff für unterschiedliche Extremismusarten, deren Gemeinsamkeiten der Ursprung im Ausland und ihre Transnationalität sind. Die für die deutschen Sicherheitsbehörden und auch gesellschaftlich relevantesten transnational-extremistischen Organisationen sind momentan jene mit einem Türkeibezug. Sie existieren zum Teil schon seit mehreren Jahrzehnten, haben einen konstanten Mitgliederstamm und sind dennoch wissenschaftlich wenig erforscht. Diese Phänomene als einfache „Konfliktimporte“ zu bezeichnen, würde zu kurz greifen. Eine erfolgreiche Präventionsarbeit setzt ein fundiertes Wissen sowohl über die Akteure und die von ihnen transportierten Inhalte als auch über die Strukturen und Aktionsformen der im Fokus stehenden Organisationen voraus. Nicht zuletzt stellt sich hier für die Präventionsarbeit die Frage, weshalb junge Menschen in Deutschland Identitätsangebote transnational-extremistischer Organisationen annehmen und welche alternativen Identitätskonstruktionen ihnen hier offeriert werden können.
Begriffsklärung und Schwerpunktsetzung
„Politisch Motivierte Kriminalität – ausländische Ideologie“ und „Transnationaler Extremismus“
Dem Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – ausländische Ideologie“ (PMK - Ausländische Ideologie) werden Straftaten zugeordnet, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die durch eine nichtdeutsche Herkunft geprägte Einstellung der Täterin oder des Täters entscheidend für die Tatbegehung war. Dies gilt insbesondere, wenn sie darauf gerichtet sind, Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland oder aus dem Ausland heraus Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland zu beeinflussen. Straftaten der PMK - Ausländische Ideologie können auch durch deutsche Staatsangehörige begangen werden.1) Doch die Bundesrepublik Deutschland ist eine „streitbare (wehrhafte) Demokratie“. Neben der Wertegebundenheit und der staatlichen Bereitschaft, diese Werte gegenüber Extremistinnen und Extremisten2) zu verteidigen, bedeutet das auch, die Verfassung schon im Vorfeld zu schützen. Der Staat schreitet nicht erst ein, wenn extremistische Personengruppen gegen Gesetze verstoßen (politisch motivierte Kriminalität), sondern bereits vor der eigentlichen Tat. Diese Aufgabe übernimmt der Verfassungsschutz, der Inlandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland.
Extremismusprävention setzt noch einen Schritt früher an und will die Radikalisierung von Personen in extremistische Milieus hinein verhindern. Um Extremismusprävention erfolgreich betreiben zu können, muss man wissen, welche extremistischen Vereinigungen es gibt, wer die Handelnden sind, was ihre Motivation ist und welcher Handlungsformen sie sich bedienen. Erst dann kann frühzeitig eine Radikalisierung erkannt und dieser gegengesteuert werden.
Im vorliegenden Kapitel sollen extremistische Organisationen und ihr Umfeld dargestellt werden, die in Deutschland aktiv sind, aber ihren Ursprung im Ausland haben und inzwischen transnational – also über Staatsgrenzen hinaus – ausgerichtet sind. Der Verfassungsschutz verwendet hierfür traditionell den Begriff des „Ausländerextremismus“, auch wenn es sich bei den Akteuren rechtlich nicht nur um „Ausländer“ handelt.3) Emre Arslan spricht in seinem Buch „Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum“ von „transnationalen Übergängen“ und meint damit finanzielle, personale, organisatorische und ideologische Schnittstellen zwischen ultranationalistischen Mutterparteien in der Türkei und ihren Ablegern in Deutschland. Mittlerweile haben alle Organisationen aus dem Phänomenbereich „Ausländerextremismus“, sowohl rechts- als auch linksextremistische, europaweite Gesamtstrukturen mit eigenen „Deutschlandvertretungen“ aufgebaut. Aufgrund der durchweg hierarchischen Strukturen empfangen ihre in Deutschland lebenden Anhänger politisch-strategische Richtlinien aus den jeweiligen Ursprungsländern und setzen diese bereitwillig in die Tat um. Die Stärkung der Hauptorganisation ist dabei immer das langfristige Ziel, damit diese in die Lage versetzt wird, ihre politische Agenda vor Ort umzusetzen.
Schwerpunkt: Türkei
Im Folgenden werden ausschließlich extremistische Organisationen mit Ursprung in der Türkei dargestellt. Das hat gute Gründe. In Deutschland leben ca. 3 Millionen Menschen, die einen türkischen Migrationshintergrund haben. Auch wenn ungefähr die Hälfte von ihnen deutsche Staatsbürger sind, orientieren sich nach wie vor viele dieser Menschen an dem Land ihrer Vorfahren. Ihre ursprüngliche nationale Identität – sei es die türkische oder die kurdische – steht für nicht wenige an erster Stelle. Studien haben aber auch gezeigt, dass für diese Menschen eine enge Verbundenheit mit der Türkei nicht im Widerspruch stehen muss zu einer Verbundenheit mit Deutschland.6)
Mit der türkischen „Teilidentität“ verbunden ist für viele das Interesse an den politischen Entwicklungen in der Türkei. Entsprechend gibt es in Deutschland neben zahlreichen kulturellen Organisationen auch eine Vielzahl politischer Organisationen, die diese Verbundenheit mit der Türkei aufrechterhalten und eine grenzüberschreitende Teilhabe am dortigen Geschehen ermöglichen. Unter den politischen Organisationen mit Türkeibezug sind jedoch auch solche, die in Deutschland als extremistisch eingestuft werden. Die hinsichtlich ihrer Mitgliederstärke und ihres Aktivitätsgrades bedeutendsten extremistischen Migrantenorganisationen haben mittlerweile alle ihren Ursprung in der Türkei.
Die Schwerpunktsetzung auf die Türkei rechtfertigt auch ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik: Im Phänomenbereich „Ausländische Ideologie“ wird seit mehreren Jahren der überwiegende Teil der Straftaten im Zusammenhang mit innertürkischen Konflikten begangen – wenn auch mit Schwankungen.7)
2015 2016 2017 2018 2019
2020
PMK-Ausländische Ideologie 1.345 2.650 1.617 2.487 1.897 1.016 davon das Unterthema "PKK/Kurden/Türkei" 808 1.518 1.028 1.873 1.394 446
Denn sobald sich in der Türkei die politische Situation zuspitzt, reagiert ein Teil der türkischen bzw. kurdischen Community in Deutschland darauf in der Regel mit Demonstrationen und Kundgebungen. In Zusammenhang mit diesen Veranstaltungen kommt es dann häufig zu Verstößen gegen das Vereinsgesetz, zu Sachbeschädigungen und zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz. Es werden jedoch auch Gewalttaten wie Widerstands- und Körperverletzungsdelikte oder auch Brandanschläge im Zusammenhang mit innertürkischen Konflikten in Deutschland begangen.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Bundeskriminalamt 2016; um eine differenziertere Betrachtungsweise der Fallzahlen zu ermöglichen, wurde der Bereich der PMK Ausländer ab 01.01.2017 bundeseinheitlich in die beiden neuen Phänomenbereiche Ausländische Ideologie und Religiöse Ideologie aufgeteilt.
2)
Zum Extremismusbegriff siehe Kapitel 1.
3)
Religiös motivierte Bestrebungen, wie der Salafismus, fallen jedoch nicht in diese Kategorie. Hierfür siehe das Salafismus, Islamismus und islamistischer Terrorismus - Seite 1 „Salafismus, Islamismus und islamistischer Terrorismus“.
4)
Heinrich-Böll-Stiftung 2011. 5 Römhild 2011.
5)
Römhild 2011.
6)
Vergleiche Schührer 2009; Bundeszentrale für politische Bildung 2009.
7)
Siehe hierzu die jährlich vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat veröffentlichten bundesweiten Fallzahlen „Politisch Motivierte Kriminalität“.
8)
Hanrath 2012.
9)
Bundeszentrale für politische Bildung 2016; Hillmann 2007.
10)
Für weitere mögliche Ursachen von Radikalisierung Jugendlicher siehe das Radikalisierung in konflikttheoretischer Perspektive - Seite 1.
11)
Heinritz-Fuchs/Lautmann/Rammstedt/Wienold 2007.
12)
Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages 2011.
13)
Vergleiche Arslan 2009.
14)
Vgl. Bozay 2017.
15)
Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2018.
16)
Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2020, Seite 268.
17)
Young Struggle Duisburg.
18)
Young Struggle.
19)
Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2020, Seite 273.
20)
Vgl. Hanrath 2011.
Literatur
Arslan, Emre (2009): Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum: Türkische Graue Wölfe in Deutschland. Wiesbaden, VS Verlag.
Aslan, Fikret/Bozay, Kemal (Hrsg.) (2012): Graue Wölfe heulen wieder. Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in Deutschland. Münster, Unrast Verlag.
Bayrak, Sercan/Vidinlioglu, Ilker (2012): ‘Ausländerextremismus‘ im Wandel? in Landesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Verfassungsschutz 1952-2012. Stuttgart, Buderich Verlag.
Bozay, Kemal (2017): Unter Wölfen?! Rechtsextreme und nationalistische Einstellungen unter Türkeistämmigen in Deutschland. In: Bozay, Kemal/Borstel, Dierk (Hrsg.): Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden, Springer VS.
Bozay, Kemal/Borstel, Dierk (Hrsg.) (2017): Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden, Springer VS.
Bozay, Kemal/Mangitay, Orhan (Autoren): Wuppertaler Initiative für Demokratie und Toleranz e. V. (Hrsg.) (2016): Ich bin stolz, Türke zu sein. Graue Wölfe und türkischer (Rechts-)Nationalismus in Deutschland. Wuppertal, Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus NRW.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2009): Aus Politik und Zeitgeschichte: Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten, Ausgabe 5/2009. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2011): Aus Politik und Zeitgeschichte: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, Ausgabe 43/2011. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Erben, Sayime (2009): Zwischen Diskriminierung und Straffälligkeit. Diskriminierungserfahrungen straffällig gewordener türkischer Migrantenjugendlicher der dritten Generation in Deutschland. München, Utz-Verlag.
Greuel, Frank/Glaser, Michaela (Hrsg.) (2012): Ethnozentrismus und Antisemitismus bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Erscheinungsformen und pädagogische Praxis in der Einwanderungsgesellschaft. Halle, Deutsches Jugendinstitut.
Hanrath, Jan (2011): Spannungen zwischen Migrantengruppen: Importiert oder hausgemacht? Empfehlungen an kommunale Akteure am Beispiel des türkisch-kurdischen Konflikts. In: Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.). Bonn.
Hanrath, Jan (2012): Transnationale Migrantengruppen und der Transport von Konflikten – Das Beispiel Türken und Kurden in Berlin. Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen (INEF-Report 105/2012).
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Schührer, Susanne (2018): Türkeistämmige Personen in Deutschland. Erkenntnisse aus der Repräsentativuntersuchung ‚Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2015‘ (RAM). Working Paper 81 des Forschungszentrums des Bundesamtes. Nürnberg, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Strohmeier, Martin/Yalcin-Heckmann, Lale (2016): Die Kurden. Geschichte Politik Kultur. München, C. H. Beck.
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Quellen
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Young Struggle Duisburg: Selbstverständnis von Young Struggle. http://ysduisburg.blogspot.com/p/young-struggle.html.
Young Struggle. https://young-struggle.org/?p=210.
Bildquellen
Abdullah Öcalan, Gründer der PKK: © picture-alliance/dpa.
Anhängerinnen und Anhänger der PKK in Berlin: © picture alliance/Wolfgang Minich.
Der Wolfsgruß türkischer Ultranationalisten: © picture alliance/dpa.
Emblem der ADÜTDF: Türkischen Föderation in Deutschland, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei: 2445d-turkfed.jpg.
Emblem der AGIF: AGIF - Almanya Göçmen İşçiler Federasyonu, https://www.facebook.com/AgifHaber/photos/a.1614446815479156/1617498095174028/?type=1&theater.
Emblem der ATIF: ATIF - Almanya Türkiyeli İşçiler Federasyonu, https://de-e.facebook.com/atif1976/photos/a.128310073959817/522010547923099/?type=1&theater.
Emblem der DHKP-C-nahen Musikgruppe Grup Yorum: Grup Yorum, https://www.avrupa-postasi.com/images/upload/yorum%202.jpg.
Emblem der NAV-DEM: Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V., https://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2017/08/20170628-kullanilan-navdemf96b83-image-768x388.jpg.
Instrumentalisierung des Victory-Zeichens durch die PKK-Szene: © picture-alliance/dpa.
Logo der Gruppe Young Struggle: KasimBoran, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Young Struggle.jpg, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode.
Personenkult um Abdullah Öcalan: © picture alliance / Boris Roessler/dpa
Titelbild der Yürüyüs-Ausgabe Nr. 483 (05. April 2015): Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi, Cover Zeitschrift Yürüyüş, April 2015.