Bundeskriminalamt (BKA)

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Des Weiteren führt Beelmann andere Risikofaktoren aus dem Bereich sozial-kognitiver Kompetenzen auf: Eine geringe Fähigkeit oder Bereitschaft zu Empathie und zur Perspektivübernahme erhöht demnach das Risiko der Radikalisierung. Dasselbe gilt für geringe kognitive Grundfertigkeiten und geringes Wissen, besonders bezüglich gesellschaftlicher oder politischer Fragen, Defizite in der Moralentwicklung und der moralischen Werteeinstellungen. Die Tendenz zur Verzerrung der Informationsverarbeitung (z. B. Attributionsfehler, fehlerhafte Wahrnehmung von Ungerechtigkeit), ein Bedrohungserleben (z. B. Ängste vor sozialem Abstieg) sowie eine Schwarz-Weiß-Weltsicht (die Menschen in „Freund“ und „Feind“ bzw. „gut“ und „böse“ unterteilt) begünstigt der Forschung zufolge eine erhöhte Radikalisierungsanfälligkeit und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele befürwortet wird.

Die sozialen Lernerfahrungen, die Menschen mit Mitgliedern fremder sozialer Gruppen machen, können aber das Risiko einer Radikalisierung verringern. Wenn solche Intergruppen-Erfahrungen fehlen oder schlimmstenfalls negativ ausfallen, können massive Vorurteile entstehen. Gleichzeitig können positive Kontakterfahrungen schützend gegen Radikalisierung wirken. Geringe soziale Kompetenz hat als allgemeiner Risikofaktor einen entscheidenden Einfluss auf die Auswirkung der sozialen Lernerfahrung. Sehr problematisch für das Radikalisierungsrisiko sind Kontakte zu verhaltensauffälligen oder extremistischen Peergruppen, ob real oder über digitale Medien. „Schlechter Umgang“ ist einerseits Folge von problematischen Startbedingungen, erhört anderseits das Risiko für Radikalisierung enorm.

Bezüglich der Rolle problematischer Persönlichkeitsmerkmale führt Beelmann auf, dass es einen Zusammenhang zwischen extremistischen Einstellungen und sozialer Dominanzorientierung und Autoritarismus gibt. Ebenso werden eher allgemeine Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten als Einflüsse aufgeführt: Impulsivität und die Suche nach einem „Kick“ (d. h. Sensation bzw. Thrill Seeking). Weiterhin geht Beelmann davon aus, dass eine erhöhte Ungerechtigkeitssensibilität, also eine erhöhte Aufmerksamkeit und Beschäftigung mit wahrgenommener Ungerechtigkeit gegenüber der sozialen Eigengruppe, als Risikofaktor gewertet werden kann, auch wenn diese These noch nicht ausreichend überprüft ist.

Diese und weitere in der Literatur vorzufindenden Risiko- sowie Schutzfaktoren sind allerdings im Zusammenhang mit Radikalisierung keinesfalls sichere Indikatoren für Anfälligkeit oder Resilienz. Die Risikofaktoren werden zwar immer wieder bei radikalisierten Personen beobachtet, stellen allerdings keine spezifischen Merkmale der Radikalisierung dar. Das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren genießt allerdings in der Praxis eine große Akzeptanz, da es Argumente für die Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Extremismusprävention auf Vorfeldbereiche liefert.

Risikobewertung

Im Zusammenhang mit der Entwicklung von sogenannten Risikobewertungsinstrumenten, die die Gefährlichkeit von Personen einschätzen sollen (z. B.VERA, TRAP) tauchen in der Literatur viele als Risikofaktoren benannte Indikatoren auf, die mehr oder weniger vergleichbar erscheinen. Sie sind entweder einfach zu beobachten, durch vorhandene Informationen über die Person in ihrer Ausprägung einzuschätzen oder durch Gespräche mit ihr (z. B. im Rahmen von Präventionsmaßnahmen) oder mit Bezugspersonen zu ermitteln.

Es ist hier ausdrücklich zu erwähnen, dass solche Risikobewertungsinstrumente keine psychologischen Tests sind. Sie sind – entgegen einer in der Praxis verbreiteten Vorstellung – mit klassischen Testverfahren aus den Bereichen der Leistungstestung, der Differentiellen Psychologie oder psychologischen Diagnostik nicht vergleichbar. Es ist nicht bekannt, ob sie den in diesem Bereich gültigen Gütekriterien (Validität und Reliabilität) genügen oder ob sie in Bezug auf diese Fragestellung überhaupt entsprechend der Regeln der Testkonstruktion geprüft worden sind. Die Testkonstruktion erfordert das Vorliegen einer anerkannten Theorie zu den dem Test zugrunde gelegten Konstrukten sowie eine präzise Definition der latenten Merkmale, die zur Erfassung der zu bewertenden Variablen geeignet sind. Dies sowie weitere Eigenschaften des Gegenstands „Radikalisierung“ (vor allem seine vielfältigen Bezüge zu zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen und die Bedeutung von Einflussfaktoren anderer Systemebenen – außer der Person) erschweren die Konstruktion von Testverfahren, die einen Radikalisierungsprozess abbilden oder seine Entwicklung prognostizieren wollen. Die in der Präventionspraxis zunehmend bekannten Risikobewertungsinstrumente sind daher kaum in der Lage, im konkreten Fall eine valide Bewertung zu liefern. Einen Mehrwert können sie aber bei der Aus- und Fortbildung von Fachkräften entfalten, indem sie einen ersten Zugang zu einem sehr komplexen Handlungsfeld ermöglichen.

Beispielhaft werden hier die Indikatoren des Risikobewertungsinstruments „VERA-2R“ aufgeführt:

  • Risikokategorie „Überzeugungen, Einstellung und Ideologien“: Entmenschlichung von ausgewählten Zielen, die mit Ungerechtigkeit assoziiert werden; Ablehnung der demokratischen Gesellschaft und deren Werte; Frustration, Ärger, Hass in Bezug auf empfundene Entfremdung und Verfolgung; Feindseligkeit gegen nationale Identität; mangelnde Empathie und mangelndes Verständnis für diejenigen außerhalb der eigenen Gruppe.
  • Risikokategorie „Sozialer Kontext und Absicht“: Interesse an bzw. Konsum oder Entwicklung von gewalttätigem, extremistischem Material; Befürwortung des Angriffs auf identifizierte Ziele (Personen, Gruppen, Orte); persönlicher Kontakt mit gewalttätigen Extremistinnen oder Extremisten (Gruppen oder Mentorinnen und Mentoren); zum Ausdruck gebrachte Absicht, aufgrund von Benachteiligungen oder aus anderen Gründen gewalttätig zu handeln.
  • Risikokategorie „Vorgeschichte, Handlungen und Kompetenzen“: Frühe Konfrontation mit einer gewaltbefürwortenden, militanten Ideologie; Netzwerk von Familie, Freundinnen und Freunden, die an Gewalttaten beteiligt sind; kriminelle Vorgeschichte, gewalttätige Vorfälle; taktische, (para-)militärische und/oder Sprengstoff-Ausbildung; Ausbildung in extremistischer Ideologie im eigenen Land oder Ausland; Zugang zu Finanzmitteln und Hilfsquellen oder organisatorische Fähigkeiten.
  • Risikokategorie „Selbstverpflichtung und Motivation“: Legitimation von Gewalt und Tötungen im Dienst einer höheren Sache (religiöse Verpflichtung, Glorifizierung); Motivation durch kriminellen Opportunismus; Motivation durch Kameradschaft, Gruppenzugehörigkeit; Motivation durch moralische Verpflichtung, moralische Überlegenheit, Aufregung und Abenteuer; erzwungene Beteiligung an gewalttätigem Extremismus; Erlangen eines höheren Status´; Streben nach Sinn und Bedeutung im Leben.
  • Kategorie „Protektive und risikovermindernde Indikatoren“: Re-Interpretation der Ideologie; Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Zielerreichung; Neudefinition des Feindes; Teilnahme an Programmen gegen gewalttätigen Extremismus; Unterstützung von Gewaltlosigkeit durch die Gemeinschaft; Unterstützung von Gewaltlosigkeit durch Familienmitglieder oder andere wichtige Personen.15)

In der Präventionspraxis werden des Weiteren auch andere niedrigschwellige Indikatoren für Radikalität oder für Anfälligkeit zu Hilfe genommen, um eine Einschätzung der Person vorzunehmen und/oder um eine „Indikation“ zu untermauern, die eine Aufnahme dieser Person in das entsprechende Präventionsprogramm rechtfertigen. Dabei werden in der Regel die Einstellungen der Person geprüft, vorhandene biografische Informationen interpretiert und Aussagen über relevante Persönlichkeitsmerkmale getroffen.

Bei dieser Bewertungsarbeit stützen sich Praktikerinnen und Praktiker zum einen auf ihre pädagogischen Erfahrungen, zum anderen auf die oben geschilderten Erkenntnisse der Radikalisierungsforschung über Risikofaktoren. Aussagen über die Güte dieser in der Praxis stattfindenden Bewertungsarbeit sind in den einschlägigen Literaturdatenbanken selten zu finden, da in diesem Bereich kaum evaluiert und publiziert wird.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen