Bundeskriminalamt (BKA)

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Grundlagen: Sozialanthropologische Voraussetzungen

„Interaktive“ und „vorgestellte“ Gemeinschaften

Warum sind Gemeinschaften für uns so bedeutsam?

Sie grenzen einen Raum besonderer Solidarität gegenüber einer Außenwelt von Nicht-Zugehörigen, von unwichtigen anderen und insbesondere von feindlichen Personen und Gruppen ab. Diese Abgrenzung wird nicht nur dort vollzogen, wo sie zum Leben oder Überleben notwendig ist, sondern wird auch dann inszeniert, wenn es um die Erzeugung von Gefühlen des Wettbewerbs, der Spannung, der Angstlust oder Siegesfreude geht, wie wir sie an jedem Fußball-Wochenende erleben können. In den Stadien wird die emotionale Bedeutung von Gemeinschaft spürbar, sichtbar und hörbar. Sie ist in der Geschichte des Menschen stets vorhanden gewesen. Der Neurobiologe Robert Sapolsky1) kommt zu dem Ergebnis: „Die Macht der Wir/Sie-Bildung zeigt sich also (a) an der Geschwindigkeit, mit der das Gehirn Gruppenunterschiede verarbeitet, und an der extrem geringen Zahl von Sinnesreizen, die für diesen Prozess erforderlich sind; (b) an der unbewussten Automatizität dieser Verarbeitungsvorgänge; am Vorkommen der Wir/Sie-Bildung bei anderen Primaten und sehr kleinen Kindern; und (d) an der Tendenz, Gruppen nach willkürlichen Unterschieden zu bilden und diesen Markierungen dann enorme Bedeutung zu verleihen“.2)

Welche Rolle spielen dabei Verwandtschaft und Nachbarschaft?

Familie und Verwandtschaft spielen als „interaktive Gemeinschaften“, in denen sich alle von Angesicht zu Angesicht kennen, schon immer eine grundlegende Rolle für das Gefühl der Zugehörigkeit. Dieses Gefühl wird aber zusätzlich durch Erzählungen, Familienfotos und Rituale z. B. anlässlich von Geburt, Erwachsenwerden, Urlaub, Heirat und Tod bestärkt. Außerhalb der Verwandtschaft ist es vor allem die Nachbarschaft, die von dem gemeinsamen Erleben getragen wird, sich aber darüber hinaus auch durch Nachbarschaftshilfe und Feste bekräftigt. In allen diesen „interaktiven Gemeinschaften“ besteht ein grundsätzliches Interesse an gemeinsamen Normen und Werten. Verbunden ist damit immer auch eine Vorstellung von „Normalität“. Diese bezieht sich auf die Erwartungen an Frauen und Männer, an Kinder, junge und alte Leute und auf wechselseitige Hilfeleistungen. Sie sind in Sinnvorstellungen integriert, die über die unmittelbare Gegenwart und über die einzelnen Personen hinausweisen und sie beinhalten zumeist die Erwartung, auch außerordentliche Belastungen und Bedrohungen gemeinsam bewältigen zu können. Werden diese enttäuscht, kann Zwietracht rasch eskalieren.

Was folgt daraus für die Bewertung anderer Gemeinschaften?

Der Blick auf andere Gemeinschaften erfolgt erst einmal aus der Perspektive der eigenen Gruppe. Fremdheit erzeugt neben Neugier immer auch Unsicherheit. Die anderen Gemeinschaften werden daher im Hinblick auf die eigenen Werte „begutachtet“, was allerdings nicht von vornherein zu einem negativen Ergebnis kommen muss. Die Hervorhebung von Unterschieden kann sich kritisch sowohl gegen die andere als auch die eigene Gruppe wenden. Wenn andere Gemeinschaften aus der Sicht der eigenen Gruppe eher negativ bewertet werden, wird dies in der Ethnologie als Ethnozentrismus d. h. Vorstellungen von der Höherwertigkeit der eigenen Gruppenkultur bezeichnet. 3) Solche „Vor“-Urteile gehen neuen Erfahrungen voraus und beeinflussen häufig deren Interpretation. Sie können sich auch von unmittelbaren Erfahrungen ablösen und dann als ideologisches Konstrukt von Differenz zur Legitimation von Feindschaft, Herrschaft und Ausbeutung genutzt werden.

Ist das dann Rassismus?

Es kann dazu führen. In der Ideologie, d. h. dem Ideensystem des Rassismus galten bzw. gelten die Differenzen zwischen Völkern als biologisch, d. h. genetisch vorgegeben. Daraus resultiert dann die Vorstellung einer unaufhebbaren Über- oder Unterlegenheit und im Konfliktfall einer „natürlichen“ Feindschaft zur Selbstbehauptung. Nach dem Zusammenbruch der „Rassenlehre“ angesichts der neueren genetischen Forschung werden zur Festschreibung dieser Differenzvorstellung heute eher kulturelle Traditionen bemüht, die dann aber ebenfalls als kaum veränderlich und letztlich unvereinbar interpretiert werden. In beiden Konstrukten werden Menschen als Teil von homogenen Gruppen gesehen, deren genetische oder kulturelle Merkmale das Verhalten der Individuen mehr oder weniger bestimmen. Bei Fremdgruppen wird unterstellt, dass dies so sei, bei der Eigengruppe, deren Heterogenität deutlicher wahrgenommen wird, dass dies so sein solle. Durch einen „kollektiven Singular“, der sich auf die Herkunft bezieht, wird der Deutsche, der Russe, der Araber, der Afrikaner, der Moslem, der Jude usw. gedanklich auf eine ihn bestimmende spezielle Identität festgelegt. Wenn diese bei der eigenen Gruppe hoch und die einer anderen niedrig bewertet wird („der Untermensch“), können Interessen an Distinktion, d. h. etwas „besseres“ zu sein und daraus folgend an Herrschaft, Ausbeutung oder Sklaverei eher befriedigt werden. Im Anschluss an Antweiler4) sollte man allerdings mit dem Kampfbegriff „Rassismus“ sparsam umgehen. Denn in jeder Konstitution von Gemeinschaft sind immer schon Vorstellungen von Differenz enthalten, die auch Bewertungsaspekte enthalten. Es gibt allenthalben vielfältige und handlungsmächtige Traditionen, die sich gegen andere absetzen – nicht nur zwischen Gesellschaften, sondern auch innerhalb derselben. Gerade weil Traditionen heute gewählt und abgewählt werden können, müssen einzelne Gemeinschaften definieren, worin sie sich von anderen unterscheiden und worin sie „besser“ sein wollen. Toleranz und Respekt haben auch gegenüber solchen Vorstellungen zu gelten, solange diese die jeweils anderen nicht auf eine wesensmäßige Minderwertigkeit festlegen. Der Rassismusvorwurf sollte darum nicht beliebig ausgeweitet werden, sondern sich auf diejenigen Vorstellungen von Differenz beschränken, die die Menschenwürde der anderen infrage stellen.

Sind Völker und Nationen auch Gemeinschaften?

Über „interaktive Gemeinschaften“ wie Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft hinaus sind überlokale „vorgestellte Gemeinschaften“ wie Nationen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen von besonderer Bedeutung, die sich historisch im Zuge von ökonomischer, kultureller, politischer Verflechtung und insbesondere von militärischen Eroberungen gebildet haben. Sie sind nicht ständig präsent, sondern werden durch Repräsentanten vertreten und durch spezielle „Narrative“ d. h. Erzählungen in Feiern und Schulungen und Schriften vergegenwärtigt.5)

Auch an solche überlokale politische und religiöse Gemeinschaften richten sich grundlegende Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz, Hilfe und Sinnstiftung, die durch Familie und Nachbarschaft allein nicht befriedigt werden können. Manche der vorgestellten Gemeinschaften sind als Stämme, Völker, Reiche, Staaten oder Religionsgemeinschaften institutionalisiert, andere wirken eher als ideelle Interessen- und Wertegemeinschaften, die miteinander konkurrieren oder gegeneinander kämpfen. Alle werden aber als Erbe einer gemeinsamen Vergangenheit und/oder als Projekte für eine gemeinsame Zukunft begriffen und von der Hoffnung getragen, dass mit ihnen gegebenenfalls außerordentliche Belastungen und Bedrohungen bewältigt und/oder neue Chancen eröffnet werden.

Die nicht unmittelbar von Mensch zu Mensch erfahrbaren, sondern überlokal organisierten oder auch nur ideell vorgestellten Gemeinschaften sind in ihrer Idee zumeist dem Modell interaktiver Gemeinschaften nachgebildet. Sie mobilisieren damit die Gefühle, die wir mit unmittelbarer Gemeinsamkeit verbinden. Das „Volk“ wird – wie in der französischen Nationalhymne „allons enfants de la Patrie“ – als erweiterte Verwandtschaft, die „Nation“ als Nachbarschaft im Großen, der „Stand“ oder die „Klasse“ als kollegiale Schicksalsgemeinschaft, die jeweilige Glaubensgemeinschaft als Kirche, also als das Haus Gottes begriffen, in dem „Brüder und Schwestern in Christo“ sich versammeln. In der Geschichte war es zumeist die Zugehörigkeit zu einer Religion, die einzelne Gemeinschaften von anderen abgrenzte. Religion ist daher nicht nur im Islam, sondern auch in Christentum und Buddhismus immer wieder für Kampf, Vertreibung und Vernichtung anderer Gemeinschaften eingesetzt worden: „Gott mit uns“ war noch auf den Koppelschlössern der Wehrmacht eingraviert. Auch eine einmal kriegerisch erworbene Herrschaft über ein Land stabilisiert ihre Macht regelmäßig nicht nur über Zwang, sondern versucht daneben Gemeinschaftsvorstellungen aufzubauen. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts war besonders produktiv darin, Ideen von Volk, Nation, Klasse und Rasse, aber auch von Menschheit mit essentieller Bedeutung aufzuladen – Ideen, die bis heute die Identifikationen von Menschen auf sich ziehen. In ihnen kommen nicht nur historische Konfliktlagen, sondern auch Theorien zum Ausdruck, die zu ihrer Zeit als wissenschaftlich angesehen wurden – vor allem aber die Suche nach Gewissheiten, die die Menschen auch in kritischen Lagen zusammen halten.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen