Bühne des Kapitels / Moduls
Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus
3.3 Prozesse der Radikalisierung
Inhalt des Kapitels / Moduls
Radikalisierungsprozesse auf der Ebene des Individuums – unterschiedliche Erscheinungsformen
Obwohl Radikalisierungsprozesse nicht ohne Miteinbeziehung der anderen Analyseebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) ganzheitlich verstanden werden können (siehe Kap. 1), soll im Folgenden der Schwerpunkt auf individuelle Pfade, Motive sowie mögliche Push- und Pull-Faktoren gelegt werden, die den Radikalisierungsprozess bedingen.
Eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Phänomenen (Rechtsextremismus, Linksextremismus, islamistischer Extremismus) wird in diesem Beitrag nicht vorgenommen, da die psychologischen und sozialen Prozesse der Radikalisierung sich stets ähnlich verhalten. Wichtiger scheint stattdessen die Unterscheidung zwischen verschiedenen Erscheinungsformen von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. Diese können zwar Schnittstellen und Übergänge aufweisen, sich aber auch sehr deutlich voneinander abgrenzen. Vor allem, wenn es um die Extremismusprävention geht, also wenn Individuen Gegenstand von Präventionsbemühungen sind, ist eine präzise Einordnung dieser innerhalb des breiten Spektrums vielfältiger Erscheinungsformen des politischen Aktionismus für eine gesicherte Diagnose unverzichtbar. Personen können Träger radikaler oder extremistischer Einstellungen sein. Sie können entsprechend solcher Einstellungen gewaltfrei oder gewaltbereit handeln. Diese Handlungen können spontan, geplant oder gar im Rahmen einer systematischen Gewaltstrategie erfolgen. Die Wege bis hin zur Verfestigung radikaler oder extremistischer Einstellungen, die Pfade, die zu einem Engagement im Rahmen von Protestbewegungen, im Extremismus oder gar im Terrorismus führen, werden als Radikalisierungsprozesse beschrieben.
Je nachdem, ob die zugrunde liegenden Einstellungen und Ideologien – ebenso in der Folge die verfolgten Ziele – radikal oder extremistisch sind und ob Gewalt bei den Handlungen eine Rolle spielt, können Radikalisierungsprozesse zu unterschiedlichen Erscheinungsformen führen. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten ist nicht Gegenstand dieses Beitrages. Trotzdem scheint es sinnvoll, mögliche Zustände bzw. Prozessphasen zu beschreiben, in denen sich ein Individuum befinden kann, wenn es einer Zielgruppe der Extremismusprävention zugeordnet wird:
- Individuen können Träger radikaler oder extremistischer Einstellungen sein (zur Unterscheidung zwischen Radikalismus und Extremismus siehe Kap. 1).
- Individuen können entsprechend radikaler Einstellungen bzw. radikaler politischer Meinungen handeln (politischer Protest).
- Individuen können sich sogenannten extremistischen Organisationen anschließen, die gewaltfrei eine Systemüberwindungsstrategie verfolgen (extremistische Bestrebungen) oder diese unterstützen. Somit werden sie Teil des sogenannten Personenpotenzials eines organisierten Extremismus.
- Individuen können entsprechend radikaler Einstellungen oder radikaler politischer Meinungen überwiegend unsystematisch Gewalt ausüben – häufig im Rahmen von Demonstrationsgeschehen (Eskalationsgewalt).
- Individuen können entsprechend extremistischer Einstellungen bzw. politischer Meinungen überwiegend unsystematisch Gewalt ausüben (extremistische Gewalt).
- Individuen können Gewalt als bewusste Strategie zur Erreichung politischer Ziele systematisch einsetzen oder solch eine Strategie unterstützen (Terrorismus).
Obwohl die erwähnten Erscheinungsformen sehr oft als zusammenhängend dargestellt werden (Radikalität führt in den Extremismus und dieser liegt nicht weit weg vom Terrorismus), fällt bei einer Betrachtung aus der Analyseebene des Individuums auf, dass diese auch als eigenständige Bereiche betrachtet werden können. Eine Person, die sich in einer extremistischen Organisation engagiert, kann hinsichtlich der Motive, des Werdegangs und der Handlungen eindeutig von einer anderen unterschieden werden, die sich terroristisch betätigt. Auch wenn die Zielrichtungen eines extremistischen Islamismus und die Ziele entsprechender terroristischer Organisationen – um ein Beispiel zu nennen – zum Teil deckungsgleich scheinen, kann ein Engagement im Extremismus auf der Personenebene zu einer Abgrenzung vom Terror führen. Dies liegt daran, dass illegale Handlungen von Mitgliedern extremistischer Organisationen oder verdächtige Verbindungen zu Terroristinnen und Terroristen staatliche Repressalien wie z. B. Organisationsverbote nach sich ziehen und somit für die Organisation schädlich sind. Um es kurz zusammenzufassen: Extremismus und Terrorismus können sich häufig langfristige Ziele, Ideologie und Sympathisantenmilieus teilen, aber nur selten die handelnden Personen.
Auf der Analyseebene der Person und mit Blick auf die Anforderungen einer zielgruppenorientierten Extremismusprävention scheint eine klarere Differenzierung zwischen Radikalität, Extremismus und Terrorismus erforderlich.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Vgl. Knefel 2013.
2)
Suedfeld/Tetlock/Streufert 1992; Lloyd/Dean 2015.
3)
Hillmann 2007, 122.
4)
Lenzen 2015, 16.
5)
Vgl. Decker/Kiess/Brähler 2016.
6)
Vgl. Decker/Brähler 2018.
7)
Vgl. Frindte et al. 2011.
8)
Deutscher Bundestag 2018.
9)
Vgl. Simcox/Dyer 2013.
10)
Crenshaw 1998.
11)
In diesem Zusammenhang sind drei Hypothesen bekannt: 1) Nach der Frustrations-Aggressionshypothese spielt eine Frustration bezüglich politischer, ökonomischer und personeller Ziele und Bedürfnisse eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung. 2) Die Hypothese der negativen Identität betont die Rolle von Wutgefühlen und Hilflosigkeit im Angesicht des Mangels an Alternativen. 3) Die Hypothese der narzisstischen Wut lenkt den Fokus auf das unterentwickelte „Selbst“, welches die Phase des primären Narzissmus im Laufe der Entwicklung nicht überwindet (Transition zum erwachsenen Selbst).
12)
Vgl. Richardson 2007.
13)
Vgl. Lipset/Raab 1971.
14)
Vgl. Beelmann 2017.
15)
Übersetzung von Sadowski et al.
16)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
17)
Vgl. Jensen/LaFree 2016.
18)
Innenministerkonferenz 2016.
19)
Vgl. Richardson 2007.
20)
Kruglanski/Bélanger/Gelfand/Gunaratna/Hettiarachchi/Reinares/Orehek/Sasota/Sharvit 2013, 559-575.
21)
Vgl. Lützinger 2010.
22)
Vgl. Bjørgo/Horgan 2009.
23)
Vgl. Lützinger 2010.
24)
Bjørgo 2002.
25)
Vgl. Horgan 2009.
26)
Vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013.
27)
Vgl. Horgan 2009.
28)
Bjørgo/Horgan 2009; Horgan 2009.
29)
Coolsaet/de Swielande 2008, 155 folgend.
30)
Vgl. Beam 1983.
31)
Horgan et al. 2016.
32)
Vgl. Bannenberg 2016.
33)
Giebel/Rossegger/Seewald/Endrass 2014, 323-332.
34)
Horgan/Gill/Bouhana/Silver/Corner 2016, Abschlussbericht für das Department of Justice der USA.
35)
Vgl. Gill/Corner 2017.
36)
Vgl. Demant et al. 2008.
37)
Vgl. Klandermans 1997.
38)
Vgl. Rommelspacher 2006.
39)
Horgan 2009; Demant et al. 2008.
40)
Altier/Boyle et al. 2017, 305 ff.
41)
Vgl. Cronin 2011.
42)
Siehe hierzu die Arbeiten von Schiffauer, z. B. 2008.
43)
Frischlich et al. 2017.
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