Bundeskriminalamt (BKA)

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Wie soll das gehen?

In den Experimentalgruppen Tajfels war die Bevorzugung der Eigengruppe erkennbar mit der Benachteiligung der anderen verbunden. Das war allerdings bereits von der Versuchsanordnung vorgegeben: Die im Experiment zu verteilenden finanziellen Mittel waren knapp und legten daher die Bildung von Präferenzen nahe. Zwischen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Benachteiligung einer anderen stand also die Annahme, dass der Vorteil der einen Seite der Nachteil der anderen Seite sei, dass also – technisch formuliert - ein Nullsummenspiel vorliege, weil Vorteil und Nachteil sich in der Summe aufhebt. In der Realität geht es aber nicht immer um solche „Nullsummenspiele“. Kooperationsanreize wirken, wie Muzafer Sherif in seinen berühmten „Robbers Cave“-Ferienlagern herausgefunden hat.21) Dieses Faktum ist politisch von größter Bedeutung: Auch wenn unter Knappheitsbedingungen die Bevorzugung der Eigengruppe (unabhängig von aller Ideologie) wahrscheinlich ist, sollte daraus nicht gefolgert werden, dass man „ja doch nichts tun“ könne. Politik ist immer auch die Kunst, solche Nullsummenspiele aufzulösen, übergeordnete Gesichtspunkte „ins Spiel“ zu bringen und Kompromisse auszuhandeln. Wichtig für diesen Prozess der Konflikttransformation sind diejenigen, die als „Unparteiische“, als Vermittler oder Schlichter gruppenübergreifende Gesichtspunkte stark machen können oder gar Prämien für Kooperation vergeben können, wie es die Europäische Union zur Beendigung des Bosnienkriegs (bisher) erfolgreich getan hat.

„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“ – diese These gilt nur dann, wenn man die provozierenden Forderungen von Jesus auf die persönlichen Haltungen reduziert, die sicherlich allzu oft ohnmächtig bleiben. Wenn man sie indessen als Auftrag nimmt, politische Ordnungen so zu gestalten, dass über einzelne Gemeinschaften hinweg Solidarität entsteht und Nullsummensituationen zwischen ihnen überwunden werden, können sie durchaus zur Leitlinie von Politik werden. Bereits das biblische Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ erzählt nicht so sehr von der Liebe zu den „Nächsten“, sondern gerade von der Überwindung ethnischer und religiöser Grenzen, die Juden und Samariter voneinander trennten. Dann wird die Nächstenliebe, die sich in der Eigengruppe realisiert, nicht aufgelöst, aber in Notsituationen auch zu Gunsten von „Fremden“ erweitert, die „unter die Räuber gefallen“ sind. Das bevorzugende Interesse an der eigenen Gruppe zählt nach wie vor, reicht aber nun als „wohlverstandenes“ Eigeninteresse weiter – vor allem, wenn Institutionen der Konfliktregelung strukturell eingebaut sind. Dies ist in der internationalen Politik nach dem zweiten Weltkrieg im Westen besser gelungen als dreißig Jahre zuvor, als im Versailler Vertrag von 1919 der Gewinn der Sieger am Verlust der Verlierer gemessen wurde. Unsere Aufmerksamkeit sollte daher den Konflikten gelten, in denen Nullsummenannahmen wirksam sind und in Feindschaft umschlagen können. Konfliktpunkte sollten dann nicht aus Sorge um die Entstehung von Vorurteilen verschwiegen, sondern benannt und bearbeitet werden.

Können wir aus Kleingruppenexperimenten überhaupt etwas für die große Politik lernen?

Die in den experimentellen Kleingruppen belegte Tendenz, die eigene Gruppe zu bevorzugen, dürfte jedenfalls auch für „vorgestellte Gemeinschaften“, „Großgruppen“ und „Kollektive“ gelten, die ganz selbstverständlich den Anspruch auf die Solidarität ihrer Mitglieder erheben. Die Daten der evolutionsbiologischen, neurologischen und sozialpsychologischen Forschung stimmen darin überein, dass die kognitiven Prozesse universal sind, mit denen die Grenzziehung von „Wir“ und „Sie“ vorgenommen wird, und zwar unabhängig davon, auf welche Gruppengröße und Merkmale sie sich bezieht. „Zahlreiche Experimente bestätigen, dass das Gehirn in Millisekunden Bilder auf der Grundlage von minimalen Hinweisreizen bezüglich Rasse oder Geschlecht verarbeitet“.22) Anders verhält es sich mit dem inhaltlichen Sinn, der einer Differenz und den Möglichkeiten der Verständigung zwischen den Gruppen beigemessen wird: Sie sind Ergebnisse von jeweils besonderen geschichtlichen Prozessen. Darum können sie auch aktiv gestaltet werden, auf welcher Ebene auch immer.

Wenn sie allgemein menschlich sind, ist doch zu fragen: Was leisten Gemeinschaften für ihre Mitglieder?

Eine Erklärung der anthropologisch feststellbaren Bevorzugung der eigenen Gruppe schlägt der Politikwissenschaftler Russel Hardin 199523) vor. Er verweist auf den „epistemologischen Komfort“ von Gemeinschaften, in denen es immer schon ein gemeinsam geteiltes Wissen gibt. Mit ihm wird die Welt vertraut, in Grenzen vorhersehbar und garantiert ein gewisses Maß an Handlungssicherheit. Die Muster der wechselseitigen Erwartungen sind in ihm kulturell gespeichert: Wer in einer Gruppe „drin“ ist, kennt sich aus und weiß, was auf ihn oder sie zukommen kann. Gegenüber Fremden ist dies zunächst nicht der Fall. Darum ist man oft erst einmal vorsichtig. Nicht nur eine erkennbare Gefahr, sondern schon die Angst, eine eventuelle Gefahr nicht zu erkennen, kann die Abwehr von Fremden zur Folge haben, wie wir alle im Urlaub in fernen Ländern erfahren haben. Es kann dann naheliegen, die eigene Gruppe und ihre Gemeinsamkeit für die bessere zu halten und andere Gruppen abzuwerten. Das was in der eigenen Gruppe „selbstverständlich“ gilt, erscheint dann als das, was generell so sein sollte. Hardin bezeichnet diesen Ethnozentrismus als „is to ought fallacy“, d. h. als „naturalistischen Fehlschluss“.

Gilt das auch für vorgestellte Gemeinschaften?

Auch sie leben von der Unterscheidung von „Wir“ und „Sie“. Die Sinnstiftung, die bereits durch die bloße Idee der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entsteht, geht bei ihnen über den oben genannten „epistemologischen“ d. h. wissensmäßigen „Komfort“ weit hinaus, insbesondere, wenn sie im Kampf mit anderen gesehen wird. Weil wir „Bewohner“ einer nicht nur überlieferten, sondern von uns selbst immer auf neue ideell erzeugten Welt sind, lassen wir uns von Ideen ergreifen. Viele unserer Lebensprobleme sind nur kollektiv, d. h. gemeinsam zu lösen. Nicht nur Egoismus, sondern auch Altruismus, d. h. Uneigennützigkeit ist darum menschlich und orientiert sich zumeist an den Gemeinschaften, denen wir uns zurechnen. Alle religiösen und politischen Gemeinschaften setzen in ihren Ursprungs- und Zukunftsmythen auf die Wirkmacht der Unterscheidung von „Wir“ und „Sie“. Sie nutzen damit das Vertrauen und die Energien, die in der Identifikation mit dem „Wir“ freigesetzt werden und können dadurch Erträge realisieren, die vereinzelten Individuen verwehrt blieben. Dabei richten sich die Hoffnungen nicht nur auf bestehende Gemeinschaften, sondern auch auf „noch“ unrealisierte Gemeinschaften, die z. B. in verschiedenen religiösen, ethnischen, separatistischen, kommunistischen und anarchistischen Zukunftsentwürfen ausformuliert werden. Und immer mehr Menschen hoffen auf eine demokratische und offene Welt, die die gemeinschaftlichen Lebensbedingungen respektiert und sichert.
Wir müssen also zu dem Schluss kommen: Menschen leben in Gemeinschaften und können sich diese auch dann als ihre Realität vorstellen, wenn sie nicht unmittelbar gegenwärtig sind. Die Frage kann also nicht sein: „Gemeinschaft – ja oder nein?“, sondern muss vielmehr lauten: „Wie können Gemeinschaften davor bewahrt werden, sich selbst zu verabsolutieren oder sich in Kriege mit anderen zu verwickeln?“. Und wie lässt sich sicherstellen, dass sie dennoch Krisen bewältigen und ihre Mitglieder zu den Leistungen motivieren, die nur gemeinschaftlich erbracht werden können?

Zwischen Solidarität und Feindschaft: Übergänge und Kipp-Punkte

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Gruppensolidarität und Feindschaft?

Ob ein Baum gefällt, ein Tier geschlachtet oder ein Mensch getötet werden darf, wird letztlich nicht durch „Instinkte“ vorgegeben, sondern ist in der symbolischen Ordnung von Gemeinschaften über Traditionen, Tabus oder Gesetze verankert. Mit der Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften wird auch darüber entschieden, wer von den gemeinschaftsbezogenen Bereitschaften der Menschen begünstigt, wer bei knappen Ressourcen ausgeschlossen und wer im Konfliktfall als Feind bekämpft wird. Konflikte erzeugen oder verstärken solidarische Gemeinschaftsvorstellungen auf beiden Seiten. Die Solidarität mit den Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, also die „Nächstenliebe“ der Bibel, gehört als „positive Pflicht des Sollens“ zu den vornehmsten Bereitschaften des Menschen als einem sozialen Wesen. Daneben gibt es aber in vielen Kulturen auch die „negative Pflicht des Nichtsollens“ im Sinne des Gebotes: „Du sollst nicht töten!“ Sie gilt auch gegenüber Menschen, die nicht der gleichen Gemeinschaft angehören.24) Diese beiden Gebote können in Widerspruch zueinander geraten. In der Erfüllung der positiven Pflichten gegenüber unseren „Nächsten“ kann im Konfliktfall die „negative“ Pflicht, andere nicht zu schädigen, außer Kraft gesetzt werden. Bereits die Radikalisierung der Vorstellung von einer nachbarschaftlichen, ethnischen, religiösen oder nationalen Gemeinschaft kann zu dem Wunsch nach Homogenisierung führen, aus dem dann die Diskriminierung, Vertreibung oder gar Ausrottung derer erwächst, die nicht „dazugehören“ (sollen) und ebenso der Wunsch nach „Irredenta“, also dem kriegerischen Anschluss von Gebieten, auf denen „Zugehörige“ leben.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen