Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Politische Bewegungen und ihre Transformation

Populismus als Strategie

Ist darauf der Erfolg populistischer Strategien zurückzuführen?

„Populismus“ gewinnt in dieser Lage als Strategie von neuen und alten Eliten eine besondere Bedeutung. Helmut Dubiel53) hat die Geschichte linker und rechter Protestbewegungen rekonstruiert und kommt zu dem Ergebnis, dass es sozialgeschichtliche Momente gebe, in denen „die kollektiven Kränkungserfahrungen, die Statusängste und frustrierten Glückserfahrungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen aus den etablierten Diskursen und Legitimationsmustern gleichsam herausfallen und den Status vagabundierender Potentiale gewinnen, die eigentümlich quer liegen zum Spektrum politischer Richtungstraditionen. … Der Streit um die Konstituierung einer neuen Legitimität wird zu dem geheimen Rationale des politischen Kampfes“.54)

Diese Feststellung von 1985 eröffnet eine Perspektive auf die Entwicklungen in den folgenden dreißig Jahren: In den neuen Bundesländern geriet die Wirtschaft mit der Wende voll in den Strukturwandel der Weltwirtschaft, der auch der westdeutschen, englischen und amerikanischen Industrie immer mehr Probleme bereitet hatte und auch in der DDR durch die immer stärkere Subvention der Exporte nicht mehr ferngehalten werden konnte. Mit der Schließung vieler Betriebe war für viele Bürger der Verlust in der Anerkennung von Lebensleistung verbunden. Geschwächt wurden aber auch die interaktiven Gemeinschaften, die in den Jahren der DDR eine besondere Bedeutung für die persönliche Lebensführung abseits von Staat und Partei hatten: Familien und Freundeskreise wurden durch Abwanderung reduziert, Nachbarschaften haben sich aufgelöst, Betriebe wurden geschlossen, Neubausiedlungen zurückgebaut, Campingplätze von der Treuhand veräußert. Mit der Agenda 2010 wurden schließlich viele Bürgerinnen und Bürger, die mit der Wende ihre Arbeitsplätze verloren hatten, einer neuen Belastungsprobe ausgesetzt. In den heutigen Gefühlen („es war nicht alles schlecht“) dürfte daher – ähnlich wie in der deutschen Nachkriegszeit – durchaus so etwas wie eine kollektive Kränkung im Sinne Dubiels zum Ausdruck kommen. Ähnliche Prozesse haben sich mittlerweile auch in ost- und südosteuropäischen Ländern vollzogen, in denen junge und aktive Menschen „nach Westen“ abgewandert sind. Durch den „Brain-Drain“ wurden liberale Eliten geschwächt und konnten Parteien Nutzen ziehen, die über traditionalistische Vorstellungen Sicherheit versprechen.

Und in Westdeutschland?

Auch in Westdeutschland ist der nach der Wende verkündete Glaube an eine Mehrung des allgemeinen Wohlstands durch neoliberale „Deregulierung“ in den Finanzkrisen erschüttert geworden.55) Um 2015 ist es aufgrund der Bürgerkriege in Asien, dem Nahen Osten und Afrika erneut zu hohen Einwanderungszahlen gekommen. Wenn aber diese Krisen unbewältigt erscheinen, verlieren Regierungen (und über sie hinaus auch staatliche und überstaatliche Ordnungen) Vertrauen – ganz gleich, ob es zu ihrem Handeln oder Unterlassen Alternativen gegeben hat. Das ist die Stunde des Populismus.

Was sind typisch populistische Argumente?

Wenn man einmal von den schillernden Facetten der jeweiligen Signalthemen absieht, geht es im Kern um die Behauptung, die bisherigen politischen Entscheidungen würden nicht den Interessen und Wünschen des Volkes – wie auch immer dieses definiert wird – entsprechen, sondern nur dem Vorteil „der herrschenden Eliten“ dienen. Sowohl „das“ Volk als auch „die“ Eliten (und als deren Teil „die“ Presse) werden mehr oder minder als feste Einheiten gesehen. Hieraus folgend werden schließlich zentrale Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung infrage gestellt: Der allgemeine Wille des Volkes (die „volonté générale“ nach Rousseau) müsse der Gewaltenteilung (Montesquieu) und den vielfältigen Freiheitsrechten der Menschen übergeordnet werden. Seit ihren Wahlsiegen in Ungarn und Polen haben populistische Parteien mit der Berufung auf „den“ Volkswillen versucht, kritische und gegnerische Gruppen auszuschalten und an der Wahrnehmung ihrer Rechte zu hindern. Die De-Legitimation der zuvor angeblich „Herrschenden“ gipfelt in dem Vorwurf, dass sie ihre – faktisch interessengeleiteten – Entscheidungen als alternativlos ausgeben würden. Dieser Vorwurf mag einmal mehr, einmal weniger zutreffend sein. Er ist auch nicht an eine bestimmte politische Richtung gebunden. Von der „Neuen Linken“ vor fünfzig Jahren wurde er ebenso erhoben wie von der „Neuen Rechten“ von heute. Im Kampf gegen das „Establishmentz. B. hieß es vor einem halben Jahrhundert mit Herbert Marcuse, dass eine auf Grund des wissenschaftlich–technischen Fortschritts bestehende Chance zur Überwindung des „Spät“-kapitalismus und zu einem „Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ verhindert werde: durch „repressive Toleranz“ und „Konsumterror“ im Interesse der Kapitalverwertung.56) In der Neuen Rechten von heute sind es die „natürlichen“ Hierarchien, die wehrhafte Gemeinschaftsorientierung und die besonderen kulturellen Überlieferungen, die durch Migration und demographische Entwicklung („Umvolkung“) auf dem Altar eines formalen Universalismus geopfert werde, was mit dem Verweis auf angebliche humanitäre Verpflichtungen als alternativlos ausgegeben werde.

Verblassen damit die grundlegenden Unterschiede zwischen links und rechts?

Die Ideen von dem, was das „Volk“ eigentlich ausmacht, sind links und rechts schon immer ganz gegensätzlich gewesen und obendrein auch jeweils intern umstritten und widersprüchlich. In der antiautoritären Phase der Neuen Linken sollten die bereits „emanzipierten Menschen“ den Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit wagen; K-Gruppen sahen kurze Zeit darauf „die Massen“ als revolutionäres Subjekt im globalen Klassenkampf vor. Heute geht es in der linken Bewegungen neben einem generalisierten „Antifaschismus“ vor allem um die Durchsetzung politischer Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ und damit um den Protest gegenüber der Eigenbewegung eines deregulierten, globalisierten und spekulativen „Kasinokapitalismus“. Auch dabei kann es zu Konfrontationen kommen, in die sich international vernetzte und gewaltbereite Kampfbünde einklinken, wie sich 2011 mit „Occupy“ in New York, 2013 und 2015 mit „Blockupy“ in Frankfurt und 2017 mit den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg gezeigt hat.

Im Rechtspopulismus dagegen ist der Begriff des „Volkes“ an eine zu rettende oder wieder zu verwirklichende ethnische oder kulturelle Homogenität gebunden. Mit ihr wird in manchen Kampfbünden auch ein gewalttätiger Kampf gegen Einwanderung gerechtfertigt. Homogenisierungswünsche richten sich dabei nicht nur gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer, sondern in vielen Ländern auch gegen altansässige Minderheiten und vor allem gegen den liberalen Individualismus der kosmopolitischen „Eliten“ des Westens, die das Eigenrecht von Ethnizität nur den fremden Minderheiten zugestehen würden, nicht aber dem eigenen Volk. Der wichtigste Unterschied zwischen einem linken und einem rechten Populismus bleibt daher immer noch die jeweilige Definition des demokratischen Subjekts. Ist es über „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ von Bürgerinnen und Bürgern definiert oder durch eine exklusive ethnische und kulturelle Zugehörigkeit bestimmt?

Der Populismusvorwurf bezieht sich doch vor allem auf politische Strategien!

Bereits Vilfredo Pareto hat 1916 in seinem Tratatto di Sociologia Generale versucht, die strategische Mechanik aufzudecken, die unabhängig von einzelnen Ideologien wirkt. Für Pareto gibt es drei Akteure: eine herrschende Elite, eine nicht herrschende Elite und das beherrschte Volk. Wenn die herrschende Elite nicht mehr „vital“ d. h. kampfbereit, sondern „dekadent“, sprich kampfesmüde, geworden ist, versucht eine Gegenelite, im Kampf um die Macht das beherrschte Volk auf ihre Seite zu ziehen und mit seiner Hilfe die Herrschenden zu stürzen. Die herrschende Elite versucht dann dies zu verhindern, indem sie den Beherrschten ebenfalls Hoffnungen auf einen Systemwechsel macht. Wenn die Gegenelite gewonnen hat, verwandelt sie sich über kurz oder lang ebenfalls in eine dekadente und kampfesmüde Herrschaft und versucht über Absprachen und Vergünstigungen gefahrlos an der Macht zu bleiben – mit der Folge, dass auch sie über kurz oder lang von neuen Gegeneliten herausgefordert wird. Dieser „Kreislauf der Eliten“ wird von Pareto mit den Begriffen Vitalität und Dekadenz beschrieben, die heute kaum noch überzeugen. In seinem Modell kommt aber die Strategie gut zum Ausdruck, mit unbegrenzten Versprechungen an ein Volk die Herrschaft zu erobern – und ebenso die Strategie der bedrohten Eliten, sich durch ähnliche Versprechungen und notfalls durch Koalitionen mit einem Teil der Angreifer an der Macht zu halten. Beide Strategien, die der Eroberung von Herrschaft und die der Verteidigung derselben durch unrealistische Versprechungen, werden heute als populistisch bezeichnet.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen