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Das Online-Individuum

Die Radikalisierung des Online-Individuums: Ein Wechselspiel aus Push- und Pull-Faktoren

Wir leben in einer Welt, in der uns digitale Kommunikationstechnologien, insbesondere das Smartphone, ermöglichen, quasi permanent online zu sein. Das resultierende Phänomen der ständigen Verfügbarkeit (“permanently online, permanently connected“, POPC) führt zu weitreichenden Konsequenzen für die Nutzerinnen und Nutzer. Studien zeigen beispielsweise Auswirkungen auf die Schlafqualität, die akademische Leistung von Studierenden und das Gefühl von Informationsüberlastung und digitalem Stress. Andererseits kann die Nutzung von Smartphones Grundbedürfnisse befriedigen, indem beispielsweise das Smartphone zu einem Gefühl von Kontrolle beitragen kann. Soziale Medien können darüber hinaus das Gefühl von Zusammengehörigkeit fördern.94) Das machen sich auch Extremistinnen und Extremisten zunutze.

Ob und wie der Kontakt mit Internet-Propaganda eine radikalisierende Wirkung entfaltet, hängt auch davon ab, welche individuellen Dispositionen (Push-Faktoren) ein Anwendender aufweist. Aktuelle Medienwirkungsmodelle betonen die Bedeutung solcher spezifischen individuellen Wechselwirkungen zwischen Medien- und Personeneigenschaften in bestimmten sozialen Kontexten.95) Entsprechend ist nicht von der „allgemeinen“ Wirkung des Internets bei Radikalisierungsdynamiken auszugehen, sondern eine präzise Betrachtung des Zusammenspiels von Medien- und Personenfaktoren erforderlich. Bei der Überlegung zu einem möglichen Radikalisierungspotenzial des Online-Individuums können demnach Push- und Pull-Faktoren als eine Interaktion zwischen Eigenschaften des Mediums (Pull-Faktoren), beispielsweise der Online-Propaganda, und Eigenschaften des Individuums (Push-Faktoren) verstanden werden.

Pull-Faktoren auf Seiten des Mediums

Wie bereits erwähnt, ermöglichen Online-Medien, dass sich Menschen permanent austauschen und miteinander in Kontakt stehen können. So können über Online-Medien Beistand und Zuspruch von Freundinnen und Freunden oder Bekannten geteilt und Informationen gesucht werden, selbst in Lebenssituationen, in denen dies früher nicht möglich gewesen wäre. Sie erfüllen damit wichtige Orientierungshilfen, die sich extremistische Gruppierungen zunutze machen. Neben den bereits diskutierten sozialen und identitätsstiftenden Funktionen (siehe oben zur digitalen Gesellschaft in diesem Buch), sind online auch personalisierte Ansprachen etwa über Instant Messenger oder mit Hilfe des so genannten Microtargeting möglich.

Konkrete Orientierungshilfe

Heute suchen Menschen Antworten auf ihre Fragen oftmals auch – wenn nicht sogar zuerst – im Internet. Was man nicht weiß, wird rasch gegoogelt. Das gilt zum Beispiel auch bei Unsicherheiten bezüglich der korrekten Religionsausübung. Bei Recherchen nach Fragen zu muslimischer Lebensführung wie bspw. „Darf ich als Muslimin oder Muslim Red Bull trinken?“ landen Jugendliche nicht selten auf Köder-Seiten und Blogs mit islamistisch-extremistischer Propaganda. Gleiches gilt für die Suche nach Beauty- und Lifestylethemen, die, zum Beispiel bei der beliebten Foto-Plattform Instagram, geschickt mit Aufrufen zum militanten Kampf verwoben werden.

Auch über Kochrezepte wird der Anschluss an (jugendliche) Lebenswelten gesucht. Rechtsextremistische Aktive aus der Identitären Bewegung versuchen im YouTube Kanal „Baclava-Küche”, Lifestyle-Themen wie vegane Küche mit der Ablehnung jüdischer Lebensmittel zu verbinden. Derartig „moderne“ Rechtsextreme werden auch als Nipster bezeichnet, ein Kunstwort aus Nazi und Hipster.96)

Persönliche Ansprache

Online-Medien erleichtern nicht nur das Verfügbarmachen von Informationen, sondern auch die gezielte und aktive Ansprache einzelner Anwendender. Eine Besonderheit von Online-Medien im Vergleich zu klassischen „Massenmedien” wie dem Fernsehen ist die Möglichkeit der interaktiven, personifizierten Ansprache von Nutzerinnen und Nutzern. Per Instant Messenger (z. B. WhatsApp, Telegram, etc.) kann direkt auf Fragen, Sorgen oder Probleme eingegangen werden. Die Personen fühlen sich so angenommen und unterstützt. Die Strukturen sozialer Medien erleichtern das Gefühl, „gesehen” zu werden: „Likes”, „Shares” oder Kommentare helfen bei der Befriedigung des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit und Bedeutsamkeit.

Die Besonderheit der persönlichen Kommunikation in Instant Messengern fördert die Verbundenheit und suggeriert Privatsphäre und Intimität.97) Der ehemalige Salafist Dominic Schmitz (2016) berichtet, dass in solchen Situationen sogar Freundschaft oder Liebe zwischen Rekrutin oder Rekrut und Rekrutierendem entstehen kann. Die französische Journalistin Anna Erelle berichtet, wie sie – getarnt als junge Muslimin – bereits nach kurzer Zeit von Anwerbern des „IS“ im Netz kontaktiert und in stundenlangen Skype-Gesprächen umworben wurde.98)

Das intime Umfeld in Instant Messengern nutzen extremistische Personen auch bei der Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen. So betreuten Medienberichten zufolge Mentorinnen und Mentoren des ‘IS’ die Täter der Anschläge in Ansbach und Würzburg über WhatsApp oder Telegram während der Ausführung.99)

Um potenzielle Interessierte zu identifizieren, können sich Extremistinnen und Extremisten auch mit dem sogenannten Microtargeting, der personifizierten Darbietung von Werbeanzeigen in sozialen Medien, helfen. Plattformen wie Facebook bieten Werbetreibenden eine Unzahl von Eigenschaften der Zielgruppe an, mit deren Hilfe die Ausstrahlung von Botschaften gezielt gesteuert werden kann. Bis 2017 konnte man dabei auch „Judenhasser” als Zielgruppe festlegen, noch im Mai 2018 konnte man Personen auswählen, die sich für Gewalt und Salafismus interessieren.100)

Attraktive Geschichten

Häufig ist es allerdings gar nicht das Medium an sich, das eine Wirkung begünstigt, sondern vielmehr der Inhalt und die Art und Weise, wie dieser Inhalt transportiert wird. Nicht jeder Aufruf oder jede Propaganda beinhalten das gleiche Potenzial, radikale Einstellungen zu fördern oder sogar zu einer gewaltbereiten Radikalisierung beizutragen. Welche Inhalte dazu allerdings in der Lage sind, ist in vielerlei Hinsicht noch ungeklärt.

Zur potenziellen Wirkung von Online-Propaganda als Push-Faktor kann dabei generell festgehalten werden, dass Propagandavideos von den meisten jungen Erwachsenen eher als aversiv erlebt werden.101) Wie bei Kinofilmen werden auch Propagandavideos besser bewertet, wenn sie spannend gemacht, professionell produziert und abwechslungsreich sind, kurzum: wenn sie eine gute Geschichte erzählen. Solche Videos werden als attraktiver wahrgenommen und regen Identifikationsprozesse an, auch mit dem Extremismus.102)

Generell lässt sich festhalten, dass sowohl rechtsextreme Personen als auch islamistische Extremistinnen und Extremisten mit ihrer Propaganda oft direkt an der Lebenswelt ihres Publikums ansetzen. Da werden Hashtags gekapert, um eigene Themen in die Diskussion zum #Tatort einzuschmuggeln, oder sie äußern sich zu aktuellen Ereignissen.103)

Eine weitere Strategie sind Videos, in denen junge Jihadistinnen und Jihadisten oder rechtsextremistische Personen von ihrem persönlichen Weg in den Jihad bzw. die Szene erzählen, um andere zu motivieren, es ihnen nachzutun („Lifestyle Activists“).104) Wie oben bereits angesprochen, ist aber immer die Interaktion zwischen Medium (bzw. Medieninhalt) und Einzelperson entscheidend. Daher sollte nicht von einer starken Medienwirkung per se ausgegangen werden – auch nicht, wenn die erzählte Geschichte im extremistischen Narrativ gut ist (siehe unten zu Präventionsansätzen für das Online-Individuum).

Push-Faktoren auf Seiten des Individuums

Letztlich entscheiden Mediennutzende selbst, ob sie ein bestimmtes Propaganda-Video ansehen oder sich bestimmte Gegenbotschaften zu Herzen nehmen. Auch wenn die Forschung auch hier noch in den Anfängen steht, wurden bestimmte Push-Faktoren identifiziert, die Radikalisierungsprozesse oder eine aufgeschlossenere Haltung gegenüber extremistischen Botschaften begünstigen könnten (s. auch Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus - Seite 1). Zum einen sind das situative Faktoren, also Umstände, die in der Situation liegen können. Zum anderen sind Personenfaktoren gemeint, also Eigenschaften und Einstellungen der Person, die über verschiedene Situationen hinweg stabil sind.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen