Bundeskriminalamt (BKA)

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Seit jeher sind Menschen bereit, für ihre verwandtschaftlichen, politischen und religiösen Gemeinschaften zu kämpfen und notfalls auch zu töten und zu sterben. Ebenso gibt es aber auch immer wieder Versuche, Konflikte so zu regeln, dass sie gewaltfrei ausgetragen werden können. In der Gegenwart eröffnet die Demokratie mit allgemeinen und freien Wahlen eine Chance für die gewaltfreie Mitwirkung an politischen Entscheidungen. Der Rechtsstaat stellt Menschenrechte und Grundrechte, wie Rede- und Versammlungsfreiheit unter Schutz. Mit einem rechtlich kontrollierten Gewaltmonopol versucht der Staat, die Umsetzung von demokratisch getroffenen und richterlichen Entscheidungen sicherzustellen. Zusammen sind dies wichtige Voraussetzungen für den Gewaltverzicht der Bürger.

Bisher konnte damit aber nicht verhindert werden, dass immer wieder Ideen Anhänger finden, die den Ordnungsrahmen der Verfassung überschreiten und sich mit Gewalttaten durchzusetzen versuchen. RAF, NSU und IS sind Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Daher ist die Frage dringlich, warum und unter welchen Bedingungen auch in einer rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung Zweifel am Sinn oder gar der Möglichkeit gewaltfreier Konfliktregulierung entstehen. Umgekehrt gefragt: Können die Verhältnisse, in denen die Menschen leben und auch miteinander streiten, so gestaltet werden, dass „Anreize“ für politisch motivierte Gewalt zurückgehen?

Um dies herauszufinden, sind radikale Ideologien nicht nur als Ursache von Gewalt, sondern auch als mögliche Folge von Lebenslagen zu betrachten, in denen sie für manche Menschen plausibel werden. In der sozialpsychologischen Tradition ist darum über die Entstehungsbedingungen von autoritären Denk- und Verhaltensmustern in der Familie geforscht worden. Der vorliegende Beitrag wählt jedoch einen weiteren, konflikttheoretischen Zugang: Wenn es dem Rechtsstaat und der Demokratie über längere Zeit hinweg nicht gelingt, die Konflikte zu bewältigen oder zu regulieren, durch die Teile der Bürgerinnen und Bürger sich bedroht fühlen, entstehen Zweifel an der Wirksamkeit der bestehenden politischen Ordnung. Dann finden auch Vorstellungen Gehör, dass die Gemeinschaften, denen Menschen angehören, zum Kampf bestimmt seien und nur bestehen könnten, wenn sie andere in die Schranken weisen, besiegen oder vernichten. Solche Vorstellungen können zu den Kerngedanken politischer Bewegungen werden, die im Namen „höherer Ziele“ den Lauf der Geschichte neu bestimmen wollen. Wenn das so ist, ist die grundsätzliche Anerkennung von Demokratie, Rechtsstaat und staatlichem Gewaltmonopol nicht nur durch politische Bildung und sozialpädagogische Arbeit zu fördern, sondern muss immer wieder durch konkrete Problembewältigung und Konfliktregulierung in der Politik selbst hergestellt werden.

Der folgende Beitrag fügt Erkenntnisse aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen in Neurobiologie, Sozialanthropologie, Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft zusammen, um die Dynamik der Radikalisierung von Personen und Bewegungen verständlich zu machen. Zunächst geht es darum, die Zugehörigkeit von Menschen zu ihren Gemeinschaften in ihren anthropologischen Voraussetzungen und in ihrer kulturellen Konstruktion zu verstehen. Die Möglichkeit friedlicher Konfliktregelung ist eine zentrale Frage des Zusammenlebens. Politische Radikalisierung ist mit einer Reduktion der Vielfalt von persönlicher Zugehörigkeit verbunden, die durch Konflikte erzeugt wird und diese Konflikte weitertreibt. Vor diesem Hintergrund ist die Verabsolutierung von Gemeinschaften im zwanzigsten Jahrhundert und in der Gegenwart zu skizzieren. Schließlich ist darüber zu urteilen, was dies auch heute für Menschenrechte und Demokratie bedeuten könnte. Das soll abschließend an einem Dokument aus dem Jahre 2018 beispielhaft aufgezeigt werden.

Radikalisierung verstehen

Können wir sicher sein, dass totale Herrschaft, Massenvernichtung und Völkermord keine Chancen mehr haben? Der Abbau von Gewaltenteilung und die Wiederkehr autoritärer Führerfiguren und ethnischer Ausgrenzung in vielen Ländern wecken heute Zweifel an dem Gelingen des Projektes einer rechtsstaatlichen und demokratischen Zukunft. Um aus dem Schatten der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts herauszutreten, möchten wir wissen, warum und wann Teile der Gesellschaft sich politisch radikalisieren und irgendwann auf Gewalt setzen. Dabei geht es zunächst nicht darum, einzelne Personen und Formen von Radikalisierung zu präsentieren oder zu skandalisieren. Vielmehr ist herauszufinden, wie der Prozess der politischen Radikalisierung zustande kommt und voranschreitet. Dafür sollen die Erkenntnisse unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zueinander in Bezug gesetzt werden. Ausgehend von anthropologisch vorgegebenen Verhaltensweisen werden hier Gruppenprozesse, historische Verläufe und gegenwärtige Konflikte in den Blick genommen. Die Beispiele werden den sich radikalisierenden Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts und der Gegenwart entnommen, ohne diese jedoch insgesamt darzustellen zu können.

Was heißt hier Radikalisierung?

Radikalisierung bezeichnet im Allgemeinen die Steigerung des Einsatzes und der Kampfbereitschaft durch Personen und Gruppen in einem besonderen Handlungsfeld. Sie kann für ganz unterschiedliche persönliche, berufliche oder politische Ziele in Gang kommen. Die Handlungsbereitschaften werden dabei von starken Gefühlen, der Überzeugung von einer Idee und der aus ihr erwachsenden Verpflichtung in einzelnen Situationen und über die Zeit hinweg bestimmt. Wenn es um politische Handlungsfelder geht, ist es vor allem die Identifikation mit einer politischen Idee, einer Bewegung oder Partei, die zunehmend an Bedeutung gewinnt und andere Sinnzusammenhänge in den Hintergrund drängt. Dieser Prozess kann zu Ergebnissen führen, die positiv oder negativ bewertet werden. Für die Wissenschaft ist es entscheidend, ihn erst einmal zu verstehen. Dafür ist die Perspektive der Akteure beispielhaft zu rekonstruieren – unabhängig davon, ob man sie für richtig oder falsch hält.

Ausgelöst wird politische Radikalisierung zumeist durch den Verlust des Vertrauens in die politischen Institutionen im Zuge von Krisen, Konflikten und Niederlagen. Dabei ist weniger die tatsächliche Lage der Bürgerinnen und Bürger, als vielmehr ihre Befürchtung gegenüber einer ungewissen Zukunft entscheidend. Ebenso kann aber auch die Erwartung eines Sieges und der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die dieser bringen soll, Kampfbereitschaft und Kriegsbegeisterung auslösen. Kollektive Kränkungen und kollektiver Größenwahn können gleichermaßen zu kollektiver Gewalt führen. Zumeist sind es jedoch Situationen der Verunsicherung, in denen Menschen ihre Hoffnungen auf Gemeinschaften verstärken, von denen sie Hilfe in der Not und Perspektiven für die Zukunft erwarten. Und oft schichten sich Verunsicherungen und Siegeshoffnungen aufeinander auf und treiben Gesinnungen und Handlungen voran, wie sich z.B. an der Abfolge von Revolutionswirren und napoleonischer Kriegsbegeisterung vor über zweihundert Jahren zeigen lässt.

Was bedeutet dabei der Begriff der Gemeinschaft?

Der Begriff der „Gemeinschaft“ bezieht sich auf die Zurechnung von Personen sowohl zu interaktiven, d. h. unmittelbar von Mensch zu Mensch erlebbaren Gruppen als auch zu „vorgestellten“ gesellschaftlichen Einheiten, die durch Herrschaftsinstanzen, Justiz und Verwaltung repräsentiert werden oder die die Menschen als Anhänger einer Idee versammeln. Was einzelne Gemeinschaften inhaltlich ausmacht und was sie von anderen abgrenzt, kann sehr unterschiedlich sein. Entscheidend für Radikalisierung ist, worauf sich Vertrauen und Misstrauen, Hoffnungen und Befürchtungen der Zugehörigen richten.

Wie sind die Zusammenhänge von Konflikten und Gemeinschaften zu sehen?

Konflikte innerhalb von Gemeinschaften führen zu einer Frontbildung zwischen den Mitgliedern. Schon Familienstreitigkeiten und Nachbarschaftskonflikte können heftig werden, gerade weil man ihnen nicht ausweichen kann und es rasch „ums Ganze“, nämlich um das wechselseitige Vertrauen geht. Konflikte zwischen Gemeinschaften führen dagegen meistens zur Verstärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls in den jeweiligen Gemeinschaften und können zu diesem Zweck auch inszeniert werden. Anlässe, sich zu radikalisieren, können vielfältig sein: Finanz- und Wirtschaftskrisen, die die Erwartungen auf Wohlstand oder Aufstieg zerstören; Migrationskonflikte, die potentiell das Vertrauen in die umgebende Nachbarschaft, um gewohnte „Besitzstände“ an Raum und um die Erwartung vertrauter Verkehrsformen bedrohen; politischer und kultureller Wandel, der die Selbstverständlichkeiten von früher infrage stellt – und heute auch die Einsicht, dass der Weg, den die Gesellschaften in Produktion, Verkehr und Konsum genommen haben, letztlich mit ihrem künftigen Fortbestand unverträglich sind. Alle diese Entwicklungen können zu unterschiedlichen Radikalisierungsprozessen führen, die sich dann gerade in ihrer Gegensätzlichkeit wechselseitig vorantreiben. Bei einem Vertrauensverlust kann es also um vielerlei und um widersprüchliche Konstellationen gehen – die Radikalisierung, die mit ihm entstehen kann, folgt gleichwohl oft ähnlichen Mustern. Diese Muster sind hier an Bewegungen darzustellen, die in der Vergangenheit an die Grenzen von Rechtsstaat und Demokratie gekommen sind oder sie überschritten haben.

Welche Bedeutung hat dabei der persönliche Lebenslauf?

Wenn das eigene Leben von Brüchen, Krisen und Konflikten bestimmt ist, kann sich der Wunsch verstärken, in einer größeren Gemeinschaft aufgehoben zu sein und für deren Idee zu kämpfen. Diese wirkt dann als persönlicher Ordnungs- und Orientierungsfaktor. In Gruppen, die sich radikalisieren, finden sich jedoch Personen mit ganz unterschiedlichen und keineswegs nur traumatischen Vorerfahrungen. Einzelne Biografien können daher nur beschränkt erklären, wie Bewegungen insgesamt entstehen. Personenübergreifend kommen Bewegungen unter dem Eindruck besonderer Ereignisse zustande, wie sie gegenwärtig im Zusammenhang von kulturellem Wandel, Finanzkrisen, Einwanderungsbewegungen und einer sich verschärfenden Umweltkrise in den Blick geraten. Politische Bewegungen versprechen dann, Gefahren abzuwenden oder eine andere Zukunft durchzusetzen. Deren Dynamik ist dann für das Niveau der Radikalität und schließlich auch für den Einsatz von Gewalt und Gegengewalt bestimmend. Politische Bewegungen verweisen dabei regelmäßig auf die Zugehörigkeit zu „vorgestellten Gemeinschaften“ wie Klasse, Volk, Nation, Menschheit und auf deren Schicksal in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Grundlagen: Sozialanthropologische Voraussetzungen

„Interaktive“ und „vorgestellte“ Gemeinschaften

Warum sind Gemeinschaften für uns so bedeutsam?

Sie grenzen einen Raum besonderer Solidarität gegenüber einer Außenwelt von Nicht-Zugehörigen, von unwichtigen anderen und insbesondere von feindlichen Personen und Gruppen ab. Diese Abgrenzung wird nicht nur dort vollzogen, wo sie zum Leben oder Überleben notwendig ist, sondern wird auch dann inszeniert, wenn es um die Erzeugung von Gefühlen des Wettbewerbs, der Spannung, der Angstlust oder Siegesfreude geht, wie wir sie an jedem Fußball-Wochenende erleben können. In den Stadien wird die emotionale Bedeutung von Gemeinschaft spürbar, sichtbar und hörbar. Sie ist in der Geschichte des Menschen stets vorhanden gewesen. Der Neurobiologe Robert Sapolsky1) kommt zu dem Ergebnis: „Die Macht der Wir/Sie-Bildung zeigt sich also (a) an der Geschwindigkeit, mit der das Gehirn Gruppenunterschiede verarbeitet, und an der extrem geringen Zahl von Sinnesreizen, die für diesen Prozess erforderlich sind; (b) an der unbewussten Automatizität dieser Verarbeitungsvorgänge; am Vorkommen der Wir/Sie-Bildung bei anderen Primaten und sehr kleinen Kindern; und (d) an der Tendenz, Gruppen nach willkürlichen Unterschieden zu bilden und diesen Markierungen dann enorme Bedeutung zu verleihen“.2)

Welche Rolle spielen dabei Verwandtschaft und Nachbarschaft?

Familie und Verwandtschaft spielen als „interaktive Gemeinschaften“, in denen sich alle von Angesicht zu Angesicht kennen, schon immer eine grundlegende Rolle für das Gefühl der Zugehörigkeit. Dieses Gefühl wird aber zusätzlich durch Erzählungen, Familienfotos und Rituale z. B. anlässlich von Geburt, Erwachsenwerden, Urlaub, Heirat und Tod bestärkt. Außerhalb der Verwandtschaft ist es vor allem die Nachbarschaft, die von dem gemeinsamen Erleben getragen wird, sich aber darüber hinaus auch durch Nachbarschaftshilfe und Feste bekräftigt. In allen diesen „interaktiven Gemeinschaften“ besteht ein grundsätzliches Interesse an gemeinsamen Normen und Werten. Verbunden ist damit immer auch eine Vorstellung von „Normalität“. Diese bezieht sich auf die Erwartungen an Frauen und Männer, an Kinder, junge und alte Leute und auf wechselseitige Hilfeleistungen. Sie sind in Sinnvorstellungen integriert, die über die unmittelbare Gegenwart und über die einzelnen Personen hinausweisen und sie beinhalten zumeist die Erwartung, auch außerordentliche Belastungen und Bedrohungen gemeinsam bewältigen zu können. Werden diese enttäuscht, kann Zwietracht rasch eskalieren.

Was folgt daraus für die Bewertung anderer Gemeinschaften?

Der Blick auf andere Gemeinschaften erfolgt erst einmal aus der Perspektive der eigenen Gruppe. Fremdheit erzeugt neben Neugier immer auch Unsicherheit. Die anderen Gemeinschaften werden daher im Hinblick auf die eigenen Werte „begutachtet“, was allerdings nicht von vornherein zu einem negativen Ergebnis kommen muss. Die Hervorhebung von Unterschieden kann sich kritisch sowohl gegen die andere als auch die eigene Gruppe wenden. Wenn andere Gemeinschaften aus der Sicht der eigenen Gruppe eher negativ bewertet werden, wird dies in der Ethnologie als Ethnozentrismus d. h. Vorstellungen von der Höherwertigkeit der eigenen Gruppenkultur bezeichnet. 3) Solche „Vor“-Urteile gehen neuen Erfahrungen voraus und beeinflussen häufig deren Interpretation. Sie können sich auch von unmittelbaren Erfahrungen ablösen und dann als ideologisches Konstrukt von Differenz zur Legitimation von Feindschaft, Herrschaft und Ausbeutung genutzt werden.

Ist das dann Rassismus?

Es kann dazu führen. In der Ideologie, d. h. dem Ideensystem des Rassismus galten bzw. gelten die Differenzen zwischen Völkern als biologisch, d. h. genetisch vorgegeben. Daraus resultiert dann die Vorstellung einer unaufhebbaren Über- oder Unterlegenheit und im Konfliktfall einer „natürlichen“ Feindschaft zur Selbstbehauptung. Nach dem Zusammenbruch der „Rassenlehre“ angesichts der neueren genetischen Forschung werden zur Festschreibung dieser Differenzvorstellung heute eher kulturelle Traditionen bemüht, die dann aber ebenfalls als kaum veränderlich und letztlich unvereinbar interpretiert werden. In beiden Konstrukten werden Menschen als Teil von homogenen Gruppen gesehen, deren genetische oder kulturelle Merkmale das Verhalten der Individuen mehr oder weniger bestimmen. Bei Fremdgruppen wird unterstellt, dass dies so sei, bei der Eigengruppe, deren Heterogenität deutlicher wahrgenommen wird, dass dies so sein solle. Durch einen „kollektiven Singular“, der sich auf die Herkunft bezieht, wird der Deutsche, der Russe, der Araber, der Afrikaner, der Moslem, der Jude usw. gedanklich auf eine ihn bestimmende spezielle Identität festgelegt. Wenn diese bei der eigenen Gruppe hoch und die einer anderen niedrig bewertet wird („der Untermensch“), können Interessen an Distinktion, d. h. etwas „besseres“ zu sein und daraus folgend an Herrschaft, Ausbeutung oder Sklaverei eher befriedigt werden. Im Anschluss an Antweiler4) sollte man allerdings mit dem Kampfbegriff „Rassismus“ sparsam umgehen. Denn in jeder Konstitution von Gemeinschaft sind immer schon Vorstellungen von Differenz enthalten, die auch Bewertungsaspekte enthalten. Es gibt allenthalben vielfältige und handlungsmächtige Traditionen, die sich gegen andere absetzen – nicht nur zwischen Gesellschaften, sondern auch innerhalb derselben. Gerade weil Traditionen heute gewählt und abgewählt werden können, müssen einzelne Gemeinschaften definieren, worin sie sich von anderen unterscheiden und worin sie „besser“ sein wollen. Toleranz und Respekt haben auch gegenüber solchen Vorstellungen zu gelten, solange diese die jeweils anderen nicht auf eine wesensmäßige Minderwertigkeit festlegen. Der Rassismusvorwurf sollte darum nicht beliebig ausgeweitet werden, sondern sich auf diejenigen Vorstellungen von Differenz beschränken, die die Menschenwürde der anderen infrage stellen.

Sind Völker und Nationen auch Gemeinschaften?

Über „interaktive Gemeinschaften“ wie Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft hinaus sind überlokale „vorgestellte Gemeinschaften“ wie Nationen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen von besonderer Bedeutung, die sich historisch im Zuge von ökonomischer, kultureller, politischer Verflechtung und insbesondere von militärischen Eroberungen gebildet haben. Sie sind nicht ständig präsent, sondern werden durch Repräsentanten vertreten und durch spezielle „Narrative“ d. h. Erzählungen in Feiern und Schulungen und Schriften vergegenwärtigt.5)

Auch an solche überlokale politische und religiöse Gemeinschaften richten sich grundlegende Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz, Hilfe und Sinnstiftung, die durch Familie und Nachbarschaft allein nicht befriedigt werden können. Manche der vorgestellten Gemeinschaften sind als Stämme, Völker, Reiche, Staaten oder Religionsgemeinschaften institutionalisiert, andere wirken eher als ideelle Interessen- und Wertegemeinschaften, die miteinander konkurrieren oder gegeneinander kämpfen. Alle werden aber als Erbe einer gemeinsamen Vergangenheit und/oder als Projekte für eine gemeinsame Zukunft begriffen und von der Hoffnung getragen, dass mit ihnen gegebenenfalls außerordentliche Belastungen und Bedrohungen bewältigt und/oder neue Chancen eröffnet werden.

Die nicht unmittelbar von Mensch zu Mensch erfahrbaren, sondern überlokal organisierten oder auch nur ideell vorgestellten Gemeinschaften sind in ihrer Idee zumeist dem Modell interaktiver Gemeinschaften nachgebildet. Sie mobilisieren damit die Gefühle, die wir mit unmittelbarer Gemeinsamkeit verbinden. Das „Volk“ wird – wie in der französischen Nationalhymne „allons enfants de la Patrie“ – als erweiterte Verwandtschaft, die „Nation“ als Nachbarschaft im Großen, der „Stand“ oder die „Klasse“ als kollegiale Schicksalsgemeinschaft, die jeweilige Glaubensgemeinschaft als Kirche, also als das Haus Gottes begriffen, in dem „Brüder und Schwestern in Christo“ sich versammeln. In der Geschichte war es zumeist die Zugehörigkeit zu einer Religion, die einzelne Gemeinschaften von anderen abgrenzte. Religion ist daher nicht nur im Islam, sondern auch in Christentum und Buddhismus immer wieder für Kampf, Vertreibung und Vernichtung anderer Gemeinschaften eingesetzt worden: „Gott mit uns“ war noch auf den Koppelschlössern der Wehrmacht eingraviert. Auch eine einmal kriegerisch erworbene Herrschaft über ein Land stabilisiert ihre Macht regelmäßig nicht nur über Zwang, sondern versucht daneben Gemeinschaftsvorstellungen aufzubauen. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts war besonders produktiv darin, Ideen von Volk, Nation, Klasse und Rasse, aber auch von Menschheit mit essentieller Bedeutung aufzuladen – Ideen, die bis heute die Identifikationen von Menschen auf sich ziehen. In ihnen kommen nicht nur historische Konfliktlagen, sondern auch Theorien zum Ausdruck, die zu ihrer Zeit als wissenschaftlich angesehen wurden – vor allem aber die Suche nach Gewissheiten, die die Menschen auch in kritischen Lagen zusammen halten.

Bedeutet Gemeinschaft immer auch Konflikt?

Es besteht eine Wechselwirkung. Konflikte gehen der Gemeinschaftsbildung häufig voraus. Deutschland ist als Idee einer „tausendjährigen Geschichte“ erst in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Herrschaft mächtig geworden, hat sich dann verselbständigt und ist sechzig Jahre später als „kleindeutsche Lösung“ mit „Blut und Eisen“ (Bismarck) durchgesetzt worden. Die zentralen Ideen unterschiedlicher Gemeinschaften müssen nicht, aber können in ihrer Verwirklichung gegensätzlich sein: Der Kampf der Weltanschauungen wird umso unerbittlicher geführt, je mehr sich jede Seite im Besitz der Wahrheit wähnt. Ein Vorgeschmack auf das 20. Jahrhundert war hier der „Kulturkampf“ zwischen dem neugegründeten Deutschen Reich und der ultramontanen („jenseits der Berge“ von Rom bestimmten) katholischen Kirche mit ihrem Unfehlbarkeitsdogma, die nach der Reichsgründung von 1871 gegeneinander um die Loyalität und die Hoffnungen vieler Menschen konkurrierten. Die Zeit solcher Glaubenskriege ist auch heute keineswegs vorbei.

Dennoch sind beide Formen, sowohl interaktive als auch vorgestellte Gemeinschaften, nicht von vornherein konfliktträchtig. Erst (berechtigte oder unberechtigte) Vorstellungen, sich gegen andere behaupten zu müssen, erst die Konkurrenz um Land, um ökonomische Ressourcen, um Sprache und kulturelle Anerkennung, um die Geltung der jeweiligen „Wahrheit“, vor allem aber um Herrschaft und Gestaltungsmacht lösen Konflikte zwischen ihnen und in ihnen aus. Dann steigert sich Nationalgefühl zu Chauvinismus, d. h. Feindschaft gegen andere Völker und Nationen, Klassenlage zum Klassenkampf, aus dem gemeinsamen Glauben wird der Krieg gegen den Unglauben und die Ungläubigen. Unterstellt wird dabei zumeist, dass der Nachteil der anderen Seite zugleich der Vorteil der eigenen Seite sei. Wenn solche Konflikte eskalieren, kann irgendwann die Überzeugung entstehen, es könne nur Sieg oder Untergang geben. Wenn es dann soweit ist, können Gemeinschaftsvorstellungen Macht über Leben und Tod gewinnen.

Gewalt oder Recht – eine Frage der Konfliktregelung

Gehört Gewalt zur Natur des Menschen?

Zu allen Zeiten sind Menschen bereit gewesen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlten, notfalls zu kämpfen, zu töten und zu sterben.6) Diese Bereitschaft wird allerdings immer auch in Heldengeschichten, in Feiern und Gesängen zelebriert. Sie ist also nicht einfach „triebhaft“, sondern bedarf in ihrer konkreten Ausgestaltung der kulturellen Verstärkung und Orientierung. Unsinnig ist daher die Annahme eines „natürlichen“ Heroismus im Sinne heldenhafter Kampfbereitschaft und der Glaube, Friedfertigkeit sei ein Zeichen von Dekadenz während Kampf, Opferbereitschaft und Gewalt eine menschliche, speziell männliche Bestimmung sei, die allenfalls „abtrainiert“ werden könne. Die meisten Menschen ziehen den Frieden dem Krieg vor und Militarismus ist, wie die Geschichte von Sparta bis zu dem Militärstaat Nordkorea zeigt, selbst ein Produkt kollektiver Trainingsprogramme. Sowohl Kampfgeist als auch Friedfertigkeit sind menschliche Möglichkeiten, werden eingeübt und sind zumeist in unterschiedlichen Ständen einer Gesellschaft, wie z. B. Kriegern und Priestern institutionalisiert.

Was ist die Alternative zum Kampf?

Seit jeher werden Versuche unternommen, die Eskalation von Konflikten über Meidungsstrategien, Schlichtungsverfahren und Verträge zu begrenzen oder beenden.7) Die anarchische, d. h. nicht staatlich geregelte Ausgangslage eines Kampfes „Aller gegen Alle“, die Thomas Hobbes 1691 nach einem blutigen Bürgerkrieg der Religionsgemeinschaften in England seiner Staatstheorie zugrunde legte, gibt es allerdings auch heute noch, z. B. in „gescheiterten“ Staaten. Sie bestimmt auch immer wieder das Geschehen auf der internationalen Ebene – allen UN-Gremien und Verträgen zum Trotz.8)

So ist die Menschheit auf dem Weg zum Frieden also nicht weit gekommen?

Doch! Überall dort, wo die Erfahrung gemacht wird, dass Kooperation zusätzliche Werte schafft, gibt es ein Interesse an verträglichem Auskommen. Innerhalb von Rechtsstaaten entscheiden dem Prinzip nach Gerichte anstelle von Waffen und wird „Selbstjustiz“ bzw. Rache durch Gerichtsentscheide abgelöst.9) Staaten sind allerdings gleichzeitig in dem Kampf oder der Kooperation mit anderen Staaten weitgehend souveräne, d. h. anarchische Akteure – mit immer schrecklicheren militärischen Mitteln. Mit der Eskalation der Konflikte im Zuge einer wechselseitigen Drohpolitik steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Schlichtungs- oder gar Versöhnungsversuche scheitern. Immerhin sind mit den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen ansatzweise Regelungssysteme eingerichtet, die dem Prinzip nach ergänzt und zu einem globalen Recht zusammengefügt werden könnten. Der Erfolg solcher Anstrengungen hält sich aber so lange in engen Grenzen, wie die Sicherheitserwartungen der Menschen sich letztlich vor allem an den eigenen Staat richten, weil internationale Institutionen bisher kaum eigene Machtmittel einsetzen können. Genau dies ist der Kern gegenwärtig zunehmender Konflikte: immer mehr Menschen hoffen, den Problemen und Konflikten der Gegenwart zu entkommen, wenn sie sich auf nationalstaatliche oder ethnische Souveränität zurückziehen. Die Problemlagen und Konflikte sind aber zunehmend globaler Natur. Die Re-Nationalisierung der Politik wirkt als ein sich selbst verstärkender Prozess und verringert dann letztlich die Chancen für alle, mit globalen Herausforderungen fertig zu werden.

Wovon „lebt“ der Rechtsstaat?

Wenn Recht als die Alternative zu Gewalt Bestand haben soll, muss es in gemeinsamer Anstrengung immer wieder aufs Neue hergestellt, gesichert und an neue Konfliktlagen angepasst werden. Darum sind Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte national und international nicht nur Zielzustände, sondern immer auch zu achtende Instrumente gesellschaftlicher Veränderung und Fortentwicklung, mit denen gemeinsame Entscheidungen friedlich ermöglicht und revidiert werden können. Sie nähren sich leider nicht so sehr von vor-konstitutionellen, insbesondere religiösen Traditionen,10) als vielmehr von ihrer Fähigkeit, Krisen zu überwinden, Konflikte zu regulieren und Zukunft zu öffnen. Diese Leistungen sind jedoch labil und gefährdet, weil sie es immer wieder mit neu entstehenden Konflikten aufnehmen müssen. Auch dann, wenn die meisten Menschen ein Interesse an den Leistungen staatlicher und überstaatlicher Institutionen haben, beteiligen sich darum doch nicht alle zuverlässig an den für diese notwendigen Kosten.11) Konflikte, die aus anderen Ländern und Weltregionen hereindrängen, sind von einzelnen Staaten nur begrenzt zu beeinflussen. Eben dies wird aber von den Regierungen oft erwartet. Finanzkrisen, Flüchtlingsströme oder Bedrohungen von außen können daher Ohnmachtsgefühle auslösen. Dann kann der Ruf nach einer wirklich „wehrhaften“ Gemeinschaft erklingen, die von manchen schließlich in einer „ganz anderen“, sprich: autoritären Ordnung gesucht wird.12)

Grundlagen: Soziale Identität und Radikalisierung

Identität(en)

Hängt Radikalisierung auch mit unserer persönlichen Identität zusammen?

In unserem Lebenslauf haben wir vielfältige uns vorgegebene oder von uns aktiv gewählte soziale Zugehörigkeiten. Das Bild, das wir von uns selbst haben, bezieht sich einerseits als „personale Identität“, d. h. auf die Erfahrungen, die wir z. B. mit unserem eigenen Körper und unseren persönlichen Gefühlen gemacht haben, orientiert sich aber andererseits an unterschiedlichen und im Laufe des Lebens wechselnden sozialen Zugehörigkeiten, die für uns wichtig geworden sind. Unsere Identität ist daher von Grund auf vielfältig, oft widersprüchlich und bleibt lebenslang unabgeschlossen. Die Gruppen, denen wir zugehören (oder uns zuordnen) sowie die Stellung, die wir in diesen einnehmen, sind Quellen einer „sozialen Identität“.13) Sie kann sowohl positiv als auch negativ wahrgenommen werden: Man kann stolz darauf sein, „dazu“ zu gehören, oder sich dessentwegen schämen. Dabei spielt die Einschätzung der Gruppe durch Dritte eine Rolle: Man möchte, dass die Gruppe, zu der man gehört, positiv bewertet wird. Erfährt die Gruppe Missachtung, kann dies zu einem negativen Selbstbild, dem Aufbau einer Gegenidentität oder zum Kampf um die Anerkennung der Gruppe führen. Das ist der Grund, warum neben ökonomischer und politischer Benachteiligung auch kulturelle Abwertung von Personen und Gruppen weitreichende Konsequenzen auf die Entstehung und den Verlauf von Konflikten hat.

Wie gehen wir mit der Vielfalt dieser Identitäten um?

Wir können uns in unterschiedlichem Umfang mit einzelnen Anteilen an unserer Identität identifizieren oder von ihnen distanzieren. Amartya Sen, Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 1998, stellt fest: „Die Kategorien, denen wir gleichzeitig angehören, sind sehr zahlreich“. Er zählt für sich selbst über zwanzig bedeutsame Zugehörigkeiten auf.14) Allerdings sind nicht alle möglichen Zugehörigkeiten dauernde Merkmale unserer Identität. Viele sind nur situativ bedeutsam, flüchtig oder peripher und werden eher fallweise zur Selbstbeschreibung verwendet. Manche aber sind biografisch wichtig, weil wir uns mit ihnen in hohem Maße identifizieren oder weil sie uns erst einmal irreversibel auferlegt sind, wie es z. B. mit der Zurechnung zu einem Geschlecht, einer ethnischen Gruppe oder einem Glauben der Fall ist. Sen kritisiert die „Missachtung von Identität“, wenn z. B. in neoliberalen Marktvorstellungen der Gemeinschaftsbezug der Handelnden unberücksichtigt bleibt. Vor allem aber greift er scharf die Vorstellung einer „Singulären Identität“ an, wenn sie unterstellt, „der Mensch gehöre nur einem Kollektiv an, nicht mehr und nicht weniger“15). Im ersten Fall ist für ihn die Gleichsetzung von bloß individuellem Vorteil und rationalem Handeln irreführend („rational fool“); im zweiten Fall besteht für ihn ein enger Zusammenhang zwischen der „Singularisierung“ von Identität und dem Einsatz von Gewalt. Die „solitaristische Reduktion der menschlichen Identität … lässt sich dazu missbrauchen, … Hader zwischen Gemeinschaften zu schüren“.16) „Diejenigen, die Verfolgung und Gemetzel befehligen, kultivieren geschickt die Illusion der singulären Identität, die ihren gewalttätigen Absichten dienlich ist.“17)

Was aber reduziert die Pluralität der Identitäten?

Offen bleibt bei Sen, warum und unter welchen Umständen Zuordnungen zu vielfältigen Kategorien für Menschen Sinn machen und wie dagegen die Beschränkung der Identität auf eine einzige oder alle anderen dominierende Zugehörigkeit zustande kommt. Hier ist sein Argument zu ergänzen: Die Beschränkung der Vielfalt von Identität wird zumeist durch vorgelagerte Konflikte und erst recht durch Gewalterfahrung oder -befürchtung erzeugt. Sie ist also erst einmal Folge des Geschehens und nicht notwendig eine nicht weiter zu hinterfragende Ursache. Sicherlich kann sie von einzelnen Konfliktparteien in Schulungen, Exerzitien und Ritualen eingeübt und in Feindkontakten körperlich fühlbar, erprobt, stabilisiert und gesteigert werden. Und obendrein existiert sie heute auch als individuell wählbares Programm der Identitätsfindung. Was auch immer anfänglich Ursache und was Wirkung war: Zwischen der Konzentration auf eine einzige soziale Identität und der Eskalation von Konflikten besteht eine enge Wechselwirkung, und die dürfte jede politische Radikalisierung vorantreiben.

Die Bevorzugung der Eigengruppe

Gibt es einen „natürlichen“ Egoismus der Gruppe?

In den berühmten „Minimalgruppenexperimenten“ mit Versuchspersonen18) ist eine generelle Tendenz zur Bevorzugung der Eigengruppe zutage getreten – selbst bei Testpersonen, die in den Experimenten einer (sowohl für die Frage der Untersuchung als auch für die Teilnehmenden) völlig irrelevanten Kategorie, d. h. einer „Minimalgruppe“ zugeordnet wurden. Die Ergebnisse zeigen (nach Gertrud Nunner-Winkler19)), dass die Bevorzugung der eigenen Gruppe bereits unmittelbar mit dem Prozess der Kategorisierung, d.h. der begrifflichen Einordnung der Zugehörigkeit, verbunden ist. Das würde bedeuten, dass sie nicht notwendig von einer der Kategorisierung vorausgehenden Ideologie (wie z. B. Rassismus, Nationalismus, Separatismus, Missionsauftrag oder Klassenkampf usw.) verursacht wird. Ohne Zweifel aber kann die Bevorzugung der Eigengruppe mit solchen Ideologien weitergetrieben und gerechtfertigt werden. Gemeinschaften entstehen ganz generell über die Kategorisierung von Zugehörigkeit, die in jeder Gesellschaft vorgenommen wird und für betroffenen Menschen mal mehr, mal weniger wichtig ist. Der historische Prozess der Kategorisierung und die politischen Konsequenzen, die irgendwann aus ihm folgen, hängen indessen nicht notwendig unmittelbar miteinander zusammen. Sie können sogar über Jahrhunderte voneinander getrennt sein. Ein Bespiel dafür: Die christliche Mission der Südslawen sowohl durch West- als auch Ost-Rom hat nach dem Schisma der mittelalterlichen Kirche im Jahre 1054 Religionsgemeinschaften begründet, die sich erst Jahrhunderte später als Völker mit dem Anspruch auf einen eigenen Staat definierten und schließlich als Kriegsgegner auf dem Westbalkan gegen einander antraten.

Ist die Bewertung der „Anderen“ immer negativ?

Nein! Zweifel sind angebracht an der Annahme von Sapolosky, dass bereits die Kategorisierung der Zugehörigkeit negative Bewertungen anderer Zugehörigkeiten impliziere.20) Richtig ist lediglich, dass Vorurteile Kategorien voraussetzen, nicht aber, dass Kategorien bereits negative Urteile beinhalten. Kategorien können sowohl mit positiven, negativen und schließlich auch mit neutralen Erwartungen verbunden sein. Auch unsere Alltagserfahrung spricht gegen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kategorisierung und Abwertung: Die neugierige Frage an einen Fremden: „Woher kommst du?“ ist nicht von vorneherein Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit, sondern kann im Gegenteil ein freundliches Interesse an einem anderen Menschen oder einer anderen Gemeinschaft signalisieren. Die Wahrnehmung einer anderen Kultur kann durchaus zu dem Wunsch führen, deren Lebensformen kennenzulernen und damit den Horizont der eigenen Gemeinschaft durch Alternativen zu erweitern. Franzosen waren für Deutsche nie nur „Erbfeinde“, sondern immer auch Vorbilder in Kunst und Lebensart. Taoistische, buddhistische und sufistische Lehren und Einweisungen werden heute als Wegweiser der persönlichen Entwicklung auch im „Westen“ angenommen. Daraus folgt: Feindschaft und Kampf zwischen den Gemeinschaften sind immer möglich, aber nur selten zwangsläufig. Im Prinzip lassen sich die Beziehungen wechselseitig positiv gestalten.

Wie soll das gehen?

In den Experimentalgruppen Tajfels war die Bevorzugung der Eigengruppe erkennbar mit der Benachteiligung der anderen verbunden. Das war allerdings bereits von der Versuchsanordnung vorgegeben: Die im Experiment zu verteilenden finanziellen Mittel waren knapp und legten daher die Bildung von Präferenzen nahe. Zwischen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Benachteiligung einer anderen stand also die Annahme, dass der Vorteil der einen Seite der Nachteil der anderen Seite sei, dass also – technisch formuliert - ein Nullsummenspiel vorliege, weil Vorteil und Nachteil sich in der Summe aufhebt. In der Realität geht es aber nicht immer um solche „Nullsummenspiele“. Kooperationsanreize wirken, wie Muzafer Sherif in seinen berühmten „Robbers Cave“-Ferienlagern herausgefunden hat.21) Dieses Faktum ist politisch von größter Bedeutung: Auch wenn unter Knappheitsbedingungen die Bevorzugung der Eigengruppe (unabhängig von aller Ideologie) wahrscheinlich ist, sollte daraus nicht gefolgert werden, dass man „ja doch nichts tun“ könne. Politik ist immer auch die Kunst, solche Nullsummenspiele aufzulösen, übergeordnete Gesichtspunkte „ins Spiel“ zu bringen und Kompromisse auszuhandeln. Wichtig für diesen Prozess der Konflikttransformation sind diejenigen, die als „Unparteiische“, als Vermittler oder Schlichter gruppenübergreifende Gesichtspunkte stark machen können oder gar Prämien für Kooperation vergeben können, wie es die Europäische Union zur Beendigung des Bosnienkriegs (bisher) erfolgreich getan hat.

„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“ – diese These gilt nur dann, wenn man die provozierenden Forderungen von Jesus auf die persönlichen Haltungen reduziert, die sicherlich allzu oft ohnmächtig bleiben. Wenn man sie indessen als Auftrag nimmt, politische Ordnungen so zu gestalten, dass über einzelne Gemeinschaften hinweg Solidarität entsteht und Nullsummensituationen zwischen ihnen überwunden werden, können sie durchaus zur Leitlinie von Politik werden. Bereits das biblische Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ erzählt nicht so sehr von der Liebe zu den „Nächsten“, sondern gerade von der Überwindung ethnischer und religiöser Grenzen, die Juden und Samariter voneinander trennten. Dann wird die Nächstenliebe, die sich in der Eigengruppe realisiert, nicht aufgelöst, aber in Notsituationen auch zu Gunsten von „Fremden“ erweitert, die „unter die Räuber gefallen“ sind. Das bevorzugende Interesse an der eigenen Gruppe zählt nach wie vor, reicht aber nun als „wohlverstandenes“ Eigeninteresse weiter – vor allem, wenn Institutionen der Konfliktregelung strukturell eingebaut sind. Dies ist in der internationalen Politik nach dem zweiten Weltkrieg im Westen besser gelungen als dreißig Jahre zuvor, als im Versailler Vertrag von 1919 der Gewinn der Sieger am Verlust der Verlierer gemessen wurde. Unsere Aufmerksamkeit sollte daher den Konflikten gelten, in denen Nullsummenannahmen wirksam sind und in Feindschaft umschlagen können. Konfliktpunkte sollten dann nicht aus Sorge um die Entstehung von Vorurteilen verschwiegen, sondern benannt und bearbeitet werden.

Können wir aus Kleingruppenexperimenten überhaupt etwas für die große Politik lernen?

Die in den experimentellen Kleingruppen belegte Tendenz, die eigene Gruppe zu bevorzugen, dürfte jedenfalls auch für „vorgestellte Gemeinschaften“, „Großgruppen“ und „Kollektive“ gelten, die ganz selbstverständlich den Anspruch auf die Solidarität ihrer Mitglieder erheben. Die Daten der evolutionsbiologischen, neurologischen und sozialpsychologischen Forschung stimmen darin überein, dass die kognitiven Prozesse universal sind, mit denen die Grenzziehung von „Wir“ und „Sie“ vorgenommen wird, und zwar unabhängig davon, auf welche Gruppengröße und Merkmale sie sich bezieht. „Zahlreiche Experimente bestätigen, dass das Gehirn in Millisekunden Bilder auf der Grundlage von minimalen Hinweisreizen bezüglich Rasse oder Geschlecht verarbeitet“.22) Anders verhält es sich mit dem inhaltlichen Sinn, der einer Differenz und den Möglichkeiten der Verständigung zwischen den Gruppen beigemessen wird: Sie sind Ergebnisse von jeweils besonderen geschichtlichen Prozessen. Darum können sie auch aktiv gestaltet werden, auf welcher Ebene auch immer.

Wenn sie allgemein menschlich sind, ist doch zu fragen: Was leisten Gemeinschaften für ihre Mitglieder?

Eine Erklärung der anthropologisch feststellbaren Bevorzugung der eigenen Gruppe schlägt der Politikwissenschaftler Russel Hardin 199523) vor. Er verweist auf den „epistemologischen Komfort“ von Gemeinschaften, in denen es immer schon ein gemeinsam geteiltes Wissen gibt. Mit ihm wird die Welt vertraut, in Grenzen vorhersehbar und garantiert ein gewisses Maß an Handlungssicherheit. Die Muster der wechselseitigen Erwartungen sind in ihm kulturell gespeichert: Wer in einer Gruppe „drin“ ist, kennt sich aus und weiß, was auf ihn oder sie zukommen kann. Gegenüber Fremden ist dies zunächst nicht der Fall. Darum ist man oft erst einmal vorsichtig. Nicht nur eine erkennbare Gefahr, sondern schon die Angst, eine eventuelle Gefahr nicht zu erkennen, kann die Abwehr von Fremden zur Folge haben, wie wir alle im Urlaub in fernen Ländern erfahren haben. Es kann dann naheliegen, die eigene Gruppe und ihre Gemeinsamkeit für die bessere zu halten und andere Gruppen abzuwerten. Das was in der eigenen Gruppe „selbstverständlich“ gilt, erscheint dann als das, was generell so sein sollte. Hardin bezeichnet diesen Ethnozentrismus als „is to ought fallacy“, d. h. als „naturalistischen Fehlschluss“.

Gilt das auch für vorgestellte Gemeinschaften?

Auch sie leben von der Unterscheidung von „Wir“ und „Sie“. Die Sinnstiftung, die bereits durch die bloße Idee der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entsteht, geht bei ihnen über den oben genannten „epistemologischen“ d. h. wissensmäßigen „Komfort“ weit hinaus, insbesondere, wenn sie im Kampf mit anderen gesehen wird. Weil wir „Bewohner“ einer nicht nur überlieferten, sondern von uns selbst immer auf neue ideell erzeugten Welt sind, lassen wir uns von Ideen ergreifen. Viele unserer Lebensprobleme sind nur kollektiv, d. h. gemeinsam zu lösen. Nicht nur Egoismus, sondern auch Altruismus, d. h. Uneigennützigkeit ist darum menschlich und orientiert sich zumeist an den Gemeinschaften, denen wir uns zurechnen. Alle religiösen und politischen Gemeinschaften setzen in ihren Ursprungs- und Zukunftsmythen auf die Wirkmacht der Unterscheidung von „Wir“ und „Sie“. Sie nutzen damit das Vertrauen und die Energien, die in der Identifikation mit dem „Wir“ freigesetzt werden und können dadurch Erträge realisieren, die vereinzelten Individuen verwehrt blieben. Dabei richten sich die Hoffnungen nicht nur auf bestehende Gemeinschaften, sondern auch auf „noch“ unrealisierte Gemeinschaften, die z. B. in verschiedenen religiösen, ethnischen, separatistischen, kommunistischen und anarchistischen Zukunftsentwürfen ausformuliert werden. Und immer mehr Menschen hoffen auf eine demokratische und offene Welt, die die gemeinschaftlichen Lebensbedingungen respektiert und sichert.
Wir müssen also zu dem Schluss kommen: Menschen leben in Gemeinschaften und können sich diese auch dann als ihre Realität vorstellen, wenn sie nicht unmittelbar gegenwärtig sind. Die Frage kann also nicht sein: „Gemeinschaft – ja oder nein?“, sondern muss vielmehr lauten: „Wie können Gemeinschaften davor bewahrt werden, sich selbst zu verabsolutieren oder sich in Kriege mit anderen zu verwickeln?“. Und wie lässt sich sicherstellen, dass sie dennoch Krisen bewältigen und ihre Mitglieder zu den Leistungen motivieren, die nur gemeinschaftlich erbracht werden können?

Zwischen Solidarität und Feindschaft: Übergänge und Kipp-Punkte

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Gruppensolidarität und Feindschaft?

Ob ein Baum gefällt, ein Tier geschlachtet oder ein Mensch getötet werden darf, wird letztlich nicht durch „Instinkte“ vorgegeben, sondern ist in der symbolischen Ordnung von Gemeinschaften über Traditionen, Tabus oder Gesetze verankert. Mit der Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften wird auch darüber entschieden, wer von den gemeinschaftsbezogenen Bereitschaften der Menschen begünstigt, wer bei knappen Ressourcen ausgeschlossen und wer im Konfliktfall als Feind bekämpft wird. Konflikte erzeugen oder verstärken solidarische Gemeinschaftsvorstellungen auf beiden Seiten. Die Solidarität mit den Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, also die „Nächstenliebe“ der Bibel, gehört als „positive Pflicht des Sollens“ zu den vornehmsten Bereitschaften des Menschen als einem sozialen Wesen. Daneben gibt es aber in vielen Kulturen auch die „negative Pflicht des Nichtsollens“ im Sinne des Gebotes: „Du sollst nicht töten!“ Sie gilt auch gegenüber Menschen, die nicht der gleichen Gemeinschaft angehören.24) Diese beiden Gebote können in Widerspruch zueinander geraten. In der Erfüllung der positiven Pflichten gegenüber unseren „Nächsten“ kann im Konfliktfall die „negative“ Pflicht, andere nicht zu schädigen, außer Kraft gesetzt werden. Bereits die Radikalisierung der Vorstellung von einer nachbarschaftlichen, ethnischen, religiösen oder nationalen Gemeinschaft kann zu dem Wunsch nach Homogenisierung führen, aus dem dann die Diskriminierung, Vertreibung oder gar Ausrottung derer erwächst, die nicht „dazugehören“ (sollen) und ebenso der Wunsch nach „Irredenta“, also dem kriegerischen Anschluss von Gebieten, auf denen „Zugehörige“ leben.

Gibt es Kipp-Punkte, an denen Solidarität in Feindschaft umschlägt?

Die Solidarität mit der Eigengruppe schlägt spätestens dann in Feindschaft gegen eine andere Gruppe um, wenn Menschen zu der Überzeugung kommen, von dieser benachteiligt, entwürdigt oder angegriffen zu werden. Wann ein solcher Kipp-Punkt jeweils erreicht wird, ist jedoch selten eindeutig vorhersehbar. Die Reduktion der wahrgenommenen Lage auf eine klare Unterscheidung von „Freund und Feind“ hilft in jedem Fall, mit der Ungewissheit umzugehen, verschärft aber gleichzeitig den Konflikt. Oft entstehen in dieser Lage Verschwörungstheorien und liefern scheinbar „Schuldige“. Sie suggerieren gleichzeitig einen unausweichlichen Kampf, in dem dann die Sorge um das Eigene den Angriff auf das Andere rechtfertigt. Wenn die Sicht der Welt einmal auf Freund und Feind, Hell und Dunkel reduziert ist, werden vertrauensbildende Maßnahmen schwierig und offene Feindseligkeiten wahrscheinlich. Schon lange, bevor es zu Katastrophen kommt, wird die Dramatisierung der Lage betrieben, um das Drohpotenzial in einem Machtpoker zu erhöhen und/oder zusätzliche Solidarität zu mobilisieren. Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist darum die Realität nur schwer von Fiktion zu unterscheiden.25) Je unübersichtlicher die Zusammenhänge sind und je dramatischer die befürchteten Folgen eines bevorstehenden Kampfes eingeschätzt werden, umso eher breiten sich Angst und Paranoia aus.

Lässt sich das an Beispielen erläutern?

Die „Macht der Wir/Sie-Bildung“ (Sapolsky) hat auch außerhalb Europas schreckliche Folgen gehabt. Die Teilung Indiens im Jahre 1947 war zur Vermeidung ethnisch-religiöser Konflikte geplant, hat aber sofort ein Blutbad, Vertreibungen und endlose Flüchtlingsströme ausgelöst, weil es jetzt für viele um eine (und nur eine) dauerhafte Zugehörigkeit ging.

Die Auflösung Jugoslawiens im Jahre 1990 hat in kleinerem Rahmen eine ähnliche Entwicklung zur Folge gehabt. Es kam jetzt darauf an, Land für die eine oder andere Seite zu sichern und eine zuvor schon entschwundene ethnische bzw. religiöse Homogenität wieder zu beleben. Beides waren Konfliktsituationen, in denen es den Beteiligten um „jetzt oder nie“, und um „alles oder nichts“ zu gehen schien.

In Ruanda verwandelte die Klassifikation durch die deutschen und belgischen Kolonialherren die „Tutsis“ und die „Hutus“ von Berufsständen als Rinderzüchter und Ackerbauern in „Völker“, die den Spekulationen europäischer Rassetheoretiker entsprachen, obwohl es keine religiösen, kulturellen oder sprachlichen Differenzen gab. Aus den Tutsis wurden dann die Könige und Oberhäupter in einem System „indirekter Herrschaft“ rekrutiert. Die „Zugehörigkeit“ zu dem einen oder dem anderen Volk wurde anhand der Zahl der Rinder im Besitz der Familie entschieden und im Ausweis vermerkt. Die Kolonisierten nahmen diese Definition an und fügten anatomische Merkmale, wie Körpergröße und Nasenform hinzu. Als nach dem Ende der Kolonialherrschaft das Land knapp und die Verfügung über die Erträge der Staatsmacht immer wichtiger wurde, begann der Bürgerkrieg und steigerte sich 1994 zu einem präzise vorbereitetem Genozid – dem vor allem Tutsis, aber auch Hutus zum Opfer fielen, die sich ihm entgegenstellten.

Sapolsky befasst sich aus evolutionsbiologischer Sicht mit dieser Dynamik und sieht – ähnlich wie Sen – die fundamentale Gefahr: „Wir können anhand logischer Überlegungen entscheiden, wer ein Verwandter, ein „wir“ ist. Dadurch können wir (…) in unserem Denken manipuliert werden, sodass wir meinen, einige Individuen seien mehr oder weniger mit uns verwandt, als es tatsächlich der Fall ist (…). Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, jemanden dazu zu bringen, dass er denkt, ein anderer sei so verschieden, dass er kaum als Mensch zähle“.26) Mit einer solchen Kategorisierung können starke und negative Gefühle verbunden sein oder verbunden werden. Dies erfolgt insbesondere durch Einbeziehung des „Insellappens“, der im Gehirn Ekelgefühle produziert und durch entsprechende Metaphern aktiviert werden kann: „Metaphern, die dann töten können“.27) Heute sind dafür „Zecken“, „Bullenschweine“, „braune Küchenschaben“, „Infektion“, „links versifft“ usw. im Gebrauch.

Auf welchem Prozess beruht demgegenüber Kooperation?

Die von Sapolsky angeprangerten Konsequenzen der Grenzziehung zwischen Gemeinschaften sind im Krisen- oder Konfliktfall wahrscheinlich, aber keineswegs zwangsläufig. Wir alle gehören Gemeinschaften an, die sich von anderen abgrenzen, und ziehen Lebenssinn, Lebensglück und notfalls auch Solidarität und Sicherheit aus ihnen. Wenn damit immer schon die Missachtung oder gar die Bereitschaft zur Vernichtung der anderen verbunden wäre, würden wir in dauernden Fehden mit anderen Solidargemeinschaften leben – und schließlich auf Blutrache setzen, wie sie in staatsfernen Gesellschaften geübt wird. Wohnhäuser würden wieder zu Festungen aufgemauert. Manche mögen sich das wünschen, weil der heroische Kampf selbst es ist, der sie stimuliert und in dem sie ihre Bestimmung sehen, andere denken eher an die Opfer solcher Kämpfe. Daher kommt es für sie darauf an, dass sich mit der eigenen Gemeinschaft auch Toleranz und Respekt vor anderen Zugehörigkeiten verbinden lässt, Kompromisse angestrebt,28) Konflikte geschlichtet oder gerichtlich geklärt werden, bevor es um Leben oder Tod geht. Das ist allerdings zu Beginn nicht einfach eine Frage der richtigen Gesinnung und schon gar nicht der menschlichen Natur, sondern hat seine eigenen Vorrausetzungen in der Beziehung zwischen potenziellen Gegnern. Diese Voraussetzungen sind in der Spieltheorie getestet worden.29) Es geht um Vertrauen, und dieses basiert letztlich auf der wiederholten Erfahrung, dass Vorleistungen wechselseitig positiv beantwortet werden. Wie schwierig solch eine Vertrauensbildung sein kann, haben wir nicht nur bei der Eindämmung des Ost-West-Konflikts durch vertrauensbildende Maßnahmen und ihre Institutionalisierung in der OSZE erlebt, sondern können es auch gegenwärtig in der europäischen und internationalen Politik erkennen. Dort, wo sie scheitert, liegt der Rückzug auf die vermutete Sicherheit in der jeweils kleineren Gemeinschaft, also heute in dem Nationalstaat nahe. Dort, wo auch Staaten scheitern, kommt es zum Rückzug auf Stämme, Banden, Syndikate und die Herrschaft von Warlords, d.h. Kriegsherren, wie in den Balkankriegen der Neunzigerjahre oder heute in Somalia und Libyen. Dieser Rückzug auf die kleinere Gemeinschaft kann allerdings auch zum identitären Programm werden. Wer eine Kampfgemeinschaft aufbauen will, um einem heroischen Männerbild zu entsprechen, hat in der Regel nicht nur einen Feind, sondern sucht und findet ihn.

Was haben politische Verbrechen mit der Wir/Sie-Spaltung zu tun?

Die Völkermorde des zwanzigsten Jahrhunderts sind jedenfalls „für“ vorgestellte Gemeinschaften begangen worden, die es in der Wahrnehmung der jeweiligen Akteure zu retten galt oder denen zum „Endsieg“ verholfen werden sollte. Aus ehemaligen Solidargemeinschaften in Notzeiten wurden mit der Annahme unausweichlicher und unüberbrückbarer Konflikte Kampfgemeinschaften, die glaubten, andere besiegen oder vernichten zu müssen. Diese Zusammenhänge „entschuldigen“ nicht die Urheberinnen und Urheber der daraus folgenden Taten, verdeutlichen jedoch die Definitionsprozesse, die Menschen zu Tätern und Opfer bestimmen. Damit unsere Welt nicht auf einen Kampf zwischen Licht und Finsternis zurückfällt, hilft nur die Wertschätzung der Vielfalt von Gemeinschaften, die gegenseitige Achtung von Unterschieden, und international die Vermittlung und Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen – und letztlich die Geltung rechtlicher Regeln unter polizeilichem bzw. militärischem Schutz.

Partikularistische Orientierungen und Kampf

Wie wirkt ein Konflikt zwischen Gruppen innerhalb der Eigengruppe?

In der Soziologie spricht man von „partikularistischen“ und „universalistischen“ Orientierungen. Partikularismus bedeutet, dass persönliche Beziehungen und auch die Angehörigen der eigenen Gruppe Vorrang vor anderen Beziehungen haben, während Universalismus die Gleichbehandlung von Menschen ohne Ansehen spezieller Freundschaftsbeziehungen oder Gruppenzugehörigkeit bezeichnet. Traditionelle Gesellschaften sind eher auf partikularistischen Orientierungen aufgebaut, Rechtsstaaten unterscheiden dagegen zwischen einer nach partikularistischen Orientierungen aufgebauten „privaten“ Sphäre, die eigens geschützt ist und einem öffentlichen und beruflichen Raum, in dem universalistische Normen gleiche Rechte und Pflichten für alle Bürger einfordern. Vereine und Parteien bilden Mischsysteme, die in der politischen Willensbildung eine „Schleuse“ zwischen den Sphären bilden.

Partikularistische Solidarität bedeutet immer Abgrenzung nach außen. Diese kann im Konfliktfall gesteigert werden, was dann auch im Inneren einer Gruppe erhebliche Konsequenzen haben kann: Eine als feindlich oder gefährlich wahrgenommene Außenwelt führt intern zu verstärktem Konformitätsdruck und bestimmt dann z. B. auch die Vorgaben in der Erziehung der Kinder. Nicht nur fallweise Loyalität, sondern auch Gehorsam, Wahrung der Gruppengrenzen, die Meidung von persönlichen Beziehungen, von Freundschaften oder gar von Heiraten über Gruppengrenzen hinweg sind Konsequenzen, die aus einer wahrgenommenen Bedrohung der eigenen Gruppe folgen. Sie werden dann als moralisch selbstverständlich angesehen und zudem mit einer Definition des besonderen „Wesens“ der jeweils zu verteidigenden Gemeinschaft befestigt. Was heute als Autoritarismus, d. h. als Wertschätzung von Befehl und Gehorsam gilt, ist von der Kritischen Theorie benannt und vermessen und vor allem über Familiendynamik erklärt worden. Diese ist aber ihrerseits erklärungsbedürftig. Aus der Sicht der Konfliktsoziologie dürften autoritäre Strukturen mit der Wahrnehmung von externer Bedrohung zusammenhängen. Das Patriarchat, d. h. die Herrschaft des Vaters über die Sippe ist besonders dort verbreitet, wo Männer von klein auf lernen, ihre Familien, ihre Frauen, ihre Verwandtschaft und ihre Nachbarschaft verteidigen zu müssen. Und das ist so lange der Fall, wie es kein staatlich gesichertes Recht gibt, das Konflikte regulieren kann. Daher sind Bedrohungsszenarien und nicht Religionen letztlich die Ursache des Patriarchats. Religionen können allerdings eine solche Ordnung sakralisieren und dann über Jahrtausende hinweg weitergeben. Heroische Identifikationen, autoritäre Erziehung und Gewaltkonflikte verstärken sich dann in einem Zirkel: Geschichte schrumpft zur Kriegsgeschichte.

Bestätigen sich partikularistische Orientierungen in feindlichen Gruppen also wechselseitig?

Die „Binnenmoral“ (Max Weber), die auf diese Weise erzeugt wird, macht den Ausschluss und die Abwertung anderer Gruppen wahrscheinlich, selbst wenn diese einer ähnlichen Orientierung folgen. Furcht, Hass und Wut auf die anderen werden dann gut geheißen. Rasch kann es zur Gewaltanwendung kommen, die sich angesichts der Schutzbedürfnisse auf beiden Seiten zumeist durch die Überzeugung legitimiert, den Gegnern zuvorkommen zu müssen. Hardin beschreibt dies anhand der Balkankriege der Neunzigerjahre, als nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens mit den territorialen Fragen zuvor schon verblassende Volkszugehörigkeiten ideologisch bedeutsam wurden. In solchen Konflikten kann schließlich auch der Universalismus als solcher zum Feindbild werden: Kommunisten bekämpften den Kosmopolitismus, der in ihren Augen den „Klassenstandpunkt“ vermissen ließ, rechtsradikale antiuniversalistische Denker der Zwanzigerjahre sahen im „westlichen Liberalismus“ den Erzfeind nationaler und persönlicher Identität. In neurechten Programmschriften wird erneut die Geltung der Menschenrechte infrage gestellt.

Universalistische Orientierungen

Wie kommt es dann überhaupt zu universalistischen Orientierungen?

Universalismus ist historisch das Ergebnis der Verallgemeinerung ethischer Gebote. Mit ihm erweitert sich der Raum, in dem Gerechtigkeit gefordert wird. Eine klassische Formulierung dafür ist der kategorische Imperativ von Immanuel Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime,30) durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wenn Gleichbehandlungsnormen persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen überschreiten, werden sie die Basis von unparteiischem Recht und moderner Verwaltung. Ihr Zustandekommen ist jedoch voraussetzungsreich. Oft sind es Kooperationen und Bündnisse gegen Dritte, die zur Ausbildung gemeinschaftsübergreifender Perspektiven geführt haben. Die Relativierung von Gruppennormen zugunsten der Gleichbehandlung aller Menschen dürfte besonders von Personen vertreten werden, die unter dem Anpassungsdruck in ihrer Gruppe leiden. Diskriminierte Gruppen fordern daher häufig Gleichbehandlung nach universalistischen Kriterien ein, verstärken aber gleichzeitig ihre eigene partikularistische Orientierung als Schutzfaktor. Historisch und ethnologisch gesehen hat in vielen Fällen erst die Vermittlung oder das zuvor vereinbarte Mandat unparteiischer Schlichter und Schiedsrichter aus dem Zirkel feindseliger Erwartungen herausgeführt.

Einen universalistischen Schub lösen auch Bildungsprozesse aus, die über die jeweiligen Herkunftsgruppen hinausführen; sowie Berufe, die nicht ererbt, sondern über Leistungen oder Qualifikationsnachweise erworben werden müssen. Mit ihnen entsteht Raum für die Universalisierung von Zugehörigkeiten. Die hat sich aber nur langwierig und konfliktreich durchsetzen können, wie sich beispielsweise am Wahlrecht für die afroamerikanische Bevölkerung in den USA und für die Frauen in Deutschland und schließlich auch der Schweiz gezeigt hat. Universalismus ist also alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Er ist zwar in seinem Ursprung keine Erfindung der Moderne. Missionierende Weltreligionen verkündeten seit jeher, dass alle Menschen vor Gott gleich seien und die Nachfolge im Glauben gegenüber den verwandtschaftlichen Bindungen Vorrang habe. Als Fundament des Rechtsstaates ist Universalismus jedoch eine der bedeutendsten Erfindungen der neueren Geschichte. Umstritten ist jedoch sein jeweiliger Geltungsbereich in und über die Staaten hinaus.

Was leisten universalistische Orientierungen für das Zusammenleben?

Weite Bereiche moderner Gesellschaften werden heute durch überpersönliche Normen geregelt. In Justiz, Verwaltung, Schule, medizinischer Versorgung und Sozialhilfe haben jede Frau und jeder Mann erst einmal Anspruch auf Behandlung nach sachlichen Gesichtspunkten. Darum trägt „Justitia“ bereits als römische Göttin der Gerechtigkeit eine Binde vor den Augen. Der Aufbau administrativer Strukturen, die „ohne Ansehen der Person“ (genauer: der freundschaftlichen, verwandtschaftlichen oder ethnischen Zugehörigkeiten der Person) funktionieren, ist zentral für Prozesse der Modernisierung und letztlich auch für individuelle Freiheitsrechte. Er stößt freilich in all den Gesellschaften auf Schwierigkeiten, in denen die Lebenslage nach wie vor über verwandtschaftliche Loyalitäten bestimmt wird und „Vetternwirtschaft“ daher keineswegs als Abweichung geächtet, sondern als Erfüllung von geschuldeter Solidarität eingefordert wird. Partikularismus erschwert damit den Aufbau von moderner Verwaltung und Justiz. Die aber sind letztlich das Fundament der Freiheit der Bürger.

Kann auch Universalismus zur Gefahr werden?

Das universalisierende, also eher induktive Vorgehen, das Kant vorgeschlagen hat, nämlich nach den „Maximen“ des Handelns zu fragen und diese dann auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit zu prüfen, ist erst einmal geeignet, eine verantwortungsvolle Praxis anzuleiten. In den Deduktionen, d. h. den Ableitungen von einmal akzeptierten allgemeinen und daher eher abstrakten Prinzipien liegt aber eine neue Gefahr. Robespierre machte mit seinem Versuch, „Tugend“ durch „Terreur“ zu erzwingen, den Anfang. Auch heute noch können Prinzipien, die im generellen sinnvoll sein mögen, bestehende Lebenszusammenhänge und deren Eigenrecht überwältigen, wenn diese sich nicht einfügen lassen. Dies kann zum Problem werden überall dort, wo universalistische und partikularistische Orientierungen in ihrem jeweiligen Eigenrecht aufeinandertreffen – wie sich beispielsweise an Konflikten um Schule und Stadtplanung zeigen ließe.

In der neueren Geschichte konnten gerade auch im Namen universalistischer Werte exklusive Gemeinschaften begründet werden, die dann mit einem allgemeinen Geltungsanspruch umso unerbittlicher gegen Dissidenten vorgingen – bis dahin, dass Scheiterhaufen entzündet, Guillotinen errichtet und Massengräber ausgehoben wurden. Im zwanzigsten Jahrhundert ist es dann zum fatalen Siegeszug von Ideologien aus dem neunzehnten Jahrhundert gekommen, die in der Durchsetzung ihrer jeweiligen Ableitungen aus allgemeinen Prinzipien zuletzt keinen Widerspruch mehr zuließen und „Parteilichkeit“ zum obersten Gebot erhoben. Diese historischen Erfahrungen haben seit der französischen Revolution deutlich gemacht, dass auch die Universalisierung von Moral immer in Gefahr ist, sich selbst aufzuheben. Wenn die Schlussfolgerungen aus mehr oder minder abstrakten Prinzipien über eine begrenzte Kernmoral hinausgehen und zugleich ein unbeschränktes Gestaltungsmandat legitimieren, schwindet der Respekt vor abweichenden Lebensformen und deren jeweiligem Eigenrecht. Radikalisierung kann also sowohl auf dem Widerstreit partikularer Loyalitäten als auch auf der immerwährenden Versuchung beruhen, allgemeine partikularistische oder universalistische „Prinzipien“ ohne Rücksicht auf eigensinnige oder widerständige Lebenszusammenhänge durchzusetzen.

Verläufe

Emotionen und Erzählungen

Welche Rolle spielt die Stimulation durch Kampf für die Radikalisierung?

Die Emotionen, die mit der Unterscheidung von „Wir“ und „Sie“ verbunden sein können, kennen wir alle von den Wettkämpfen im Sport. Wir zahlen viel Geld, um uns im Stadion oder vor dem Fernseher in Spannung, „Fieber“, Angstlust, Mut, Wut oder Siegestaumel versetzen zu lassen. Die Informationen über Wettkämpfe machen – geschätzt – ein Drittel aller gesendeten Nachrichten aus. So lange das Spielfeld abgezirkelt ist, so lange ein Schiedsrichter sich auf dem Platz halten kann und so lange Siege und Niederlagen immer wieder neu ausgekämpft werden, ist es „nur ein Spiel“, selbst wenn gewaltige Polizeiaufgebote notfalls dafür sorgen müssen, dass es dabei bleibt. Wir sehen schon im Stadion: Starke Emotionen werden sorgfältig sowohl von den Veranstaltern als auch von „Ultras“ inszeniert und lassen sich dann nur schwer eingrenzen.

Die in der menschlichen Natur verankerte Dynamik, dass Emotionen nicht nur erlitten, sondern auch herbeigesehnt und gesucht werden, wirkt auch in den Auseinandersetzungen zwischen politischen Gemeinschaften, kann aber deren Radikalisierung insgesamt nicht erklären. Loyalität und Solidarität mit den Gemeinschaften, denen wir angehören, sind Teil der sozialen Verantwortung und der politischen Beteiligung eines jeden Bürgers und daher unerlässlich und anerkennenswert. Eben darum müssen Menschen reagieren, wenn sie ihre Gemeinschaften bedroht sehen. Viele erhöhen dann ihren Einsatz und reduzieren gleichzeitig die Wichtigkeit anderer Zugehörigkeiten – und das heißt: Sie radikalisieren sich. Ihre Solidarität, ihre Identifikation und ihre Opferbereitschaft konzentrieren sich auf die Konflikte, in denen ihre Gemeinschaft sich befindet. Es ist allerdings nicht nur die Bedrohung, sondern auch die Selbstüberschätzung (und besonders die Abfolge von Bedrohung und neu erwachter Stärke), mit der in kollektivem Größenwahn verderbenbringende Kriege angezettelt werden.

Welche Legitimationsmuster, d. h Rechtfertigungen, werden für Kampf und Krieg eingesetzt?

Es entstehen „Narrative“, d. h. Erzählungen, die den jeweils gegenwärtigen Kampf mit einer überzeitlichen Bedeutung rahmen. Drei mythische Begriffe: Ursprung, Entscheidungskampf und Zukunft einer Gemeinschaft bestimmten auch im zwanzigsten Jahrhundert als geschichtsphilosophische Modelle unser Schicksal. In allen wirkmächtigen Ideologien werden Vorstellungen über Ursprung und Ziel vorgestellter Gemeinschaften entwickelt und mit den aktuellen Erfordernissen des Kampfes verknüpft.31) Einige Beispiele: Eine heldenhafte Vergangenheit wird mit der Aussicht auf die künftige Herrschaft eines Volkes in einem Lebensraum verbunden, der aber zuerst (zurück-) erobert werden müsse. Oder: Die Herrschaftsfreiheit einer „Urgesellschaft“ werde nach der Revolution und einer sozialistischen Transformationsphase auf der Grundlage voll entfalteter Produktivkräfte wiederkehren. Oder: Nur ein Kalifat und ein Leben nach den Regeln der ersten Generationen der Muslime könnten den Entscheidungskampf gegen den liberalen und dekadenten Westen gewinnen und die Gebote Allahs zugunsten aller wahrhaft Gläubigen durchsetzen. Gemeinsam ist all diesen Erzählungen der Glaube an die Wiederkehr einer ursprünglichen Einheit auf höherer Ebene. Diese Wiederkehr, so wird verkündet, werde sich jedoch nicht von selbst vollziehen, sondern müsse in einem entbehrungsreichen und zwangsläufig gewalttätigen Entscheidungskampf durchgesetzt werden. Dafür werde die Opferbereitschaft von allen Angehörigen der Gemeinschaft gebraucht – und darum müssten andere Loyalitäten und entgegenstehende moralische Bedenken zurücktreten.

Radikalisierung und totalitäre Herrschaft

Wohin kann eine solche Radikalisierung führen?

Das zwanzigste Jahrhundert war durch die Radikalisierungsideologien Faschismus und Nationalsozialismus einerseits und Kommunismus und Bolschewismus andererseits geprägt, die bis heute noch die beiden Pole auf der linearen Extremismusskala markieren. Mit der Auflösung des Ostblocks hat das geschichtsphilosophische Narrativ des Kommunismus seine Überzeugungskraft verloren. Damit wird die Parallelisierung von "linksextrem" und "rechtsextrem" zunehmend inhaltsleer. Nichtsdestoweniger lassen sich an der historischen Entwicklung von Nationalsozialismus und Bolschewismus immer noch Prozesse und Ergebnisse aufzeigen, denen auch heute Bedeutung zukommt: Institutionen einer internationaler Konfliktregelung werden zerstört, antiuniversalistische Radikalisierung schreitet voran, autoritäre Führerstaaten breiten sich aus. Strukturen, die bereits Hannah Arendt und Carl J. Friedrich32) an der Herrschaft des Nationalsozialismus und des Bolschewismus hervorgehoben haben, sind mit dem „IS“ erneut zutage getreten.33) Angesichts solcher Zeichen an der Wand kommt es darauf an, die Lehren des 20. Jahrhunderts im Blick zu behalten.

Radikalisierung vollzieht sich erst einmal in kleinen Schritten: Die Grenzziehung zu gegnerischen Gruppen wird verschärft, Gesprächsangebote werden abgelehnt, Konfrontationsereignisse werden geplant und Kompromisse ausgeschlossen. Kontrastverschärfung ist ein Mittel der Konflikteskalation. Perspektivenübernahme reduziert sich mehr und mehr auf die Ausforschung oder die Übernahme geeigneter gegnerischer Strategien.34) Sachargumente werden irgendwann nicht mehr inhaltlich diskutiert, sondern von vornherein als parteiisch abgewertet – z. B. einer „bürgerlichen“ Wissenschaft zugerechnet, als Erfindungen einer „Lügenpresse“ verneint oder gar einer „jüdischen Weltverschwörung“ zugeschrieben. Zentrale Kampfbegriffe müssen genutzt werden: Wer sie nicht verwendet, macht sich bereits verdächtig. Wer unentschieden ist, verfängt sich rasch in Sprachfallen, weil er oder sie den gebotenen Zungenschlag oder die erwarteten Bekenntnisse vermissen lässt. Das Weltbild wird abgedichtet: Wer sich der vorgesehenen Scheidung von Gut und Böse verweigert, gehört bereits zum Feind. Auch die zunächst bereitwillig geleistete und dann immer schon erwartete Solidarität auf der eigenen Seite wird schließlich mit Drohungen erzwungen.

Ist das der Weg in den totalen Staat?

Irgendwann wird die Integrität auch von Rivalen in den eigenen Reihen infrage gestellt. Ideen von einem Überlebenskampf, die zunächst zur Mobilisierung der Zögerlichen und zur Motivation der Kämpferinnen und Kämpfer eingesetzt wurden, dienen schließlich als Legitimation, diejenigen als „feindliche Agenten“ zu liquidieren, die sich nicht rechtzeitig unterworfen haben. Es treten so die Konturen zutage, die im Falle eines Sieges eine Zwangsherrschaft begründen. Wer den Versuch unternimmt, aus den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts Muster der politischen Radikalisierung herauszuarbeiten, kommt zu dem Schluss, dass es weniger die ursprünglichen Ideale der Akteure, sondern die Formen des politischen und militärischen Kampfes waren, die am Ende das Ergebnis bestimmten. Totalitäre Herrschaft entsteht als ein auf Dauer gestellter Bürgerkrieg.

Sind Nationalsozialismus und Kommunismus nicht ganz gegensätzliche Phänomene gewesen?

In ihren ideologischen Grundlagen sicherlich. Die sollen hier auch keineswegs gleichgesetzt werden. In ihrem Versuch, ihre jeweiligen Vorstellungen zu verwirklichen, haben sich jedoch jeweils Strukturen durchgesetzt, die einander durchaus ähnlich waren. Und gerade das ist lehrreich. Im Nationalsozialismus hat Hitler von Beginn an nicht nur eine exklusive völkische Solidarität propagiert, sondern auch seine antiuniversalistischen Ziele, seinen eliminatorischen Antisemitismus und seinen Glauben an Gewalt deutlich erklärt. Das Unvorstellbare wurde aber von vielen, die anfangs noch glaubten, einer Solidargemeinschaft ihres Volkes beistehen zu müssen, nicht ernsthaft für möglich gehalten – bis die Machtverhältnisse unumkehrbar waren. Und genau diese Selbsttäuschung sollte uns heute ein Warnung sein: Alle, die nicht zur völkischen Gemeinschaft gehören sollten, wurden verfolgt, umgebracht oder vertrieben. Gegnerinnen und Gegner wurden gewalttätig bekämpft, Unentschiedene zum Bekenntnis gezwungen, Konkurrenten in den eigenen Reihen ermordet – und all dies wurde durch die hehren Ziele einer zu erringenden solidarischen Volksgemeinschaft legitimiert. Die Gleichschaltung ehemals „unpolitischer“ Lebensbereiche durch „Massenorganisationen“ in Arbeit, Sport, Freizeit und Jugendarbeit führte im NS-Staat schließlich zu ganz ähnlichen Strukturen wie im Sowjetreich.

Im Kommunismus waren es die Postulate der gewalttätigen Herrschaftssicherung, die sich rasch gegen die ursprünglichen Ziele durchgesetzt haben. Mit Marx und Engels glaubte man anfangs noch, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller“ sein werde (Kommunistisches Manifest von 1848). Bei Lenin, Trotzki und Stalin (und wieder bei Mao und Pol Pot) wurde dann der Weg in den Staatsterror rasch erkennbar: Der bolschewistische Putsch von 1917 gegen die sozialistisch geführte Koalitionsregierung (genannt „Oktoberrevolution“), das Ersetzen des „Volkes“ durch das „Proletariat“, die Entmachtung der „Arbeiterräte“ durch eine „Avantgarde“ in Form der Partei, die Entmachtung der Parteimitglieder durch den „Demokratischen Zentralismus“ und schließlich das Verbot der „Fraktionsbildung“ – sie alle zeigen beispielhaft den Weg von ursprünglich universalistischen Ideen zu der totalitären Herrschaft eines Führers im Namen einer (auf die Zukunft verschobenen) Freiheit und Gleichheit. Auch „Brüderlichkeit“ galt schließlich nur noch für die Kader – so lange sie noch nicht exkommuniziert und umgebracht waren. Mithilfe der sogenannten Kollektivierung wurde das Mehrprodukt der Wirtschaft einer sich neu bildenden Klasse, der „Nomenklatura“ überantwortet. Die Qualen, die diese Herrschaft den Beherrschten zumutete und die im unüberbrückbaren Gegensatz zu den Idealen von Marx und Engels standen, wurden noch in den Siebzigerjahren (auch unter westlichen Intellektuellen) als „Transformationsphase“ zum „wahren“ Kommunismus interpretiert. Weil aber jeglicher Widerspruch ausgeschaltet war, versteinerten die Strukturen von Unfreiheit und Ungleichheit und haben über viele Jahrzehnte hinweg ihre Opfer verschüttet.35)

Was bedeutet das für heute?

Auch in einer parlamentarischen Demokratie sind leider aufgrund des in ihr herrschenden Wettbewerbs dualistische Kampfbegriffe („Freiheit oder Sozialismus!“) üblich. Die durch wiederkehrende Wahlen strukturell eingebaute Aussicht, irgendwann Unterstützung auch von vorherigen Gegnern einwerben zu müssen, lässt allerdings eine gewisse Mäßigung geraten sein. Regierende können abtreten, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen und sind dann auch eher dazu bereit. So lange Gewaltenteilung respektiert wird, solange es keine verfassungsändernden Mehrheiten im Parlament gibt und solange Grundrechte als unveränderliche Bestandteile der Verfassung festgeschrieben sind, verbleibt auch den jeweils Unterlegenen eine nächste Chance. Die Verabsolutierung der politischen Anschauungen oder des persönlichen Machtanspruchs führt dagegen in die Versuchung, die dann hinderliche Gewaltenteilung in Frage zu stellen, die Justiz abhängig zu machen, die Presse zu zensieren, aufzukaufen oder zu enteignen, zu inhaftieren oder umzubringen, wer wirksame Kritik übt, damit niemand mehr in der Lage sei, die Herrschaft in Frage zu stellen.

Die strategische Rolle der Gewalt

Welche Rolle spielt terroristische Gewalt?

Diese Frage entscheidet sich in den historischen Verläufen. Politisch motivierte Gewalt entstammt fast immer radikalisierten Bewegungen, aber nicht jede Radikalisierung führt zu politischer Gewalt. Und nicht jede politisch motivierte Gewalt hat Angst und Schrecken, also Terror zum Ziel. Wir können heute durchaus hoffen, dass die Umweltbewegung ihre universalistischen Ziele nicht durch Gewaltanwendung diskreditiert. Politisch motivierte Gewalttäterinnen und -täter sehen sich selbst jedoch als Speerspitze politischer Bewegungen und werden von Teilen dieser Bewegungen auch als solche anerkannt. Mit Gewalttaten können sie ganz unmittelbar das Vertrauen in die öffentliche Sicherheit zerstören, das nur sehr langfristig wieder hergestellt werden kann. Das wissen die Akteure und glauben zumeist, dass nur aus Gewalt eine neue Ordnung entstehen könne.36) Ihre Taten lassen sich darum nicht auf psychische Probleme von Einzelpersonen reduzieren. Emotionale Bedeutung, philosophische Legitimation und instrumenteller Zweck können bei der Überschreitung von moralischen Grenzen immer zusammenwirken.

Ist Gewalt auch ein Werbeträger?

Nicht nur die Gewalttat selbst, sondern auch ihre Inszenierung und Zurschaustellung im Internet ist eine wirkungsvolle Botschaft: Erlittene Gewalt erzeugt Solidarität mit den Opfern, ausgeübte Gewalt kündet von Mut, Stärke und künftiger Macht über Leben und Tod. Beide erregen Aufmerksamkeit – viel mehr als z. B. die Toten von Verkehrsunfällen. Sie ist eine effiziente Strategie, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erzwingen37) und Nachfolgetaten zu stimulieren.38) Journalistinnen und Journalisten haben aufgrund der Konkurrenz untereinander kaum eine Chance, der Berichterstattung und damit ihrer Funktion als „Co-Terroristen“39) auszuweichen. Es wäre auch den Opfern und ihren Angehörigen nicht zuzumuten, wenn ihr Leid nicht geteilt und öffentlich anerkannt würde. Es ist nie ein nur individuelles Schicksal, sondern symbolisiert immer auch das Versagen des staatlichen Schutzes. Versäumnisse (wie sie etwa in der Verfolgung des NSU und der Überwachung von Anis Amri zu Tage getreten sind) müssen aufgeklärt werden, damit das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht dauerhaft beschädigt wird. Die Möglichkeit, terroristische Anschläge durch Nichtbeachtung auf das Niveau von Verkehrsunfällen herunterzustufen und damit Nachahmungseffekte zu vermeiden, besteht daher nicht wirklich. Physische Gewalt wird immer skandalös bleiben, und gerade darum als Treibsatz der Eskalation wieder und wieder eingesetzt werden.

Der Altruismus, d. h. die Selbstlosigkeit politisch und religiös motivierter Gewalt

Wie rechtfertigen politische Gewalttäter und -täterinnen ihre Taten?

Politisch oder religiös motivierte Gewalt ist in den Augen der ausführenden Personen „selbstlos“, weil sie nicht so sehr dem persönlichen Vorteil, sondern erst einmal der „Rettung“ oder dem „Sieg“ einer vorgestellten Gemeinschaft oder einer „Wahrheit“ dient, für die man notfalls zu sterben bereit ist und darum auch töten darf. Der „Kipp-Punkt“ ist endgültig überschritten. Altruismus ist darum nicht, wie gelegentlich vermutet, die Lösung, sondern von vornherein ein Teil des Problems. Gewalt, die durch einen politischen oder religiösen Glauben motiviert wird, ist zunächst, d. h. bevor sie zum routinierten „Handwerk“ wird, weder dämonisch noch banal, sondern versteht sich als heroische Leistung. Den Akteuren gilt sie nicht als Verbrechen oder routinierte Pflichterfüllung, sondern als heldenhafte Bewährung. Diese heroische Sicht ist in Deutschland bei der Ermordung der europäischen Juden und „Zigeuner“ ausdrücklich hervorgehoben worden, um bestehende moralische Hemmungen des Personals in den Vernichtungslagern zu überwinden. So rief der SS-Führer Himmler in seiner Posener Rede von 1943: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte …“.40) Die Vorstellung heldenhaften Handelns hat – wie auch während der Verfahren des Internationalen Strafgerichtshof für die Jugoslawienkriege deutlich wurde – noch in den Neunzigerjahren den Weg vom „Patrioten“ zum „Kriegsverbrecher“ gewiesen und wird noch heute in den Heimatländern gefeiert. Strafrechtliche Sanktionen werden im Kreis der Gesinnungsgenossen in Ehrenzeichen umgedeutet.

Ereignisse und Einstellungen

Schlüsselereignisse

Wodurch werden Menschen derart radikalisiert?

Wer sich sicher fühlt, hat es leichter, liberal zu sein. Die gesteigerte Identifikation mit vorgestellten Gemeinschaften und ihren Ideen erwächst dennoch nicht notwendig aus unmittelbaren Erfahrungen. Sie hängt mit Befürchtungen oder Hoffnungen für die Zukunft zusammen. Diese entstehen zumeist anlässlich von Schlüsselereignissen, auch solchen, die nicht persönlich erlebt, sondern medial präsentiert worden sind. Das erklärt die zunächst paradoxen Ergebnisse von Umfragen, in denen Menschen ihre Sorgen um die Zukunft äußern, aber nicht um ihre eigene; in denen sie Zuwanderung ablehnen, nicht aber jene Zuwanderinnen und Zuwanderer, die sie persönlich kennen. Dramatische Ereignisse verändern die Sicht auf die Welt, wenn sie eine bedrohliche Entwicklung anzeigen, der gegenüber Politik und Staat als machtlos scheinen, wie sich 2015 angesichts der Massenflucht nach Europa wieder gezeigt hat.

Was heißt das für die Prävention?

Schon die bloße Erwartung von Konflikten kann Furcht und Feindseligkeit gegenüber anderen erzeugen, die sich dann u. U. wechselseitig bestätigen. Vorurteile sind also nicht letzte Ursachen. Es reicht daher auch nicht, sie lehrenden, pädagogisch tätigen und therapierenden Personen zur Bekämpfung zuzuweisen. Sie müssen vielmehr in ihrer individuellen und ihrer gesellschaftlichen Entstehung erkannt und bearbeitet werden. Häufig werden sie einer frühkindlichen Familiendynamik zugeschoben. Diese kann im Einzelfall durchaus die Bereitschaft zu Ängstlichkeit, Aggressivität und Kontrastwahrnehmung steigern.41) Die Erfahrung von Ohnmacht gegenüber Gewalt von Erwachsenen in der Kindheit kann Gewaltphantasien und Gewalttaten in der Jugendphase erklären.42) Beide können jedoch die jeweilige Richtung der Vorurteile und die daraus resultierenden politischen Handlungsbereitschaften inhaltlich nicht ausreichend erklären. Diese bilden sich im gesellschaftlichen Zusammenhang und damit über Konfliktlagen und richtungsweisende Ereignisse heraus. Gewaltprävention muss daher in einem andauernden Prozess der Konfliktbearbeitung und -transformation auf der Makrobene der Gesellschaften durchgeführt werden. Sie kann nur in Grenzen sozialpädagogisch bewerkstelligt werden, so unerlässlich Intervention und Begleitung bei Individuen und Gruppen auch ist.

Ereignis und Prognose

Kann man Ereignisse und Entwicklungen, die zu Furcht und Radikalisierung führen überhaupt prognostizieren?

In einzelnen Fällen durchaus. So wird die Klimakrise mit Sicherheit Furcht und Not verbreiten und zu Verteilungskämpfen rund um den Globus führen. Nicht immer aber sind künftige Entwicklungen so klar zu erkennen. Seit jeher gehört es jedoch zum Handlungswissen derer, die an der Eskalation von Konflikten interessiert sind, dass Einzelereignisse wirkungsvolle Ursachen sind – und dafür auch geplant und hergestellt werden können. Menschen verändern ihr Weltbild nicht so sehr durch kontinuierliche Diskurse, sondern oftmals spontan und unvorhersehbar: angesichts von neuen Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten, die nicht einmal sie selbst erwartetet hatten. Oft ist die politische Bedeutung einer sozialen Zugehörigkeit vor Beginn der Konflikte kaum sichtbar. Mit dramatischen Ereignissen, wie immer sie zustande gekommen sind, kann ihre Bedeutung rasch zunehmen. Mit dem Gefühl der Empörung oder unter dem Eindruck einer neuen Möglichkeit der persönlichen Wirksamkeit schreitet dann die Radikalisierung von Personen und Gruppen plötzlich voran. Aufgrund dieser ereignisabhängigen und darum nicht kontinuierlichen Dynamik ist der prognostische Wert von Einstellungsdaten grundsätzlich begrenzt, wie auch immer wir sie erheben. In der Bundesrepublik wurde die Untersuchung „Student und Politik“ im Jahre 196143) ,die einen autoritären Antikommunismus vorhersagte, fünf Jahre darauf von der „antiautoritären“ Studentenbewegung widerlegt, die sich der Bürgerrechtsbewegung in den USA und den antiimperialistischen Bewegungen rund um die Erde angliederte.

Spielt die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse dabei keine Rolle?

Die Annahme von Wahrscheinlichkeiten bzw. Risiken ist sicherlich eine Grundlage von persönlichen Einstellungen. Sie ist jedoch nur schwer auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Journalistinnen und Journalisten sind oft versucht, aus Einzelereignissen Trends abzuleiten, „weil es sonst keiner liest“. Dass es aufgrund dieser Sichtweise „immer öfter“ zu Ereignissen zu kommen scheint, entspringt also auch der Konkurrenz um das knappe Gut der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wahrscheinlichkeitsrechnungen im eigentlichen Sinn spielen dagegen bei der Entstehung von Angst und Furcht nur eine geringe Rolle. Für Furcht reicht ein einziger Auslöser, für ein Gefühl der Sicherheit braucht es dagegen das langfristige Ausbleiben solch negativer Erfahrungen. Einzelereignisse können daher entgegen aller Statistik bereits als „Beweismittel“ für eine Realität („so ist das also!“) fungieren, die sie überhaupt erst herstellen bzw. herstellen sollen. Politikerinnen und Politiker geraten dann unter Zugzwang: Wer kann als erster die „neue Lage“ als Thema besetzen? Die sich bildende Wirklichkeit der Wahrnehmung kann daher unabhängig von jeder Statistik als Treibsatz von Radikalisierung dienen. Ein Attentat (wie 1914 in Sarajewo) kann so interpretiert werden, dass daraus ein Weltkrieg wird, der letztlich seine Urheber verschlingt.

Konfliktkonstellationen und Ereignisse

Gibt es spezielle Konstellationen, die heute zu wirkmächtigen Ereignissen führen und auf die sich unser Augenmerk richten sollte?

Es gibt kritische Konstellationen, die zu Gewalt und zu Vergeltungsschleifen führen können. Sie sollten auch benannt werden. Gleichzeitig ist jedoch davor zu warnen, aus ihnen pauschale Verdächtigungen und Urteile über ganze Bevölkerungsgruppen abzuleiten. Ein aktuelles Beispiel: Die Einwanderung aus vormals staatsfernen Regionen hat zu einem grundlegenden Widerspruch zwischen einer patriarchalen, d. h über die Herrschaft der Väter organisierten Verwandtschaftsmoral und einer egalitären, d. h. prinzipielle Gleichheit einfordernden Individualmoral geführt. Manche Zuwanderer kommen aus Regionen ohne rechtsstaatliche Sicherheit und/oder gehörten dort zu ausgegrenzten Minderheiten, für die der Schutz der Sippe immer wieder von der Kampfbereitschaft der dafür erzogenen Männer abhing und die „Ehre“ der Frau ihren Tauschwert auf dem Heiratsmarkt bestimmte. Frauen und Männer wurden dort in ihren moralischen Überzeugungen in erster Linie durch ihre Verwandtschaftszugehörigkeit bestimmt, die für ihre Sicherheit und ihr Fortkommen entscheidend war. Diese Ehrvorstellungen sind in alten Zeiten religiös befestigt worden, nicht nur in islamischen sondern auch in christlichen Ländern, z. B. am Rande des Kontinents, wie in der Mani in Griechenland, auf Korsika und in Schottland. Mit dieser „Sakralisierung“ haben sie die Ultrastabilität einer Glaubensüberzeugung gewonnen. So können die Regeln verwandtschaftlicher Loyalität und patriarchaler Herrschaft auch dann noch als zwingend erscheinen, wenn sie deutschem Recht widersprechen, das heute unmittelbar dem Schutz des einzelnen Individuums – auch gegenüber seiner Sippe – verpflichtet ist. Die („westliche“) Individualisierung, die heute als „Emanzipation“ gefeiert wird, hat sich erst über wenige Jahrhunderte hinweg entwickelt. Sie ist ein Ergebnis von Bildungschancen und der in ihnen angelegten Reflexivität, weil jeder Mann und jede Frau nun selbst Gegenstand der eigenen Arbeit ist. Und sie wird gestützt vom Vertrauen in eine staatlich garantierte rechtliche und soziale Sicherheit, die eine gewisse Unabhängigkeit von der Sippe ermöglicht. Individualisierung und Emanzipation sind – so gesehen – eine nahezu einmalige Erscheinung in der Weltgeschichte. Sie in der Zukunft zu bewahren, dürfte von weltweitem Interesse sein.

Es kann indessen auch sein, dass nicht so sehr das Fortleben der patriarchalischen Ordnung, sondern gerade der Verlust der früheren Kontrolle durch Familie und Verwandtschaft in der Migration zu haltloser Straffälligkeit führen. Wenn schließlich beide Phänomene (patriarchalisches Selbstkonzept und persönliche Verwahrlosung) zusammentreffen, wie das bei manchen Kleinkriminellen der Fall ist, entsteht eine explosive Mischung, in der die überkommene männliche Kampfbereitschaft als „Spaltprodukt“ übrigbleibt, gleichsam individualisiert wird, bis „Mann“ glaubt, sich eben als Einzelkämpfer durchschlagen zu müssen. Gerade in dieser Lage können für ihn Verheißungen attraktiv werden, die dieser individualisierten Kampfbereitschaft schließlich doch noch eine religiöse Sinngebung zuteil werden lassen. Man muss also zu dem Schluss kommen: Wenn Verwandtschaftsverbände früher eine zentrale Gewährleistung sozialer Sicherheit dargestellt haben und über die patriarchale Autorität, die Kampfbereitschaft der Männer und die präventive Trennung der Geschlechter aufrechterhalten wurden, ist die Integration der nächsten Generation in ein Umfeld, das nach individualistischen Regeln lebt, oft schwierig und riskant.44)

Hat die Orientierung an vormodernen Normen und Ehrvorstellungen für Jugendliche auch einen Nutzen?

Die Gruppensolidarität und die Kampfbereitschaft, die in staatsfernen Lebenslagen der Daseinssicherung dienten, sind nicht nur Relikte vergangener Zeiten, sondern bieten auch heute spezielle Vorteile. Mit ihnen kann im Umfeld von Schulen, in Jugendzentren und im „Kiez“ die Dominanz der eigenen Clique gegenüber konkurrierenden Gruppen und Personen erkämpft werden.45) Verwandtschaftliche Solidarität trägt auch die Unternehmen vieler Kleingewerbetreibenden. Auf die unverbrüchliche Solidarität von Verwandtschaft und Patenschaft stützen schließlich mafiöse Clans ihre kriminellen Aktivitäten und haben damit ein gewinnbringendes Alleinstellungsmerkmal.

Was bedeutet es für persönliche Beziehungen, wenn patriarchale und individualistische Orientierungen aufeinandertreffen?

Vor dem Hintergrund einer traditionellen Familienordnung kann es zu folgenreichen Fehlinterpretationen des Verhaltens von Menschen kommen, die in einem individualisierten Milieu aufgewachsen sind – und umgekehrt. Freizügige Kleidung und Verhalten von Frauen signalisieren in unserer Jugendkultur in gar keiner Weise mehr den Verzicht auf Ehre und Respekt. Liebe bedeutet nicht Unterwerfung, Frauen und Männer nehmen ihre Selbstbestimmung nicht nur in der Aufnahme von Beziehungen, sondern auch bei deren Abbruch wahr. Sicherlich: Beziehungsgewalt gibt es auch in den stärker individualisierten Bevölkerungsgruppen, sie wird aber wahrscheinlicher, wenn unterschiedliche Ehrvorstellungen aufeinandertreffen. Sie kann dann über persönliche Tragödien hinaus allgemeine Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung oder gar der in den letzten 100 Jahren erkämpften persönlichen Freiheitsrechte auslösen. Wenn es darum geht, die Integrationschancen von Minderheiten zu erhöhen, ist daher solchen Konstellationen und den in ihnen möglicherweise entstehenden Straftaten eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sind nicht nur strafrechtlich zu ahnden, sondern – z. B. in dem geschützten Raum von kriminalpräventiven Räten – in besonderer Weise auf polizeiliche, schulische und sozialpädagogische Präventionsmöglichkeiten hin zu prüfen, ohne damit die Angehörigen eines ethnischen oder kulturellen Milieus insgesamt als potenzielle Täter zu stigmatisieren.

Ein Strukturwandel der Öffentlichkeit?

Konfliktwahrnehmung und ihre Generalisierung

Wie entwickelt sich gemeinschaftliche Solidarität angesichts weltweiter Migration?

Im Zuge von Konflikten jedweder Art wird Solidarität eingeworben. Nicht nur zwischen Familien und Nachbarschaften, auch zwischen überlokalen und vorgestellten Gemeinschaften gibt es Streit: um Land, um Wohnraum und Produktionsmittel, in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, um Gewinne im Handel, um die Geltung einer Sprache in der Schule oder bei den Behörden, um religiöse und kulturelle Dominanz, um Herrschaftsrechte, um Autonomie oder Assimilation ganzer Bevölkerungsgruppen. Manche Konflikte werden auch eigens geschürt, um Solidarität in einer Gruppe durch Feindschaft gegen eine andere zu erzeugen. Im Verlauf der Auseinandersetzungen spielt dann die Anerkennung der Konfliktparteien in ihrer kollektiven „Ehre“ eine zunehmende Rolle. Konflikte werden verallgemeinert, Kleidung wird zum Emblem, Fahnen werden hochgezogen, um die Trennung von „Wir“ und „Sie“ („sekundenschnell“) erkennbar zu machen.

Wenn es um eine erhoffte oder befürchtete Zukunft geht, nehmen die Akteurinnen und Akteure in den Bewegungen die Solidarität aller Menschen in Anspruch, die sie erreichen können. Dazu werden mehr und mehr identitätsstiftende Erzählungen von Herkunft, von Zukunft und aktueller Bedrohung eingesetzt. Im Namen religiöser, ethnischer und politischer Gemeinschaften wird um Unterstützung von all denen geworben, denen eine ähnliche Zugehörigkeit unterstellt wird. Ethnische, kommunalistische (über Religionszugehörigkeit definierte) und auch andere, z. B. antikapitalistisch, ökologisch oder menschenrechtlich motivierte politische Bewegungen gehen um die Welt und künden von der Globalisierung gemeinschaftsbezogener Identitäten.

Gerade in der jeweiligen (durch Migration oder Vertreibung entstandenen) Diaspora wird Solidarität gepflegt und demonstriert. Gleichzeitig werden Menschen beargwöhnt oder bekämpft, von denen man aufgrund ihrer jeweiligen Zugehörigkeit Feindseligkeit erwartet. Dies führt zu immer allgemeineren und pauschaleren Bildern von Freund und Feind. In ihren Entstehungsbedingungen ist z. B. die Feindschaft im palästinensischen Volk gegenüber Israel von dem europäischen und speziell dem deutschen Antisemitismus klar zu unterscheiden, weil sie eine Reaktion auf die Erfahrung von Vertreibung und Besiedlung des Landes war. Gleichwohl verschwimmen beide heute mehr und mehr in einem gemeinsamen Feindbild. Im Gegenzug kann aus der Solidarität mit Israel rasch Feindschaft gegenüber „den“ Muslimen werden. Generell gilt: Ideologien tendieren dazu, Konfliktlinien zu verallgemeinern und zu verstetigen. Die Erwartungen oder Befürchtungen von Gegnerinnen und Gegnern orientieren sich an zunehmend allgemeineren Kategorien, denen dann immer mehr Menschen als „Freund oder Feind“ zugerechnet werden, bis diese Unterscheidung selbst zum Inbegriff von Politik überhaupt wird. Auch die Feinde von Liberalisierung und Universalisierung vernetzen sich heute rund um die Welt, so sehr sie eigentlich auf der ethnischen oder politischen Einzigartigkeit ihrer jeweiligen Gemeinschaft bestehen. Es eint sie der Kampf gegen eine transnationale Kultur und gegen internationale Entscheidungsgremien. Chauvinismus, d. h. die Feindseligkeit gegen andere Völker, Bekenntnisse und Gemeinschaften ist dabei längst selbst zu einem transnationalen Programm mit global aktiven Predigerinnen und Predigern geworden. Die Neue Rechte, die heute in Europa und in den USA (als Alt.Right-Bewegung) auf dem Vormarsch ist, gehört dazu. Es wäre verharmlosend, sie schlicht in der Tradition eines Nationalsozialismus zu sehen, der nicht mit seinen alten Anhängern vergehen will. Die Lage ist gefährlicher: Auch Nationalsozialismus und Faschismus waren nur spezielle historische Ausprägungen der übergreifenden Traditionen eines antiuniversalistischen Denkens, das heute angesichts weltweiter Konflikte wiederbelebt wird und im Namen von Volk und/oder Glauben um die Welt geht.46)

Die Wählbarkeit der Identifikationen

Geht es bei der Identifikation mit einer Gemeinschaft nur um bestehende Zugehörigkeiten?

Nein. Zugehörigkeit ist heute vielfach ein selbstgewählter und proaktiver Akt. Menschen können sich auch mit dem Schicksal von Gruppen solidarisieren, mit denen sie zunächst wenig verbindet. Auch solche Identifikationen stiften Lebenssinn. Bemerkenswert ist, dass die Perspektive von Opfern, die „unter die Räuber gefallen“ sind, heute rasch den Kreis der unmittelbar Betroffenen überschreitet und ihre Anwältinnen und Anwälte im Namen der Menschenrechte findet. Historisch gesehen, hat sich damit der Radius möglicher Solidaritäten immer mehr ausgeweitet. Nachdem in der Neuzeit die Nation als Identifikationsraum bestehende Nachbarschaften, Stämme und Herrschaftsverbände überlagert hat und von jungen Leuten auch zur Emanzipation gegenüber diesen genutzt wurde, sind es heute Vorstellungen von nationenübergreifenden Klassen, Religions- und Wertegemeinschaften, die nach vorne drängen. Selbstgewählte Solidarität kann schließlich die Menschheit insgesamt überschreiten und die Tierwelt mit einschließen. Im Gegenzug kann sie aber ebenso auf religiöse, nationale, klassenbewusste, ethnische, regionale oder verwandtschaftliche Gemeinschaftsdefinitionen eingeengt werden, die zu der Herstellung einer exklusiv abgegrenzten Identität verwandt und über globale Netze propagiert werden. Vorgestellte Gemeinschaften der einen oder anderen Reichweite üben eine besondere Faszination auf Jugendliche aus, weil sie über den Horizont ihrer unmittelbaren familialen oder lokalen Herkunft hinausweisen (so ist die Orientierung an einer „Umma“, der Gemeinschaft aller Gläubigen im Islamismus geeignet, junge Musliminnen und Muslime von einer Konformität zu emanzipieren, die ihre Sippe erwartet – und sie kann dies gerade deshalb, weil sie auf eine religiöse Legitimität verweist, die von der Sippe nicht in Frage gestellt werden kann).47) Die Aufwertung der ethnischen oder religiösen Herkunft ist also nicht nur als Prozess der Festlegung auf vormals bestehende Traditionen, sondern auch als Ablösung von der Macht der unmittelbaren Interaktion in Verwandtschaft und Nachbarschaft zu denken. Erst recht gilt dies für die Verallgemeinerung ethischer Prinzipien zu einem Weltbürgertum.

Digitale Netzwerke

Was bedeuten soziale Netzwerke in der digitalen Welt für die Möglichkeiten spezieller Identifikation?

Gruppen erzeugen bei ihren Mitgliedern Gefühle, aber Gefühle erzeugen umgekehrt auch Gruppen. Emotionale Bedürfnisse wie Liebe und Hass, die mangels Partnern früher oft einsam geblieben wären und keine gemeinschaftlichen Realisierungschancen hatten, können sich heute auf virtuellen Marktplätzen zusammenfinden und sind dann irgendwann auch unmittelbar von Angesicht zu Angesicht erlebbar. Blogs versammeln politische Überzeugungen, Emotionen, Hoffnungen und Ressentiments, an die sich dann auch eine unmittelbar interaktive Gruppenbildung anschließen kann. So können sich Orientierungen, die es in Vereinzelung immer schon gab, zusammenfinden und wirksam werden. Wechselseitige Verstärkung und Radikalisierung kann damit voranschreiten, ohne dass sie im räumlichen Umfeld der von ihr ergriffenen Personen aufscheint und von dort beeinflussbar wäre. Für die Rekrutierung von Anhängerinnen und Anhängern spezifischer Gesinnungen werden darum digitale Pfade immer wichtiger. Virtuelle, d. h. im Internet hergestellte Gruppen schließen sich – und dadurch wird es brisant – nicht nur für die eigenen, sondern auch gegen die Orientierungen anderer zusammen. Auch Ekel- Hass- und Gewaltvorstellungen können zum Kristallisationskern einer ethnozentrischen Gruppenkultur werden. Informationen und Desinformationen werden automatisch an Nutzerinnen und Nutzer mit ähnlichem Profil weiter verbreitet und zeigen in der Währung der Klicks ihren Erfolg an. Likes werden maschinell produziert und über das Internet gehandelt. „Hater“ und „Trolle“ nehmen den Kampf auf, besetzen gegnerische „Blogs“, erzeugen algorithmisch „Anhängerscharen“ und nehmen schließlich Einfluss auf Wahlentscheidungen. Die im Internet (und speziell durch die Teilnahme an sozialen Netzwerken) kommerziell gespeicherten Daten über persönliche Vorlieben können gehackt, gekauft und eingesetzt werden – und dies kann kommerzielle und politische Vorteile erbringen.

Heterogenität statt Homogenität?

Das „Verkehrssystem“ der Meinungsbildung hat sich also grundlegend geändert?

Um die dramatischen politischen Konsequenzen des medialen Wandels einzuschätzen, mag ein Vergleich sinnvoll sein: Nach der Einführung von „Funk und Fernsehen“ nach 1950 wurde befürchtet, dass die Einbahnstraßen-Kommunikation der „Massenmedien“ alle kulturellen Unterschiede einebnen würde. Diese „Massenkommunikation“, wie man sie damals nannte, hat auch sicherlich zu der Etablierung von milieuübergreifenden Volksparteien beigetragen. Anders funktioniert der Medienmarkt von heute: Nicht so sehr Gemeinsamkeiten, sondern Differenzen sind es, die in den Datenspeichern der Internetindustrie gesammelt und für Mobilisierungsstrategien nutzbar gemacht werden, um „Streuverluste“ in der Werbung und in der politischen Beeinflussung zu vermeiden. Damit haben sich zentrifugale Tendenzen in Kultur und Öffentlichkeit durchgesetzt. Indem die Informationen in den Netzen nicht immer öffentlich sind, sondern durch Algorithmen gezielt an ausgewählte Personen übermittelt werden, sinkt die Chance, dass Falschmeldungen rasch korrigiert werden. Mit der Abwertung von Gegeninformationen als „Fake-News“ oder „Erfindungen einer Lügenpresse“ wird schließlich externe Kritik abgewehrt. Mit der Ausforschung und Verwertung individueller Vorlieben in den Massendaten des Internets und der sozialen Netzwerke, mit ganz neuen Berufen wie „Bloggerinnen und Bloggern“, „Influencerinnen und Influencern“ sowie psychologisch geschulten Datenanalytikerinnen und -analytikern hat sich ein neues und unerwartetes Geschäftsfeld auch auf dem Markt der Beeinflussung eröffnet, auch der ideologischen. Die Konsequenzen, die dieser „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ einmal haben wird, sind noch gar nicht abzusehen.

Für den Radikalisierungsprozess ist bedeutsam: In abgeschotteten Zirkeln entstehen heute Sonderwelten ohne soziale Kontrolle im Hinblick auf das, was ansonsten als „Sitte und Anstand“ gilt. Menschen haben immer auch destruktive Emotionen und Handlungsbereitschaften. Anders als in den „alten“ Medien gibt es im Internet bisher kaum „Gatekeeper“, also „Türsteher“, die Verantwortung dafür übernehmen, welche Informationen hereingelassen werden. Während jedes Flugblatt „presserechtlich verantwortlich“ gezeichnet werden muss, können das Internet und seine sozialen Netze heute noch weitgehend als presserechtsfreier Raum genutzt werden. Das ist dann die Ausgangsbasis für Gesinnungsgemeinschaften, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, zivilisatorisch notwendige Tabus zu brechen, Aggressionen aus den Fesseln „politischer Korrektheit“ zu befreien und von der Achtung der Menschenrechte zu entbinden: zuerst im Netz, dann aber auch in der Öffentlichkeit auf Straßen und Plätzen und schließlich aus dem Hinterhalt.

Krisen, Kulturwandel und die Reaktion

Krisen und Vertrauensverlust

Aber geht es nicht letztlich um reale Konflikte?

Real sind auch Konflikte um imaginäre Differenzen. Das ist die fatale Lehre aus dem Rassismus, der Hautfarbe oder Nasenform zum Merkmal einer Unterscheidung mit furchtbaren Folgen gemacht hat. Dennoch ist nicht jeder Konflikt auf eine nur vorgestellte Grenzziehung zurückzuführen. Was heute stattfindet, ist eher eine virtuelle (sich im Internet vollziehende) Zuspitzung vielfältiger, aber in ihren Ursprüngen durchaus realer Konflikte. In deren Zentrum steht gegenwärtig die krisenhafte Entwicklung zu einer überstaatlichen und viele Länder übergreifenden Weltgesellschaft. Unabweisbar drängen Umweltkonflikte, Wirtschaftskrisen und Wanderungsbewegungen auf rechtliche Regelungen, die national nicht mehr zu erbringen sind. Gleichzeitig erweisen sich überstaatliche Vereinbarungen und Organisationen als brüchig, weil sie oft die Gegensätze nicht bewältigen, die in allen Gremien zu Blockaden führen können,48) die auf einvernehmliche Ergebnisse angewiesen sind. Bereits die Verlagerung von Entscheidungen auf die Weltebene kann Sehnsucht nach vermeintlich „guten alten Zeiten“ auslösen, in denen man „noch“ wusste, worum es jeweils ging und wer jeweils zu entscheiden hatte. Globale Finanz- und Wirtschaftskrisen haben zudem das Vertrauen in „die Politik“ erschüttert. Die marktwirtschaftliche Entwicklung, auf die sich jahrzehntelang die Hoffnungen der Menschen in aller Welt richteten, zeigt mittlerweile auch ihre Kehrseite, und das nicht nur in den Umweltfragen. Kapitalbewegungen überschreiten alle Grenzen und folgen einer spekulativen Logik, die sich von einer Marktwirtschaft getrennt hat, in der derjenige, der handelt, auch für die Folgen seines Handelns haften muss, wie es einmal im Lehrbuch stand. Organisierte Verantwortungslosigkeit ist nicht mehr das Merkmal einer unkontrollierbaren Zentralverwaltungswirtschaft, heute kennzeichnet sie vor allem eine unregulierte Finanzwirtschaft, die mittels der „Verbriefung“ von Krediten deren Risiken ins Unendliche „streut“ bzw. auf eine Staatshaftung verschiebt. Oligarchen gründen ihren Reichtum nicht mehr auf der Privatisierung von Volksvermögen wie nach 1989 in der Sowjetunion, sondern auf das Ausmanövrieren von unkoordinierten nationalen Steuerbehörden. Solche globalen Entwicklungen können auch Folgen auf lokaler Ebene haben, auf der sie aber nicht zu bewältigen sind. So haben Finanzkrisen zu Fluchtkapital und einer Geldpolitik geführt, die die Immobilienpreise in den Großstädten „sicherer“ Länder stark ansteigen lassen. „Gentrifizierung“ (d. h. Aufkauf und Umnutzung von Immobilien durch Investoren in vormals kostengünstigen Wohngebieten) löst dann bei bisherigen Nachbarinnen und Nachbarn Abwehr und Feindseligkeit aus und begründet lokale Schicksalsgemeinschaften. Gerade, wenn direkte Zusammenhänge nicht nachweisbar sind, steigt der Nebel der Angst auf.

Nachdem die Klimakrise letztlich nur über globale Vereinbarungen zu bewältigen sein wird, dürfte auch sie in Zukunft Hader und Zwietracht auslösen und den Rückzug auf eine branchenspezifische, regionale und vor allem nationalstaatliche Interessenpolitik attraktiv machen. Die Re-Nationalisierung der globalen und der europäischen Politik dürfte dann zu einem sich selbst verstärkenden Prozess werden: Je mehr einzelne Staaten multilaterale Regelungen infrage stellen, um so zwingender wird Re-Nationalisierung auch für die anderen Staaten. Vor diesem Hintergrund ist alles zu begrüßen, was geeignet ist, auf die globale Verständigung gegen Finanzspekulation und Steuerbetrug, auf Konfliktschlichtung angesichts drohender Massenvernichtungswaffen und auf multilaterale Maßnahmen z. B. gegenüber der Klimakatastrophe hinzuwirken. Dagegen dürfte der Versuch, mit gewalttätigen Straßen- und Häuserkämpfen „Gipfeltreffen“ zu verhindern, zu diesem Ziel kaum beitragen und gerade den Protest diskreditieren, der in ihm eigentlich zum Ausdruck kommen soll und in den meisten Fällen seine Berechtigung hat.

Konflikte um Einwanderung

Welche Bedeutung hat dabei die Migration?

Ein- und Auswanderung sind an sich ein normaler Vorgang, werden aber folgenreich, wenn es sich in kurzer Zeit um große Gruppen handelt. Das gilt nicht nur für die Einwanderungsgesellschaften, sondern auch für die Herkunftsländer, die einen Teil ihrer jungen, aktiven und professionell qualifizierten Leute verlieren. Das war nach der Wende in den neuen Bundesländern der Fall und ist bis heute eine der Ursachen für Zweifel, ob die neue Ordnung ein Segen gewesen sei. „Brain-Drain“, d. h. die Abwanderung von Höherqualifizierten trägt auch bei den Zurückgelassenen in Ländern Osteuropas zur Skepsis gegenüber dem eingeschlagenen Entwicklungspfad bei.49) Einwanderungsgesellschaften geraten unter Stress, wenn diese in kurzer Zeit rasant ansteigt und dieser Anstieg in seiner Fortdauer nicht absehbar ist. In Deutschland waren es zwischen 1988 und 1992 etwa fünf Millionen (Auswanderer bereits abgezogen) und um 2015 herum erneut etwa mehr als eine Million. Mit solchen Spitzenwerten können Zweifel daran entstehen, ob der einmal erreichte Stand wirtschaftlicher Sicherheit und kultureller Vertrautheit künftig noch Bestand haben kann. Menschen verdanken ihr Sicherheitsgefühl immer auch einer Umwelt, die ihnen einigermaßen vertraut, in ihren Chancen und Risiken vorhersehbar ist und in Grenzen von ihnen beeinflusst werden kann. Die Gründe, sich gegen „Masseneinwanderung“ zu wenden, liegen nicht immer, wie oft unterstellt wird, bei einer zuvor schon existierenden Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen. Vielmehr weiß man erst einmal nicht, was (und wer) auf einen zukommt. Durch eine Folge spektakulärer Ereignisse vor Ort und anderswo durch die Berichterstattung können Furcht und Fremdenfeindlichkeit ausgelöst werden.50) Spiegelbildlich werden auch auf der Seite von verunsicherten Migrantinnen und Migranten die vorgestellten Gemeinschaften der Herkunft wichtiger und können in der Vorstellungswelt durch eine prinzipielle Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ befestigt werden, so wie sie viele der hierzulande von Moscheevereinen gebuchten Prediger aus dem Nahen Osten von den Gläubigen fordern.

Welche Rolle spielt dabei die Nachbarschaft?

Die Nachbarschaft ist sicher immer noch der wichtigste Raum von Integration und Desintegration. In ihr laufen Problemlagen und Konflikte auf, die besonderer Aufmerksamkeit und Hilfe bedürfen. Keine Gruppe will in ihrem angestammten Wohnviertel in die Minderheit geraten. Es geht dabei konkret um die Sprache in der Schule, um die Gemeinsamkeit der Erziehungsformen und um das Verhalten von Jugendlichen zueinander und zwischen ihren Cliquen. Dies darf nicht in einem optimistischen, aber vielleicht allzu selbstsicheren Universalismus übersehen werden sondern muss in kleinräumiger Hilfe bearbeitet werden. Die Vorstellung einer unbegrenzten Zuwanderung von Fremden, die bleiben wollen, gibt vielen Ansässigen Anlass zu Sorge – erst recht, wenn Arbeitsplätze, bezahlbarer Wohnraum und soziale Sicherheit gefährdet zu sein scheinen. Wenn Bewohnerinnen und Bewohner dann wegziehen, führt das zu einer fortschreitenden räumlichen Abgrenzung – und die wiederum macht die Integration der Neubürgerinnen und Neubürger nicht leichter.

Es sind jedoch nicht nur nachbarschaftliche Probleme, die Sorge bereiten. Auch Langzeitperspektiven, wie etwa Befürchtungen über die Bevölkerungsentwicklung in den Herkunftsländern der Zuwanderer werden im Zusammenhang mit einem neuerlichen Einwanderungsdruck immer wieder hervorgehoben. Furcht vor Migration sollte daher nicht von vorneherein auf „ganz andere Probleme“ (in der Herkunftsfamilie, am Arbeitsplatz, im „falschen Bewusstsein“ usw.) zurückgeführt werden. Selbst wenn sie nur selten in unmittelbar persönlichen Erfahrungen begründet ist, geht es in ihr doch um das generalisierte Vertrauen von Menschen in ihre nachbarschaftlichen, regionalen und nationalen Gemeinschaften. Diesen werden die Migrantinnen und Migranten so lange nicht zugerechnet, bis die Kooperationserfahrungen mit ihnen gemacht worden sind, die das „präventive Misstrauen“ gegen sie widerlegen – und umgekehrt die Migranten Vertrauen entwickeln.

Es gibt aber doch – die „Willkommenskultur“ hat es gezeigt – viele, die das ganz anders sehen!

Auch die gegenläufige Bereitschaft, auf die Möglichkeit von Verständigung mit vormals Fremden zu vertrauen, hat besondere biografische Voraussetzungen, und ist nicht nur in längeren Bildungsgängen und Auslandsaufenthalten, sondern auch in nachbarschaftlichen Erfahrungen und schließlich in religiösen Überzeugungen begründet. So scheiden sich heute Kulturen von Vertrauen und von Misstrauen gegenüber Fremden voneinander. Migranten treffen sowohl auf die Hilfsbereitschaft kosmopolitisch erfahrener oder religiös gefestigter Personen als auch auf die Feindseligkeit von Menschen, die sich in ihrer ortsbezogenen oder nationalen Identität bedroht fühlen. Innerhalb der Gesellschaft eskaliert ein Kulturkampf, der dann wiederum die globalen Kooperationen erschwert, die in Zukunft notwendig werden.

Wertewandel: Emanzipation, ihre Ablehnung und die kulturelle Polarisierung

Haben kulturelle Differenzen in unserer Gesellschaft nicht auch unabhängig von Migration zugenommen?

Durchaus. Es geht dabei vor allem um die kontroverse Erfahrung und Wertschätzung von eben dieser Individualisierung, von der schon die Rede war. Diese ist als solche kein neues Phänomen, sondern ist in wiederholten Schüben immer wieder vorangeschritten und hat vor langer Zeit schon in den städtischen Oberschichten der Antike und der Renaissance die Themen bestimmt. Im 18. Jahrhundert beantworteten Studenten und Hauslehrer (unter ihnen waren tatsächlich kaum Frauen) ihre ärmlichen Lebensbedingungen mit dem Glauben an ihre persönliche Begabung (ihr „Genie“) und entflohen in ein erträumtes Reich des deutschen oder gar griechischen Geistes. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verkündeten Söhne und Töchter des aufsteigenden Bildungsbürgertums ihren Anspruch auf eine Lebensführung „aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit“, so die „Meissnerformel“ von 1913. Diese historischen Bewegungen nahmen immer Bezug zu jeweils umfassenderen Gemeinschaften, für die die Vorstellung eines Volkes, einer Nation, eines Glaubens, einer Klasse oder einer Menschheit stand.

Seit sechzig Jahren hat sich nun ein erneuter Schub zugunsten von individueller Selbstbestimmung vollzogen, die letztlich ihre Bezugsgröße in der Menschheit findet. Die Folge dieses Wertewandels in Teilen der Gesellschaft ist, dass seither die „Normalität“ einer traditionellen Überlegenheit, z. B. von Alten gegenüber Jungen, von Männern gegenüber Frauen, Weißen gegenüber Farbigen, Heterosexuellen gegenüber Homosexuellen, Alteingesessenen gegenüber Zugereisten mehr und mehr infrage gestellt wird. Gleichzeitig haben sich die Maßstäbe für persönliche Integrität verschärft. Sexuelle Liberalisierung geht einher mit der Verurteilung von „Sexismus“. Was früher noch als Kompliment durchging, kann heute als „Mikroaggression“ gewertet werden.

Ist das nicht eine insgesamt erfreuliche Entwicklung?

Sicherlich. Wir müssen aber sehen, dass damit tiefgreifende Erschütterungen einer einstmals bestehenden „Normalität“ verbunden sind. Vieles von dem, was „von jeher“ als „unveränderlich“ oder als „naturbedingt“ hingenommen wurde, gilt „neuerdings“ als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Ganz offenbar haben sich in den letzten sechzig Jahren die Kriterien der Rechtfertigung von persönlichem Denken und Handeln in Teilen der Öffentlichkeit verschoben. Es hat lange gedauert, bis sich der Widerstand gegen diesen Wertewandel politisch formiert und zu einem offenen Konflikt geführt hat. Vielleicht haben wir uns zu sehr in Sicherheit gewiegt, seit sich die Bürgerrechtsbewegung in den USA zumindest rechtlich durchsetzte. In den siebziger Jahren sprach man in den USA noch von einer „schweigenden Mehrheit“, die ablehnte, was den „Liberals“ als Fortschritt galt. Teile dieser Mehrheit, nämlich die Arbeiter in klassischen Industrien, sind mittlerweile durch die digitale Revolution und die Auslagerung von Produktionsstandorten in „Niedriglohnländer“ in zunehmende ökonomische Bedrängnis geraten.51) Aus der einstmals „schweigenden Mehrheit“ ist jetzt eine „lautstarke Minderheit“ geworden. Sie möchte die politische Majorität zurückgewinnen und hat Chancen dazu - nicht nur in den USA.

Wie ist es zu diesem Wandel gekommen?

Strukturelle Grundlage für diesen neuerlichen Individualisierungsschub ist die rasante Expansion des Bildungssystems in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So ist der Anteil der Abiturienten und Abiturientinnen an einem Jahrgang in den letzten sechzig Jahren um fast das Zehnfache angewachsen. Bildung scheint in allen empirischen Studien der letzten Jahrzehnte als einer der wichtigsten Schutzfaktoren vor Rechtextremismus. Das mag sicherlich auch an den Selektionsmechanismen liegen, die in das Bildungssystem eingebaut sind und einen Teil der Schüler mit Erfahrungen des Misserfolgs konfrontieren.52) Ein „Selbstläufer“ ist der zivilisatorische Effekt von Bildung darum nicht. Bildung eröffnet zudem auch Optionen für gegenläufige Weltbilder, die irgendwann unter dem Aspekt der Besitzstandwahrung Sinn machen können. Gegenwärtig hat sich jedoch zusammen mit weltumspannenden Medien, mit internationalen Kontakten und Auslandsaufenthalten von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten (und schließlich auch mit der Chance, auch auf lokaler Ebene kulturelle Diversität als Bereicherung zu erfahren), die Zahl kosmopolitisch orientierter „Weltbürgerinnen und Weltbürger“ drastisch erhöht. Damit geraten diejenigen, die sich weiterhin an den überkommenen Selbstverständlichkeiten orientieren, unter moralischen Druck, gelten als politisch unkorrekt und fühlen sich in der öffentlichen Meinungsbildung ausgeschlossen, obwohl sie immer noch eine Mehrheit hinter sich glauben. Dies bietet intellektuellen Gegeneliten die Chance, sich für eine entschwindende, aber althergebrachte „Normalität“ zu radikalisieren, den Kampf gegen die neuen Forderungen aufzunehmen und „Ressentiment“, „Zorn“ und „Wut“ zu „sammeln“. Volksparteien geraten damit in den Zwiespalt zwischen alten und neuen Werten. Parteien, die sich eindeutig auf der einen oder anderen Seite positionieren können, haben dagegen Erfolg.

Politische Bewegungen und ihre Transformation

Populismus als Strategie

Ist darauf der Erfolg populistischer Strategien zurückzuführen?

„Populismus“ gewinnt in dieser Lage als Strategie von neuen und alten Eliten eine besondere Bedeutung. Helmut Dubiel53) hat die Geschichte linker und rechter Protestbewegungen rekonstruiert und kommt zu dem Ergebnis, dass es sozialgeschichtliche Momente gebe, in denen „die kollektiven Kränkungserfahrungen, die Statusängste und frustrierten Glückserfahrungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen aus den etablierten Diskursen und Legitimationsmustern gleichsam herausfallen und den Status vagabundierender Potentiale gewinnen, die eigentümlich quer liegen zum Spektrum politischer Richtungstraditionen. … Der Streit um die Konstituierung einer neuen Legitimität wird zu dem geheimen Rationale des politischen Kampfes“.54)

Diese Feststellung von 1985 eröffnet eine Perspektive auf die Entwicklungen in den folgenden dreißig Jahren: In den neuen Bundesländern geriet die Wirtschaft mit der Wende voll in den Strukturwandel der Weltwirtschaft, der auch der westdeutschen, englischen und amerikanischen Industrie immer mehr Probleme bereitet hatte und auch in der DDR durch die immer stärkere Subvention der Exporte nicht mehr ferngehalten werden konnte. Mit der Schließung vieler Betriebe war für viele Bürger der Verlust in der Anerkennung von Lebensleistung verbunden. Geschwächt wurden aber auch die interaktiven Gemeinschaften, die in den Jahren der DDR eine besondere Bedeutung für die persönliche Lebensführung abseits von Staat und Partei hatten: Familien und Freundeskreise wurden durch Abwanderung reduziert, Nachbarschaften haben sich aufgelöst, Betriebe wurden geschlossen, Neubausiedlungen zurückgebaut, Campingplätze von der Treuhand veräußert. Mit der Agenda 2010 wurden schließlich viele Bürgerinnen und Bürger, die mit der Wende ihre Arbeitsplätze verloren hatten, einer neuen Belastungsprobe ausgesetzt. In den heutigen Gefühlen („es war nicht alles schlecht“) dürfte daher – ähnlich wie in der deutschen Nachkriegszeit – durchaus so etwas wie eine kollektive Kränkung im Sinne Dubiels zum Ausdruck kommen. Ähnliche Prozesse haben sich mittlerweile auch in ost- und südosteuropäischen Ländern vollzogen, in denen junge und aktive Menschen „nach Westen“ abgewandert sind. Durch den „Brain-Drain“ wurden liberale Eliten geschwächt und konnten Parteien Nutzen ziehen, die über traditionalistische Vorstellungen Sicherheit versprechen.

Und in Westdeutschland?

Auch in Westdeutschland ist der nach der Wende verkündete Glaube an eine Mehrung des allgemeinen Wohlstands durch neoliberale „Deregulierung“ in den Finanzkrisen erschüttert geworden.55) Um 2015 ist es aufgrund der Bürgerkriege in Asien, dem Nahen Osten und Afrika erneut zu hohen Einwanderungszahlen gekommen. Wenn aber diese Krisen unbewältigt erscheinen, verlieren Regierungen (und über sie hinaus auch staatliche und überstaatliche Ordnungen) Vertrauen – ganz gleich, ob es zu ihrem Handeln oder Unterlassen Alternativen gegeben hat. Das ist die Stunde des Populismus.

Was sind typisch populistische Argumente?

Wenn man einmal von den schillernden Facetten der jeweiligen Signalthemen absieht, geht es im Kern um die Behauptung, die bisherigen politischen Entscheidungen würden nicht den Interessen und Wünschen des Volkes – wie auch immer dieses definiert wird – entsprechen, sondern nur dem Vorteil „der herrschenden Eliten“ dienen. Sowohl „das“ Volk als auch „die“ Eliten (und als deren Teil „die“ Presse) werden mehr oder minder als feste Einheiten gesehen. Hieraus folgend werden schließlich zentrale Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung infrage gestellt: Der allgemeine Wille des Volkes (die „volonté générale“ nach Rousseau) müsse der Gewaltenteilung (Montesquieu) und den vielfältigen Freiheitsrechten der Menschen übergeordnet werden. Seit ihren Wahlsiegen in Ungarn und Polen haben populistische Parteien mit der Berufung auf „den“ Volkswillen versucht, kritische und gegnerische Gruppen auszuschalten und an der Wahrnehmung ihrer Rechte zu hindern. Die De-Legitimation der zuvor angeblich „Herrschenden“ gipfelt in dem Vorwurf, dass sie ihre – faktisch interessengeleiteten – Entscheidungen als alternativlos ausgeben würden. Dieser Vorwurf mag einmal mehr, einmal weniger zutreffend sein. Er ist auch nicht an eine bestimmte politische Richtung gebunden. Von der „Neuen Linken“ vor fünfzig Jahren wurde er ebenso erhoben wie von der „Neuen Rechten“ von heute. Im Kampf gegen das „Establishmentz. B. hieß es vor einem halben Jahrhundert mit Herbert Marcuse, dass eine auf Grund des wissenschaftlich–technischen Fortschritts bestehende Chance zur Überwindung des „Spät“-kapitalismus und zu einem „Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ verhindert werde: durch „repressive Toleranz“ und „Konsumterror“ im Interesse der Kapitalverwertung.56) In der Neuen Rechten von heute sind es die „natürlichen“ Hierarchien, die wehrhafte Gemeinschaftsorientierung und die besonderen kulturellen Überlieferungen, die durch Migration und demographische Entwicklung („Umvolkung“) auf dem Altar eines formalen Universalismus geopfert werde, was mit dem Verweis auf angebliche humanitäre Verpflichtungen als alternativlos ausgegeben werde.

Verblassen damit die grundlegenden Unterschiede zwischen links und rechts?

Die Ideen von dem, was das „Volk“ eigentlich ausmacht, sind links und rechts schon immer ganz gegensätzlich gewesen und obendrein auch jeweils intern umstritten und widersprüchlich. In der antiautoritären Phase der Neuen Linken sollten die bereits „emanzipierten Menschen“ den Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit wagen; K-Gruppen sahen kurze Zeit darauf „die Massen“ als revolutionäres Subjekt im globalen Klassenkampf vor. Heute geht es in der linken Bewegungen neben einem generalisierten „Antifaschismus“ vor allem um die Durchsetzung politischer Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ und damit um den Protest gegenüber der Eigenbewegung eines deregulierten, globalisierten und spekulativen „Kasinokapitalismus“. Auch dabei kann es zu Konfrontationen kommen, in die sich international vernetzte und gewaltbereite Kampfbünde einklinken, wie sich 2011 mit „Occupy“ in New York, 2013 und 2015 mit „Blockupy“ in Frankfurt und 2017 mit den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg gezeigt hat.

Im Rechtspopulismus dagegen ist der Begriff des „Volkes“ an eine zu rettende oder wieder zu verwirklichende ethnische oder kulturelle Homogenität gebunden. Mit ihr wird in manchen Kampfbünden auch ein gewalttätiger Kampf gegen Einwanderung gerechtfertigt. Homogenisierungswünsche richten sich dabei nicht nur gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer, sondern in vielen Ländern auch gegen altansässige Minderheiten und vor allem gegen den liberalen Individualismus der kosmopolitischen „Eliten“ des Westens, die das Eigenrecht von Ethnizität nur den fremden Minderheiten zugestehen würden, nicht aber dem eigenen Volk. Der wichtigste Unterschied zwischen einem linken und einem rechten Populismus bleibt daher immer noch die jeweilige Definition des demokratischen Subjekts. Ist es über „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ von Bürgerinnen und Bürgern definiert oder durch eine exklusive ethnische und kulturelle Zugehörigkeit bestimmt?

Der Populismusvorwurf bezieht sich doch vor allem auf politische Strategien!

Bereits Vilfredo Pareto hat 1916 in seinem Tratatto di Sociologia Generale versucht, die strategische Mechanik aufzudecken, die unabhängig von einzelnen Ideologien wirkt. Für Pareto gibt es drei Akteure: eine herrschende Elite, eine nicht herrschende Elite und das beherrschte Volk. Wenn die herrschende Elite nicht mehr „vital“ d. h. kampfbereit, sondern „dekadent“, sprich kampfesmüde, geworden ist, versucht eine Gegenelite, im Kampf um die Macht das beherrschte Volk auf ihre Seite zu ziehen und mit seiner Hilfe die Herrschenden zu stürzen. Die herrschende Elite versucht dann dies zu verhindern, indem sie den Beherrschten ebenfalls Hoffnungen auf einen Systemwechsel macht. Wenn die Gegenelite gewonnen hat, verwandelt sie sich über kurz oder lang ebenfalls in eine dekadente und kampfesmüde Herrschaft und versucht über Absprachen und Vergünstigungen gefahrlos an der Macht zu bleiben – mit der Folge, dass auch sie über kurz oder lang von neuen Gegeneliten herausgefordert wird. Dieser „Kreislauf der Eliten“ wird von Pareto mit den Begriffen Vitalität und Dekadenz beschrieben, die heute kaum noch überzeugen. In seinem Modell kommt aber die Strategie gut zum Ausdruck, mit unbegrenzten Versprechungen an ein Volk die Herrschaft zu erobern – und ebenso die Strategie der bedrohten Eliten, sich durch ähnliche Versprechungen und notfalls durch Koalitionen mit einem Teil der Angreifer an der Macht zu halten. Beide Strategien, die der Eroberung von Herrschaft und die der Verteidigung derselben durch unrealistische Versprechungen, werden heute als populistisch bezeichnet.

Was ist dazu grundsätzlich zu sagen?

Populismus weist oft auf ungelöste oder neu entstandene Systemprobleme hin, die zum Vertrauensverlust der Regierungen und darüber hinaus zur De-Legitimierung der verfassungsmäßigen Ordnung beitragen. (So wurde beispielsweise den Mittelmeerstaaten mit dem Beitritt zum Euro die Abwertung der eigenen Währung unmöglich gemacht und gleichzeitig die Aufnahme von Schulden erleichtert. Die nördlichen Exportnationen haben dagegen von dem Beitritt der Südländer durch einen insgesamt niedrigeren Kurswert des Euro profitiert. Gäbe es die DM noch, wäre ihr Kurswert um 30% höher als ihr Umrechnungskurs heute beträgt.57) Man kann sich vorstellen, was dies für die Außenhandelserfolge Deutschlands bedeutet hat und sollte ebenso wahrnehmen, was der Euro für Länder im Süden Europas bedeutet hat.) In der Fundamentalkritik die dem Populismus zugrunde liegt, geht es aber um mehr, nämlich um den Raum gesellschaftlicher Möglichkeiten an sich.

Wie können wir erkennen, was möglich ist?

Ob etwas „möglich“ oder „unmöglich“ ist und ob etwas durch eine absichtliche oder „systembedingte“ Verschwörung verhindert oder erzwungen wird, ist in Teilen auch eine Sachfrage und bedarf der konkreten Analyse: Wo gibt es Spielräume, und wo müssen dagegen bestehende oder absehbare Grenzen der Möglichkeiten respektiert werden? Es gilt also, die jeweiligen Annahmen mit ihren Realisierungsmöglichkeiten und mit deren Konsequenzen zu konfrontieren, was Populistinnen und Populisten oft durch pauschale Leugnung von Fakten zu verhindern suchen. Im Streit um den Treibhauseffekt nimmt diese Strategie wieder einmal groteske Formen an. Der Faktencheck in Bezug auf die geforderten oder bekämpften Einzelmaßnahmen sollte darum an erster Stelle stehen. Bestehende Probleme müssen als solche anerkannt und rasch bearbeitet werden, damit sie sich nicht in verschwörungstheoretischen Weltbildern verfestigen. Was gesellschaftlich möglich ist, welche Folge die Verwirklichung hätte und ob sie dann noch wünschenswert sein dürfte, ist nur in einer Auseinandersetzung über Sachfragen zu ermitteln und geht darum selten in Meinungsbilder oder gar in Volksabstimmungen (wie die über den Brexit) ein. Hier hat die Wissenschaft eine wichtige Aufgabe im demokratischen Prozess. Der Kritik an der Demokratie kann obendrein durch eine wirksamere Kontrolle der Finanzmärkte, durch Transparenz in der Parteienfinanzierung, durch Korruptionsbekämpfung, durch die steuerliche Anerkennung von Bürgerinitiativen und dem Aufbau unabhängiger Expertise in Bezug zu fundamentalen Streitfragen begegnet werden.

Wie gefährlich ist dieser Populismus?

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt,58) Professoren an der Harvard Universität, kommen nach dem Vergleich von vielen hundert historischen Fallstudien zu einem aufrüttelnden Ergebnis: Populistische Bewegungen, die die parlamentarische Demokratie von links oder rechts angreifen, sind aufgrund ihres engen Spektrums an politischen Themen und ihrer Orientierung an vorübergehenden Meinungstrends selbst zu instabil, um allein die Macht zu ergreifen. Erst wenn vormals gemäßigte Parteien ihre Themen aufgreifen und sich schließlich mit ihnen verbünden, entsteht die Chance einer neuen Mehrheit, mit der dann die Weichen in Richtung auf einen autoritären Staat gestellt werden können. Wenn wir diese These in den Begriffen formulieren, die Pareto vor hundert Jahren entwickelt hat, ist es letztlich nicht die Gegenelite für sich allein, die „im Namen des Volkes“ eine neue Herrschaft begründet, sondern erst das Bündnis eines Teils der alten Eliten mit den zeitweise siegreich scheinenden Angreifern, das zum Ende rechtsstaatlicher Demokratien geführt hat.

Extremismus als Ergebnis von Radikalisierung

Extrem rechts oder rechtsextrem – was heißt das eigentlich?

Populistische Forderungen und Versprechungen, die nicht realisierbar sind und sich mit verschwörungstheoretischen Behauptungen gegen Kritik wappnen, mögen falsch und fatal sein, sind aber an sich nicht notwendig extremistisch. Sie können aber letzten Endes zur Erosion einer Ordnung beitragen, in der politische Entscheidungen an verfassungsrechtliche Regeln gebunden sind und durch diese begrenzt werden. Der Begriff des Extremismus ist im Sprachgebrauch doppeldeutig. Einmal bezeichnet er die „Extreme“ von „rechts“ und „links“ als den beiden Endpunkten eines gedachten linearen Kontinuums politischer Ordnungsvorstellungen, vor allem zwischen den grundsätzlichen Präferenzen für „Bewahren“ oder aber „Verändern“ oder zwischen „Hierarchie“ oder aber „Gleichheit“, die in jedem System der Willensbildung auftreten können. Auf diesem Kontinuum können sich Wähler trotz aller Widersprüche und Veränderungen heute immer noch gut einordnen. Die heute laufenden Radikalisierungsprozesse sind jedoch nicht hinreichend als Extremwerte auf einer (und nur einer) Achse von Einstellungen zu verorten.

In einer anderen Fassung hat sich „Extremismus“ in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als Bezeichnung für „Bestrebungen“ durchgesetzt, die mit dem demokratischen Verfassungsstaat, so wie er im Grundgesetz formuliert worden ist, nicht vereinbar sind. Das erste Modell kommt in den Bezeichnungen „extrem rechts“ und „extrem links“ zum Ausdruck, die zweite, staatsrechtliche Definition in den Adjektiven „rechtsextrem“ und „linksextrem“. Beide Begrifflichkeiten gehen jedoch durcheinander. Am linken oder rechten Ende des traditionell linear gedachten Kontinuums politischer Orientierungen sind verfassungsfeindliche Einstellungen tatsächlich am stärksten vertreten. Sie kommen aber auch bei denen vor, die sich selbst der „Mitte“ zurechnen oder entsprechend wählen, wie die Umfragen nicht erst neuerdings, sondern seit dem Beginn der Wahlforschung in den fünfziger Jahren immer wieder festgestellt haben. Mit Islamismus und Jihadismus ist eine neue Dimension hinzugekommen, die kaum mehr in das überkommene Rechts-Links–Schema einzufügen ist.

Was folgt aus diesen begrifflichen Schwierigkeiten?

In dem vorliegenden Text wird nicht die lineare, sondern die verfassungsrechtliche Bestimmung des Extremismusbegriffs zugrunde gelegt: Wenn z. B. die „unantastbare Würde“ des Menschen auf die Angehörigen der Eigengruppe beschränkt wird, wenn Volksverhetzung stattfindet, wenn die Presse behindert oder angegriffen wird, wenn demokratische Verfahren und ihre Kontrolle durch den Rechtsstaat abgelehnt und politische Ziele mit Gewalt oder Gewaltdrohung angestrebt werden, dann handelt es sich um Extremismus. So gesehen markiert Extremismus – von welcher Seite auch immer – mit der Geringschätzung der Prinzipien einer freiheitlich demokratischen Grundordnung eine fortgeschrittene Stufe von politischer Radikalisierung, in der es nicht mehr nur um die Ablösung der jeweils Regierenden geht, sondern darum, im Namen einer Religion, eines Volkes oder einer als herrschaftsfrei gedachten Zukunft das parlamentarische und rechtstaatliche „System“ zu schwächen oder zu überwinden. Das aber geschieht nicht nur am rechten oder linken Ende eines Kontinuums, sondern kann auch mit radikal libertären Überzeugungen verbunden sein, die dem Staat die finanziellen Mittel entziehen wollen, mit denen er Sozialpolitik zur Sicherung von Menschenwürde betreibt.

Die Eigendynamik der Kampfbünde

Wo kommt es zu dem Einsatz von Gewalt?

Innerhalb von politischen Bewegungen etablieren sich radikale Kampfbünde: linke „Autonome“ mit ihren schwarzen Blöcken, die gegen Zentralbanken und Gipfeltreffen, bzw. die diese absichernde Polizei losschlagen; rechte „Kameradschaften“, die sich zum Kampf für „national befreite Zonen“ und gegen Zuwanderer und ihre politischen Anwälte berufen fühlen; salafistische Agenturen für ausreisewillige „Jihadistinnen und Jihadisten“; nationalistische „Graue Wölfe“, die von der Einheit aller Turkvölker träumen, kurdische Freiheitskämpfer und daneben viele kleine, aber meist traditionsreiche Politsekten. Dies bedeutet nicht, dass all diese Bewegungen auf eine gleiche Ebene gestellt werden können, was Formen, Zielpersonen, Vorkommen und Ausmaß der Gewalt angeht. Rechtsextreme Gewalt richtet sich hauptsächlich gegen als farbig eingestufte Personen, gegen Juden, gegen „Ausländer“, Obdachlose und andere Außenseiter der Gesellschaft, die erschlagen, angezündet und erschossen werden – und seit einiger Zeit auch gegen Politiker und Repräsentanten eines Staates, der Flüchtlinge aufnimmt und schützt. Linksextreme Gewalt richtete sich in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren vor allem gegen Repräsentanten des Staates, des „Kapitalismus“ und Angehörige der amerikanischen Streitkräfte. Seit der Selbstauflösung der RAF 1998 sind hier allerdings kaum mehr Tötungsdelikte bekannt geworden. Heute schlagen sich linksextreme deutsche und aus dem Ausland anreisende Kampfbünde mit einer Polizei, die „rechte“ und „linke“ Aufmärsche voneinander zu trennen oder Konferenzorte und Stadtviertel zu schützen hat. Bei den gezielten Todesopfern steht seit dreißig Jahren die rechtsextreme Gewalt an einsamer Spitze, gefolgt von islamistischen Terroristen, die demonstrative Massaker im „Westen“ veranstalten.

Beruht diese Gewaltbereitschaft auf Gruppenprozessen?

Kampfbünde beweisen überall die Zugehörigkeit zu den von ihnen jeweils vorgestellten Gemeinschaften mit persönlichen und gleichzeitig außeralltäglichen Erfahrungen: Konfrontationen mit Gegendemonstranten und der Polizei, Straßen- und Häuserkämpfe bei G20-Gipfeln und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sollen nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit erregen und sind nicht nur gegen jeweilige „Feinde“ gerichtet, sondern fungieren gleichzeitig als Rituale einer Transformation, die aus einsamen und versprengten Individuen Helden eines Kampfbundes werden lassen. In ihren interaktiv verdichteten Gruppen erscheint die erhoffte „Morgenröte“ (so ein Nazilied) einer solidarischen und gemeinschaftlichen Zukunft bereits vorweggenommen. Liebe und Fürsorge in der Gruppe und Hass und Gewalt gegen deren Feinde stehen nicht im Widerspruch zueinander. Kampfbünde lassen ihren „heldenhaften“ Mitgliedern Belohnungen in Form von Bestätigung, Achtung und Verehrung zuteilwerden; sie geben ein Versprechen auf eine glorreiche diesseitige oder gar jenseitige Zukunft. Mit Gesängen, Geschichten und gezielt inszenierter körperlicher „Feindberührung“ wird der Übergang aus der Vereinzelung in die große Communitas59) bzw. der Weg aus einer „entfremdeten“ Vergangenheit in eine „authentische“ Zukunft gefeiert.

Die Struktur dieser Kampfbünde hat sich allerdings in den letzten zwanzig Jahren mit den neuen Möglichkeiten des Internets gewandelt. Waren es im letzten Jahrhundert meist hierarchisch organisierte Kampfgruppen, Parteien und „Fraktionen“, sind es heute – vergleichbar mit Franchising in der Wirtschaft – immer mehr dezentrale „Netzwerke“, die sich virtuell um eine politische Idee sammeln. In der rassistischen Szene spricht man seit langem von „leaderless resistance“, um diese flexible Form gewaltsamen Kampfes zu propagieren. Die Sicherheitsbehörden erwarteten lange Zeit noch hierarchische Strukturen, wie sie z. B. bei der RAF zu finden waren. So konnte die Strategie von „Combat 18“, dem militanten Flügel der rassistischen und neonationalsozialistischen Bewegung „Blood and Honour“ (zu der der „Thüringische Heimatschutz“ und das spätere Zwickauer Trio des „NSU“ über die Chemnitzer Neonaziszene Kontakt hatten) in Deutschland den behördlichen, in der EU vereinbarten Terrorismusbegriff unterlaufen.60) Heute stellt das Internet viele offene und verdeckte Kommunikations-, Organisations- und Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung, ohne dass diese hierarchisch organisiert werden müssten. Der Einsatz von Waffen muss nicht mehr auf aufgelassenen Militärbasen in tschechischen Wäldern geübt werden, sondern lässt sich auch in Egoshooterspielen erlernen. Damit bekommt im Terrorismus auch das Phänomen der „einsamen Wölfe“ eine neue Bedeutung: Sie agieren zumeist allein, sind aber gleichzeitig eingebunden in lokale, regionale und weltweite Gesinnungsgemeinschaften und orientieren ihre Kampfhandlungen an diesen. Ihre Aktionsformen lassen sich auch von feindlichen Bewegungen inspirieren. Oslo, Boston, Paris, Brüssel, Nizza, Charlottesville, Berlin, Christchurch, El Paso und Halle liegen in virtueller Nachbarschaft.61)

Wer verteidigt den Rechtsstaat?

Zunächst einmal ist dies die Aufgabe der „Zuständigen“, also von Sicherheitsbehörden, Polizei und Justiz. Zivilgesellschaftliche Opferschutzeinrichtungen können jedoch für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen und private und staatliche Hilfe mobilisieren. Die Bürgerinitiativen, die sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert nationalsozialistischen Aufmärschen entgegenstellen, zeigen, dass der Widerstand gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen nicht allein „der“ Politik und den Sicherheitsbehörden überlassen bleiben muss. Diese müssen vielmehr selbst – wie sich mehrfach gezeigt hat – Gegenstand der Wachsamkeit von Presse und Zivilgesellschaft sein. Gegenüber den Kampfbünden haben diese Bürgerinitiativen erst einmal einen strategischen Nachteil: Sie sind typischerweise nur locker organisiert und haben zumeist auch kein Interesse daran, die Organisationsformen ihrer Gegnerinnen und Gegner zu übernehmen, weil ihre Mitglieder auch in der gegenwärtigen Konfliktlandschaft die Vielfalt ihrer Zugehörigkeiten und Loyalitäten aufrechterhalten wollen. Bei ihren Auftritten sind sie gleichwohl immer wieder den Versuchen gewaltbereiter Gruppen ausgesetzt, sich in Demonstrationen einzuklinken, um mit Konfrontationsgewalt Lebenszeichen von sich zu geben und die anderen mitzureißen. Sie versuchen, staatliche Auflagen „umzufunktionieren“, z. B. ein versammlungsrechtliches Verbot der Vermummung dazu zu nutzen, mit der Verhüllung des Gesichts Polizeikräfte zum Einsatz zu zwingen, um nach der darauf erfolgenden Selbstauflösung der angemeldeten Demonstration den Weg zu Ausschreitungen in ganzen Stadtvierteln zu eröffnen („welcome to hell“), wie in Hamburg 2017 wieder einmal geschehen.62)

Stufen der Eskalation

Verändern sich politische Bewegungen über die Zeit hinweg?

Die Entstehungsbedingungen und anfänglichen Motivationen in politischen Bewegungen bestimmen nicht notwendig die Charakteristika, die sich später in ihnen durchsetzen. Vielmehr verändern sich die Profile einzelner Gruppen in der Konkurrenz untereinander und im Kampf mit den gegnerischen Gruppen fortwährend. Gerade Bewegungen unterliegen einem schwer vorherzusehenden, weil von Ereignis zu Ereignis fortschreitenden Wandel.63) Das erschwert die Prognose ihrer Entwicklung. Dies bedeutet, dass auch die künftige Entwicklung der sich gegenwärtig radikalisierenden Bewegungen, insbesondere der Neuen Rechten und des globalen Islamismus nicht einfach zu prognostizieren sind. Die persönlichen Erfahrungen werden von Akteurinnen und Akteuren oft unterschiedlich interpretiert: In der Neuen Linken der Siebzigerjahre begaben sich manche auf den „Marsch durch die Institutionen“ und erlernten dabei politischen Pragmatismus und Kompromissbereitschaft. „Revolutionäre“ trennten sich von diesen „Revisionisten“ und gingen im Namen der ideologischen Reinheit, bzw. des angeblich „objektiv Notwendigen“ gegen „Kompromissler“ und „Abweichler von der Parteilinie“ vor. Wieder andere schlossen sich den Terrorgruppen an. Auch heute noch werden „Abtrünnige“ als Verräter bekämpft.

Gibt es bei diesen Abläufen Regelmäßigkeiten?

Die Bewegungen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Versuche, Stufen der Eskalation nachzuzeichnen, die aber keineswegs als „Entwicklungsgesetze“ verstanden werden dürfen, aber in der jeweiligen Antwort von Politik und Sicherheitsbehörden zu berücksichtigen sind, wenn weitere Eskalationen vermieden werden sollen.64)

Auf einer ersten Stufe erzeugen fundamentale Konflikte über den Weg der Gesellschaft die Bereitschaft zum Protest. Auch die Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke, um die Stationierung von Raketen in den Achtzigerjahren und um Stuttgart 21 oder den Hambacher Forst in den letzten zehn Jahren sind dieser Stufe zuzurechnen. Im Rahmen von Demonstrationen kann es gewollt oder ungewollt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen. In diesem Stadium sind die Reaktionen der Sicherheitskräfte von besonderer Bedeutung. Sie können zur Begrenzung der Eskalation beitragen, wenn es ihnen gelingt, Gewalt zu verhindern und zu vermeiden, selbst wenn es den politisch Aktiven in den Bewegungen oder auch den Repräsentanten des Staates darum gehen sollte, „Exempel zu statuieren“.

Auf einer zweiten Stufe der Eskalation kommt es in politischen Bewegungen zu einem Überbietungswettbewerb unterschiedlicher „Bewegungsunternehmer“ hinsichtlich der Entschlossenheit zum Kampf. In dieser Phase bilden sich die bereits beschriebenen Kampfbünde heraus. Gewalt ereignet sich dann nicht mehr nur in „der Hitze des Gefechts“, sondern wird von einzelnen Fraktionen strategisch eingesetzt oder in Kauf genommen. Moralische Hemmschwellen werden über die Herabwürdigung der Gegner als „Bullen“ oder „Zecken“ eingeebnet.

Auf einer dritten Stufe kann der Überbietungswettbewerb einzelne Gruppen auf den Weg in den terroristischen Untergrund führen. Bei der Entstehung der RAF innerhalb der antiimperialistischen Bewegung um 1970, des NSU in der fremdenfeindlichen Bewegung der Neunzigerjahre und des Jihadismus im postkolonialen Islamismus der Gegenwart können wir jeweils zeitversetzt eine terroristische Zuspitzung nachzeichnen. Auch künftig kann es dazu kommen, dass sich mit der Radikalisierung politischer Bewegungen Kampfbünde bilden und dass sich in diesen irgendwann terroristische Zellen verselbstständigen, weil sie Waffen für wirkmächtiger halten als bloße Worte.

Wechselwirkungen zwischen gegnerischen Gruppen

Wie wirken rechte, linke und nun auch islamistische Kampfbünde aufeinander?

Einander feindliche Kampfbünde tendieren dazu, sich im Kampf wechselseitig zu bestätigen. In spektakulären und insbesondere gewalttätigen Auseinandersetzungen gegeneinander können beide Seiten öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, sich als Opfer von Angriffen der Gegner darstellen und damit die eigenen Kampfmittel rechtfertigen. Eine im kriminologischen Sinne vigilante, d. h. ungesetzliche „Selbsthilfe“ gehört nicht nur bei der radikalen Rechten im Kampf gegen Zuwanderung und deren Verteidiger, sondern auch bei der radikalen Linken im Kampf gegen „die Faschos“ zum Prinzip: Gewalt wird mit dem Argument gerechtfertigt, dass der Staat seinen Aufgaben nicht nachkomme. Beide versuchen mehr oder minder erfolgreich, die jeweiligen Konfrontationen zum Exempel der von ihnen wahrgenommenen Makrokonflikte zu dramatisieren. Kleinstparteien, die sich in der Tradition bolschewistischer und anarchistischer Kämpferinnen und Kämpfer von vor hundert Jahren sehen, klinken sich in gewaltfrei geplante Demonstrationen ein, um sie über die Eskalation der Konflikte in einen „kommenden Aufstand“ weiterzutreiben. Islamistinnen und Islamisten sehen sich durch die Feindschaft rechter Kampfgruppen darin bestärkt, dass der Islam und die westliche Kultur unvereinbar seien, die Rechten werden umso eher zu der gleichen Diagnose gelangen, je mehr Gewalt von zugewanderten Gewalttätern sowie islamistischen Terroristinnen und Terroristen ausgeht. Tatorte werden zu Wallfahrtsorten ausgebaut. Frieden ist für beide Seiten illusionär, solange er nicht durch die eigene Herrschaft gewährt wird. Alle Seiten fordern mit dem Hinweis auf die Gewalt der Gegenseite und die eigene Opferrolle Solidarität innerhalb der von ihnen erreichbaren Milieus ein und greifen zudem den Rechtsstaat an, dessen Gewaltmonopol sie nicht anerkennen oder der Gegenseite zurechnen. Wechselwirkungen dieser Art können die Feindschaft ganzer Bewegungen eskalieren lassen, wenn sie nicht durch gewaltfreie Mehrheiten in den Bewegungen selbst und notfalls durch die Sicherheitskräfte des Staates ausgebremst werden.

Ein Forschungsbericht zum Thema „Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung“65) schildert die übereinstimmenden Muster in den Erzählungen in der Muslimfeindlichkeit und im radikalen Islamismus: die „Dämonisierung der Fremdgruppe“, die Behauptung der „Viktimisierung der Eigengruppe“ und die „Verschwörung“ als Erklärung für die Verblendung von Menschen, die die jeweilige Perspektive nicht teilen.66) Radikalisierte Gruppen benötigen Türöffner-Themen, um breitere Unterstützung anzuziehen, die sie jeweils in angeblichen Belegen für „Islamisierung“ und „Islamophobie“ finden, bzw. sich wechselseitig liefern.67) Übereinstimmend preisen beide Seiten „Männlichkeit, Wehrhaftigkeit und Kriegerkultur“.68) „Die Ästhetisierung von Kampf, Krieg, Soldatentum und Heldentum gilt für beide Spektren als identitäre Stütze.“ Und sie benötigen sich wechselseitig als „Negative Projektionsfläche für ihre exklusiven Identitätsangebote“.69) Dramatische Ereignisse dienen beiden als „Eskalationsschraube“. „Sie lernen voneinander, nutzen Trolling, um politische Diskussionen durch emotionale Provokationen zu unterminieren“.70) Beide Seiten treiben die Polarisierung der Gesellschaft und die „Auslöschung der Grauzone“ voran71) und versuchen gleichzeitig, das eigene Milieu auszuweiten und zu integrieren. All diese Thesen werden in der Studie mit Zitaten und Screenshots belegt. Die Autoren und Autorinnen kommen zu dem Ergebnis: „Die sich wechselseitig bestärkende Auseinandersetzung zwischen islamistischen und muslimfeindlichen Ressentiments rüttelt an den Grundfesten der offenen Gesellschaft“.72) Während die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus weitgehend Geschichte ist, ist der freiheitliche und demokratische Rechtstaat zunehmend in das Doppelfeuer von rechtsextremer und islamistischer Feindschaft geraten, die sich wechselseitig vorantreiben.

Identitätspolitik: Männlichkeit und die Banalisierung des Bösen

In einem früheren Abschnitt diese Textes wurde die These von Amartya Sen diskutiert, dass die Reduzierung der Vielfältigkeit unserer Identitäten auf eine singuläre Identität letztlich zu Gewalt und Unmenschlichkeit führt. In Ergänzung dieser These wurde darauf hingewiesen, dass es erst zumeist die Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte ist, die eine solche Reduktion der Identitäten plausibel werden lässt. Gleichwohl tragen die regelmäßig propagierten Ideologien von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen einem „Reich des Guten“ und einem „Reich des Bösen“ zur Anerkennung, Ausbreitung, Normalisierung und Steigerung von Gewalt als Mittel der Politik bei. Das zeigt schon der Hass in dem verbalen Straßenkampf im Internet. Ihm rechtliche Grenzen zu setzen und die Unantastbarkeit der Menschenwürde sicherzustellen, (ohne sachlich abweichende Meinungen zu kriminalisieren), bleibt die schwierige Aufgabe des Gesetzgebers und der Sicherheitsbehörden.

Wut und Hass – aggressive Affekte und ihre Rehabilitation

Sind Wut und Hass im Internet und bei Demonstrationen Folge oder Mittel von Radikalisierung?

Der öffentliche Ausdruck von Affekten ist keineswegs neu, wenn man sich historische Massenszenen über die Jahrhunderte hinweg vergegenwärtigt. Neu könnte allenfalls sein, dass ihre Darstellung in vielen und darauf spezialisierten Blogs, ähnlich wie Pornografie, vermehrt den Wunsch aufkommen lässt, selbst auch einmal dabei zu sein und sich unmittelbar auszuleben – und dabei vielleicht auch ins Fernsehen zu kommen. Wichtiger könnte aber ein anderer Aspekt sein: Politische Botschaften wirken durch die Darstellung der mit ihnen verbundenen Emotionen authentischer und glaubhafter. Peter Sloterdijk73) ist davon überzeugt, „dass Zorn (zusammen mit seinen thymotischen Geschwistern, dem Stolz, dem Geltungsbedürfnis und dem Ressentiment) eine Grundkraft im Ökosystem der Affekte darstellt, ob interpersonal, politisch oder kulturell“.74) Diese „negativen Affekte“ seien in der Vergangenheit von religiösen Institutionen und politischen Bewegungen „bewirtschaftet“ worden. In der heutigen globalisierten Situation sei jedoch „keine Politik des Leidensausgleichs mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut“.75) Daher plädiert er für eine „Rationalitätskultur“, die diesen Versuch des Ausgleichs aufgibt und sich auf die altliberalen Werte der Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zurückbesinnt.76) Ob freilich Empörung besänftigt werden kann, wenn der Rechtsanspruch auf soziale Hilfe durch freiwillige Leistungen der Reichen abgelöst würde,77) ist zu bezweifeln.

Im Gegensatz zu ihm möchte sein ehemaliger Mitarbeiter Marc Jongen den „Zorn“ und dessen „Geschwister“ erneut sammeln und organisieren: Deutschland leide an einer „thymotischen Unterversorgung“ und damit an der „Entmännlichung unseres Volkes“ und könne sich gegen thymotisch stärkere Kulturen, die noch hassen können, nicht mehr wehren. Daher brauche es „einen überlebensnotwendigen Wechsel in der Tonlage dieses Zorns … Er soll nicht blind sein, dieser Zorn, aber er muss erst einmal wieder in sein Recht gesetzt werden ….“. Marc Jongen78) geht hier mit Götz Kubitschek, dem Herausgeber der neurechten Zeitschrift „Sezession“ konform: Nicht „unkontrollierte Aggression“, sondern das „Erlahmen der Abwehrbereitschaft“ war schon 2009 für die Neue Rechte der „Ernstfall an sich“.79) Dementsprechend forderte Kubitschek die Ablehnung der Toleranz in der heutigen Form.80) Die Rechtsrockband „Störkraft“ verkündete bereits zu Beginn der Neunzigerjahre: „Wut, Stolz in jedem Mann, Blut und Ehre für das Vaterland!“ Jongen und Kubitschek bauen heute an der Brücke zu den heroischen Visionen des (keineswegs „konservativen“) völkischen Vitalismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Gleichzeitig empfiehlt Kubitschek seinen Gefolgsleuten in der AfD, „in Grenzbereichen des gerade noch Sagbaren und Machbaren provozierend vorzustoßen“. Dem solle dann jeweils eine „Selbstverharmlosung“ folgen: d. h. „der Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, dass nichts von dem, was man fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“.81)

Was heißt das für die Politik?

So sicher es ist, dass „Thymos“, also Wut, Stolz und Zorn als handlungsbestimmende Affekte in Konflikte eingebracht werden oder in ihnen entstehen, diese weitertreiben und häufig auch nach ihnen suchen, so wenig taugen sie zum politischen Programm. Hier wirken sie als Brandbeschleuniger. Der in der Thymoslehre des altgriechischen Philosophen Platon, auf die Sloeterdijk und Jongen sich beziehen, als drittes Element vorgesehene Stolz dagegen könnte – entgegen der neurechten Forderung – geradezu bedeuten, dass man die historischen Verirrungen der eigenen Nation, die man dennoch liebt, nicht verdrängt oder schlicht leugnet. Man kann, man sollte sie in dem Wissen, dass man selbst zur Täterin oder zum Täter hätte werden können, als Auftrag für eine humane Zukunft durchaus stolz annehmen. Davon abgesehen ist unsere „Thymosversorgung“ auch in Friedenszeiten nicht gefährdet, sondern kann im Mannschaftssport, bei der Polizei und der Feuerwehr, im Rettungsschwimmen in überfluteten Höhlen, beim Extremklettern in den Alpen und auf Abenteuerreisen realisiert werden. „Echte Männer“ brauchen dafür keine Kriege, wie man vor hundert Jahren meinte. Der Thymos, dessen Anerkennung und Befriedigung die Neue Rechte heute vermisst, hat bereits in den Zwanzigerjahren auch kultivierte Geister wie Ernst Jünger in die Nähe von extremistischen Kampfgruppen geführt. Wir sollten jedenfalls davor gewarnt sein, die emotionalen Anreize für politische und kriegerische Gewalt zu unterschätzen – oder die Konflikte zu bagatellisieren, in denen sie Verwendung finden.82) Die Abwertung von Toleranz ist allerdings nicht neu und nicht nur „rechts“. Noch 1968 erklärten radikale Linke Toleranz zu einem bürgerlichen und deshalb irrelevanten Begriff. Es könnte durchaus sein, dass die neuen Nationalismen, die sich in aller Welt ausbreiten, tatsächlich zu politischen Sammelstellen solch negativer Impulse werden. Darauf – mit Jongen – zu spekulieren, ist aber angesichts der Opfer des letzten Jahrhunderts mehr als obszön.

Gewaltbereite Männlichkeit

Kommt hier die „Singularisierung“ von Identität ins Spiel, vor der Sen warnt?

Gegenwärtig nimmt die Auseinandersetzung um „Identität“ die Form eines neuen Kulturkampfes an. Es geht dabei nicht nur um die Frage, welche Bedeutung kämpferische Impulse wie „Wut“, „Hass“ und „Zorn“ heute haben, sondern noch grundsätzlicher darum, was „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ „an sich“ sind. Hier stoßen linke und liberale Betrachtungsweisen auf der einen Seite und rechte und islamistische Vorstellungen auf der anderen Seite aufeinander. Zunächst hat der Feminismus erfolgreich die überkommenen Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit infrage gestellt, die oft über berufliche Chancen, Macht und Herrschaft entscheiden und in ihm als „Gender“ bezeichnet werden, weil sie in gesellschaftlichen Diskursen definiert würden. Daraus ist „Gender Mainstreaming“ entstanden als Versuch, eine „geschlechtersensible“ Praxis in allen gesellschaftlichen Feldern durchzusetzen – dem Prinzip nach nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. „In den Gender Studies (…) wird Geschlecht als ein Mechanismus begriffen, über den soziale Positionen, Arbeit, Macht, Ressourcen und Anerkennung different und hierarchisch zugewiesen werden“.83) Physiopsychische, also auch körperlich bedingte Differenzen, die möglicherweise in unterschiedlichen Vorlieben von Frauen und Männern zum Ausdruck kommen, werden nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber zumeist ignoriert, – worauf Barbara Duden schon vor Jahren hingewiesen hat.84)

Und wie argumentiert die Gegenseite?

Mit dem Erfolg der feministischen Bewegung, wie er z. B. in Quotenregeln sichtbar wird, nimmt auch die Ablehnung und der erklärte Widerstand gegen sie zu. Es geht nicht nur darum, dass jede Bevorzugung einer Person auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit auch die Benachteiligung einer anderen Person wegen einer ebensolchen mit sich bringt. Dem „Genderwahn“ wird von seinen Gegnern und Gegnerinnen vorgeworfen, eine neue Vorwegdefinition zu dogmatisieren, in der unterschiedliche körperliche und psychische Dispositionen von Männern und Frauen als Ergebnisse der Evolution geleugnet würden. Der neugeborene Mensch werde als Tabula Rasa betrachtet, die beliebig beschriftet werden könne.85)

Wer hat denn hier recht?

Man sollte sich nicht auf die Alternative „Gene oder Diskurse“ einlassen. Die genetische Trennung und „Neuvermählung“ der Erbinformationen ist zweifellos ein Ergebnis und ebenso ein Mittel der Evolution des Lebens. Die Anpassungsfähigkeit vieler Lebewesen hängt an der Variation des Erbgutes im Generationsgang, die vor allem durch diese Zweigeschlechtlichkeit garantiert ist. Gleichzeitig ist diese Dichotomie schon genetisch (und umso mehr kulturell) nicht lückenlos, sondern kennt Alternativen, z. B. Umwandlungen unter den Bedingungen der Geburt, im Lebenslauf und kennt Zwitter. Genetik stützt also nicht nur binäre, sondern auch vielfältige und mehrdeutig körperbezogene Identitäten. Ohnedies dürfte es letztlich nur auf die Selbstbestimmung durch die Betroffenen ankommen, unabhängig von den jeweils kursierenden theoretischen Letztbegründungen.

In der Neuen Rechten wird jedoch das Rollenbild des Mannes als eines heroischen Kämpfers und potenziellen Herrschers verteidigt, das in der Tat über Jahrtausende unsere Geschichte bestimmt hat. Es geht also nicht bloß um die Anerkennung von Unterschieden in den Gefühlslagen, die angesichts der Variation der hormonellen Steuerung zwischen den Geschlechtern (und innerhalb derselben) möglich und wahrscheinlich sind, sondern um die Forderung, „Kampf“ als männliches und „Fürsorge“ als weibliches Wesensmerkmal mit je eigenem evolutionärem Auftrag kulturell festzuschreiben. Dieser Dualismus zeige sich schon darin, dass für Frauen „harte“ Männer attraktiver seien als „softe“ – und umgekehrt. Selbst wenn der Typus „Neandertaler“ erotisch erfolgreich sein sollte: Die Evolution erteilt keine politischen Aufträge und legitimiert keine Folgerungen, die der Selbstbestimmung der Individuen hinsichtlich von Partnerinnen und Partnern, sportlichen Aktivitäten und Berufen vorgreifen. Man sollte vielmehr Barrieren wegräumen und ruhig abwarten, wie und wo Menschen sich dann positionieren. Es mag durchaus sein, dass manche Männer oder Frauen die Rückkehr zu alten und vor allem diskursfreien Geschlechterrollen begrüßen würden. Und ebenso könnte bei manchen Reisenden nach Rakka zum IS der Wunsch mitgespielt haben, als „echte“ Frau einen „echten“ Mann zugewiesen zu bekommen – und umgekehrt. Wir haben das nicht zu entscheiden, können aber damit umgehen, solange Mädchen gleichberechtigt in Beruf und Öffentlichkeit eintreten können und so lange Jungen nicht wieder (auch von Müttern) aufgehetzt werden: „Schlagt euch, werdet Männer!“

Könnten in einer freiheitlichen Ordnung nicht alle nach ihrer Facon selig werden?

Der Kampf um die Anerkennung des Eigenen müsste sicherlich nicht gegen das Eigene der Anderen geführt werden. Was wir fühlen und wie wir uns sehen, könnte nach dem Muster religiöser Bekenntnisse privatisiert werden, damit Gleich und Gleich sich gesellen, Gegensätze sich anziehen und alle die jeweils anderen respektieren können. Sexualität, bzw. das „Begehren“ (Butler), das ein Teil dieser persönlichen Identität ist, löst jedoch ambivalente Gefühle der Lust, der Unlust und auch des Ekels aus. Viele Menschen glauben beides: dass sie fühlen, was gut ist und: dass gut ist, was sie fühlen – und verweigern die Anerkennung allem, was dem nicht entspricht. Den eigenen Gefühlen zu trauen, ohne diese damit zugleich zum allgemeinen Prinzip zu erheben, ist eine kognitiv voraussetzungsreiche Haltung. Wenn sich jedoch mit den eigenen Gefühlen zugleich die Vorstellung verbindet, dass nur ihre gesellschaftliche Durchsetzung den Fortbestand der Familie oder den Kampfesmut einer Gemeinschaft sichern könne, dann wird Toleranz oder gar Respekt unwahrscheinlich. Zum Nutzen der Familie oder des Volkes dürfte das freilich nicht gereichen.

Gewaltbereite Männlichkeit und „eindeutige“ Identität?

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Gender/Geschlecht und Wut?

In jeder Fußballrandale, bei Rockern und Hooligans, bei rechten und linken Straßen- und Häuserkämpfern und seit zwanzig Jahren bei Egoshooterspielen – einer weitgehend männlichen Domäne – dürfte Kampfgeist oder -sucht „mitspielen“. Erhabene Gefühle stehen nicht nur für den Frieden, sondern auch für Wettkampf, Gewalt und Krieg bereit – zumeist bei Männern, aber durchaus auch bei Frauen. Hooligans schildern die Vorfreude vor der Schlägerei: „Das Kribbeln im Bauch, die Vorfreude war immer schon da. Das ist wie so `ne Droge“.86) Diese emotionale Stimulierung wird im Internet kommerziell genutzt und sollte nicht unterschätzt werden. Mediale Modelle können immer wieder „do-it-yourself“- Projekte anregen. Im Gangsta-Rap gehören Sexismus und Gewaltfantasien zum Geschäftsmodell. Auch Hasskriminalität ist keine Verzweiflungstat und schon gar kein „Hilferuf“. Gewaltbereite Männlichkeit kommt in der Musikszene der neuen Nazis drastisch zum Ausdruck, wie Thomas Kuban 201287) eindrucksvoll gezeigt hat. Sie macht immer größere Umsätze und droht damit, irgendwann nicht mehr „nur“ Musikfeste zu veranstalten.

Die Banalisierung des Bösen

Welche Konsequenz kann die Ideologisierung solcher Gefühlslagen für den sozialen Frieden haben?

Exemplarisch sei hier Jack Donovan aus der rechtsradikalen Sammlungsbewegung „Alt.Right“ in den USA genannt, dessen Thesen gegenwärtig in die Neue Rechte Europas importiert werden und (mit anderen Publikationen des Antaios-Verlages) – diesmal ganz ohne „Selbstverharmlosung“ – deutlich machen, wohin die Reise gehen soll. Offen ist heute noch, wie weit und wie dauerhaft solche Vorstellungen über den engeren Zirkel von Neonazis, Rechtsrockern und der Neuen Rechten hinaus Anklang finden werden. Donovan plädierte schon 201688) für die Re-Polarisierung der Geschlechter. Dies verbindet sich bei ihm mit einer rigorosen Ablehnung von universalistischen Werten und Menschenrechten. Die von Amartya Sen befürchtete Singularisierung der sozialen Identität ist bei ihm zum chauvinistischen Programm geworden. 2018 verkündet Jack Donovan: „Nur Barbaren können sich verteidigen“. 89) Die Stärke der Barbaren liege darin, dass sie noch hassen können, was im „Imperium des Nichts“, d. h. in der Dekadenz einer liberalen und kapitalistischen Gesellschaft den Männern abhanden komme. Und Donovan macht deutlich, wie dem zu begegnen sei: Identität könne ein Mann nur als Angehöriger einer „Bande“ oder eines „Stammes“ gewinnen und müsse sie fortwährend gegen das „Imperium des Nichts“ erkämpfen. Der moralische Universalismus sei „eine Philosophie, die jeden Mann, der sie annimmt, vergiftet und entmannt“.90) Er „ist eine Philosophie für Männer, die aufgegeben haben. Sie haben ihr Land, ihre Frauen, ihre Würde und ihre Identität aufgegeben. Sie sind zu impotenten Halbmännern geworden, die es verdienen, Opfer und Sklaven zu sein.91)“ „Wenn die Stammesidentität alles ist, was zählt, dann gibt es ohne sie nichts mehr, was zählt.“92) Ein „Moralschaltknüppel … gestattet Männern, bedarfsgerecht vom hingebungsvollen und beständigen Sorgen für ihre Nächsten zum gnadenlosen Auslöschen Fremder umzuschalten, wenn es notwendig ist.“93) Wirkliche Männer „leben ohne Entschuldigungen, kühn und bereit, für das, was sie für sich und die ihren wollen und brauchen, zu kämpfen und es sich zu nehmen. Weil für sie jeder außerhalb des Stammes ein Niemand ist, nehmen sie – wenn sie es tun – niemandem etwas weg“.94) Eine Triebtheorie dient zur Begründung: „Dieser Trieb zum Konflikt ist das Männerschicksal. Er ist tragisch, aber das ganze Leben ist tragisch“, weil es Kampf sein müsse, der letztlich im Tod ende.95) „Barbaren sagen ‚Ja‘ zum Leben. Sie nehmen sich, was sie brauchen, und überlassen den Rest der Verwesung.“96)

Ist das wirklich mehr als eine romantische und aggressive Impulse heroisierende „Männerfantasie"?97)

Ja, sehr viel mehr! In diesen und ähnlichen Texten kommt ein verabsolutierter Partikularismus zum Ausdruck, der durch die Kampfbereitschaft der Männer verwirklicht werden soll. Gewaltphantasien an sich sind kein spezifisch modernes oder speziell rechtes Phänomen. Sie kommen schon in den Spielen „unschuldiger“ Kinder zum Ausdruck, haben in vielen Mythen und Märchen, in römischen Arenen, an indianischen Marterpfählen, in der „Lynchjustiz“, bei Folterungen von Hexen und generell bei politisch und religiös motivierter Gewalt seit jeher eine Rolle gespielt. Tötungen waren über Jahrhunderte ein öffentliches Spektakel und sind es im Internet auch heute. Die Chance solche Gewaltphantasien auch außerhalb der virtuellen Welt zu realisieren, wird jedoch umso eher geboten, wie gesellschaftliche Konflikte sich auf „Freund-Feind-Verhältnisse“ reduzieren. Wann das „Auslöschen“ der anderen „notwendig“ ist, hängt letztlich von Wahrnehmungen und Interpretationen ab. Wenn, wie de Benoist von der französischen Nouvelle Droite meint, die persönliche Identität von der Fähigkeit abhängt, einen Feind zu benennen,98) werden Menschen mit einer anderen Sprache, einem anderen Glauben, einer anderen Hautfarbe rasch zum Feind. Die Verschwörungstheorien, die dazu entwickelt werden, dass Menschen sich als angegriffene Opfer sehen und damit ihre Aggression rechtfertigen können, müssen nicht notwendig etwas mit irgendeiner Realität zu tun haben, wie die Geschichte des Antisemitismus immer wieder gezeigt hat. In einem (wahrgenommenen) „Ausnahmezustand“, einem Kipp-Punkt können Macht- und Ohnmachtsgefühle für Menschen bestimmend werden und möglicherweise noch bestehende moralische Bedenken ausschalten. Das vielfältige Nebeneinander und Ineinander von persönlichen, verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen, nationalen und humanen Loyalitäten, das unser Leben in Friedenszeiten zumeist bestimmt, wird dann zerstört. Das zwanzigste Jahrhundert hat gezeigt: Die Ermächtigung zur Herrschaft über Leben und Tod kann ihre eigene Faszination entfalten. Als erstes werden die Schutzrechte derer geopfert, die „nicht zu uns“ gehören. Und die Menschen, die dann aus der Kategorie des „Wir“ ausgeschlossen werden, können mit der Zeit immer mehr werden. Selbst wenn Donovan, wie er beteuert, seine Steuern zahlt, sind die potenziell Auszuschließenden für ihn letztlich alle Personen außerhalb des Stammes, dem er sich angeschlossen hat. Die Wechselwirkung von Zugehörigkeit und Ausgrenzung entfaltet so ihre verderbenbringende Dynamik.

Warum breiten sich solche menschenverachtenden Ideen heute wieder aus?

Im Zuge der Verlagerung von Problemen und Problemlösungen auf überlokale, europäische und globale Zusammenhänge haben weltpolitische Prozesse und Entscheidungen Bedeutung gewonnen, die nicht nur ungelöst sind, wie die Migrationsströme, sondern die auch in ihrer Abstraktheit schwer zu begreifen sind. Der Niedergang traditioneller Industrien durch die Digitalisierung als einer neuen Basistechnologie (einem „Kondratjew-Zyklus“) der wirtschaftlichen Entwicklung ist in konkreten Lebenslagen existenziell spürbar geworden. Auch im Hinblick auf drohende Klimafolgen wird eine verantwortliche Politik schmerzhafte Einschränkungen unseres Lebensstils kaum vermeiden können. Damit dürfte aber auch der Wunsch zunehmen, die Kontrolle „zurück“ zu gewinnen und die eigene Ohnmacht zu überwinden. In der Kampfansage der Alt.Right-Bewegung an jede Ethik, die Stammesgrenzen überschreitet, kann man bereits heute eine radikalisierte Absage an die Ausweitung von Verantwortung und den Ausbau von Entscheidungsebenen sehen, auf denen die technische und die ökonomische Globalisierung (allenfalls) kontrolliert und gestaltet werden könnten. In der Barbarenideologie soll demgegenüber die gewaltbereite Durchsetzung von Banden, Stämmen und Völkern treten. Sie fügt dem bisher im Weltbild der Neuen Rechten vorherrschenden „Ethnopluralismus“ des „ein Volk, eine Kultur, ein Land“ eine neue Drohung hinzu, indem sie den „Moralschaltknüppel“ zum „gnadenlosen Auslöschen Fremder, wenn es notwendig ist“, propagiert. Was das jeweils „Notwendige“ ist, d. h. wo der Kipp-Punkt liegt, das kann dann durch Verschwörungstheorien jeweils rasch bezeichnet werden. Die in der älteren Neuen Rechten noch defensiv klingenden Forderungen nach „Verteidigung des Eigenen“ können dann rasch in aggressive Vernichtungsvisionen umschlagen. Sie würden damit den Weg zurück zu den nicht so fernen Zeiten weisen, in denen fanatische und skrupellose Herrscher aller Couleur Menschen und Völker für die ihnen vorschwebende künftige Gemeinschaft in den Tod schickten.

Sind wir also in Gefahr, die Geschichte zu wiederholen?

Zur Erinnerung: Die „Banalität des Bösen“, die Hannah Arendt als Beobachterin des Prozesses gegen Adolf Eichmann, dem Organisator der Vernichtung der europäischen Juden konstatierte,99) kam nicht von ungefähr, sondern war – historisch gesehen – das Ergebnis einer über viele Jahrzehnte hinweg erfolgten „Banalisierung“ der Vernichtung von „Stammesfremden“. Und eine solche Banalisierung wird heute wieder vorangetrieben: Gezielte Tabubrüche und eine anschließende taktische „Selbstverharmlosung“ sind Teil der neurechten Strategie. Wohin die Reise aber letztlich gehen kann, daran lassen die „Barbaren“ des Jack Donovan keinen Zweifel. Kaum jemand der heute noch Lebenden trägt Schuld an den Vernichtungslagern vor fünfundsiebzig Jahren. Jeder aber, der heute erneut die Tore zur „Banalisierung des Bösen“ öffnet, lädt Schuld auf sich.

Amnesie (Vergessen) als Programm?

Können wir nicht lernen?

Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, Radikalisierungsprozesse und die Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat im Zusammenhang von gesellschaftlichen Problemlagen und heute speziell der Entwicklung zu einer weltweiten Gesellschaft zu verstehen und dadurch zu erklären. Die Erinnerung an die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts kann offenbar im Generationsgang schwinden. Auch die Töchter und Söhne der Täterinnen und Täter sowie der Opfer treten jetzt ab. Sie protestieren aber noch einmal gegen die programmatischen Versuche, Erinnerung als „Schuldkult“ aus dem Gedächtnis zu tilgen. Sie verweisen darauf, welche Erkenntnischancen vernichtet werden, wenn man dem Blick auf die Geschichte ausweicht.100) Es geht ihnen dabei nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. Der Sozialreformer, Pädagoge und Philosoph John Dewey hat 1954 in Erinnerung gebracht: „Hitler hat nicht versäumt, den folgenden Satz, den er in einer Rede vom Jahre 1922 formulierte, in die Wirklichkeit umzusetzen: ‚Das Volk benötigt Stolz und Willensstärke, Trotz und Hass und nochmals Hass und nochmals Hass!‘“101). Die heute geschichtsvergessen als „thymotische Versorgung“ geforderte Verbindung von Wut, Hass und Stolz wurde vor achtzig Jahren auf Reichsparteitagen als „Triumph des Willens“ (Leni Riefenstahl) in edler Einfalt und lautstarker Größe zelebriert und hat anschließend in ganz Europa mörderisch gewütet. Die wenigsten von denen, die vor achtzig Jahren in Nürnberg jubelten, wussten, was an schrecklichen Taten und Leiden alsbald auf sie zukommen würde. Die heutige Polemik gegen einen angeblichen „Schuldkult“ will uns dies alles vergessen machen. Demgegenüber ist festzuhalten: Nicht die Rehabilitation von Wut, Zorn und kampfbereiter Männlichkeit, sondern – wenn überhaupt irgendetwas – dann wäre es der „Triumph der Vernunft“, also die Anerkennung von Vielfalt auf allen Ebenen der Weltgesellschaft und, damit verbunden, die Achtung der Würde aller Menschen, die die Konflikte und Widersprüche der Globalisierung Schritt für Schritt einer Lösung zuführen könnte. Und dafür lohnt es, sich notfalls friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen