Bundeskriminalamt (BKA)

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Extremismusprävention aus der Perspektive eines sicherheitsbehördlichen Bedarfs

Dieser Beitrag versteht sich als Brückenschlag zwischen Theorie- und Praxisteil des Handbuches. Der Darstellung der wissenschaftlichen Grundlagen der Extremismusprävention in Kap. 1 bis 4 folgt im Praxisteil eine Beschreibung dieses Handlungsfeldes in Deutschland aus der Sicht einiger der zentralen Akteurinnen und Akteure, die seit mehreren Jahren in diesem Bereich in unterschiedlichen Rollen gestalterisch tätig sind. Die folgenden drei Kapitel (Kap. 5, 6 und 7) behandeln ausführlich zentrale Facetten der aktuellen bzw. zurückliegenden Präventionspraxis und bieten dem Leser umfassende Einblicke in die relevanten Ansätze, Programme und Projekte. Der Praxisteil des Handbuchs versteht sich als Versuch, den Ist-Stand der Präventionspraxis im Jahr 2020 abzubilden. Dies ist ein Unterfangen, das angesichts des fluiden Charakters eines sich ständig verändernden und in Entwicklung begriffenen Arbeitsfeldes nur eine Momentaufnahme einer komplexen Wirklichkeit liefern kann. Brahim Ben Slama Diplom-Psychologe bei der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus des Bundeskriminalamtes

Dieser einleitende Beitrag soll zusätzliche Informationen über die Anforderungen und Erwartungen an eine Extremismuspräventionspraxis vermitteln, die aus der Perspektive eines sicherheitsbehördlichen Bedarfs formuliert – und somit etwas stärker auf einen Teilbereich des Handlungsfeldes fokussiert sind, indem die Arbeit mit der für die Sicherheitsorgane relevanten Zielgruppe im Mittelpunkt steht. Diese Einleitung befasst sich also mit einem aus sicherheitsbehördlicher Perspektive formulierten Soll-Stand in einem für die Sicherheitsbehörden wichtigen Abschnitt der Extremismusprävention und soll zur Vervollständigung des Gesamtbildes in diesem Praxisteil des Handbuches beitragen.

Beginnend mit einem Blick von außen auf das, was in Deutschland zur Prävention des „islamistischen“ Extremismus und Terrorismus unternommen und spitz-anerkennend als „German Approach" in der internationalen Literatur umschrieben wurde, sollen zuerst sowohl die Chancen als auch Grenzen eines föderal organisierten Systems sowie ihre Bedeutung für die Präventionsarbeit skizziert werden.

Daran anschließend folgt ein kurzer historischer Abriss über die junge Geschichte der Anstrengungen im Bereich der Prävention des islamistisch motivierten Extremismus/Terrorismus, die seit 2005 im staatlichen Sektor in Deutschland unternommen wurden und die letztendlich den Weg zur Etablierung der aktuellen Praxis geebnet haben.

Nach diesem deskriptiven Teil geht der Beitrag auf die zentrale Frage der Wirksamkeit und Effektivität von Extremismuspräventionsprogrammen ein, die von staatlichen Akteuren finanziert und gestaltet werden: Was kann und soll Extremismusprävention in diesem Bereich leisten und wie kann sichergestellt werden, dass die beabsichtigten Effekte tatsächlich erzielt werden? Hierbei wird zunächst auf die Möglichkeiten und Grenzen einer evidenzbasierten Gestaltung von Präventionsprogrammen in einem relativ jungen und quantitativ überschaubaren Feld eingegangen und daraus konkludierend die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Konzeption erörtert.

Zuletzt werden einige Schlussfolgerungen aus den Darstellungen des Wissensstandes in den Kapiteln 1 bis 4 gezogen und ihre Bedeutung für die Gestaltung von Präventionsprogrammen diskutiert. Dabei werden auch einige Entwicklungspotenziale angesprochen, die – in Anbetracht der aktuellen Erkenntnislage und vor dem Hintergrund eines akuten Handlungsbedarfes im sicherheitsrelevanten Bereich – sich künftig besser entfalten müssten, damit Prävention ihr Versprechen einlösen kann, bei der Eindämmung von Extremismus einen spürbaren Effekt zu erzielen.

The German Approach?

In einem Artikel vom Jahr 2013 beschreibt Dorle Hellmuth den deutschen Ansatz zur Prävention des islamistischen Extremismus/Terrorismus (the country´s general approach on counterradicalization)1) und identifiziert dabei drei Charakteristika, die nach ihrer Sicht den „German Approach“ kennzeichnen:

Mainstream-Salafisten

Als Mainstream-Salafisten2) bezeichnet sich eine große Gruppe deutscher Salafisten. Sie verbinden Missionsarbeit mit einer eigeschränkten Akzeptanz von Methoden außerparlamentarischer Opposition wie Protestkundgebungen und -kampagnen. Ein Teil von ihnen lehnt Gewalt ab und ein anderer legitimiert sie, ohne direkt dazu aufzurufen.

  • Die Präventionsbemühungen seien gegen alle Formen des radikalen Islamismus gerichtet und würden beispielsweise nicht nur auf den gewaltbereiten Salafismus abzielen, sondern auch auf den sogenannten Mainstream-Salafismus. Aus deutscher Sicht würden beide Flügel ein und dieselbe Ideologie teilen und die Grenzen seien zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens dynamisch.
  • Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (England, Niederlande und Dänemark), die bereits sehr früh eigene nationale Präventionsstrategien gegen den islamistischen Extremismus und Terrorismus entwickelt hätten, erschwere die föderale Struktur in Deutschland die Aufstellung eines einheitlichen Präventionsprogramms, das überall in den 16 Bundesländern auf Akzeptanz stoße.
  • Diesem Umstand geschuldet, und weil Prävention ohnehin vor Ort in den Kommunen stattfinde, bestehe der Mehrwert eines nationalen Präventionsprogramms in Deutschland in der Koordinierung und dem Austausch zwischen lokalen und überregionalen Akteuren sowie zwischen den unterschiedlichen relevanten Ressorts.

Gleichwohl diese – einige Jahre zurückliegende – Charakterisierung der Präventionspraxis in Deutschland nicht in allen Punkten mit der Selbstdarstellung vieler Präventionsinitiativen hierzulande deckungsgleich scheint, so spiegelt sie zumindest eine Außenperspektive wider: die „Islamismusprävention“ in Deutschland, wie sie im Ausland wahrgenommen wird. Dabei scheinen die groben Rahmenbedingungen der Präventionsarbeit in Deutschland für 431 den Außenbeobachter nicht unentdeckt geblieben zu sein: 1) Die Dominanz einer Gefahrenperspektive, die Radikalisierung als Vorstufe von Gefährdung sieht bzw. als Phase, die potenziell zum Extremismus und Terrorismus führen kann (siehe Kap. 3.3) und vor allem den Umgang mit den Islamismus-bezogenen Phänomenen3) prägt 2) die Bedeutung der Föderalen Struktur Deutschlands, die die Zuständigkeiten für präventions-relevante Handlungsfelder regional verortet sowie 3) die Macht eines gelebten Subsidiaritätsprinzips, das vor allem den Kommunen viele Handlungsräume öffnet und gleichzeitig praktische Präventionsarbeit ohne deren Mitwirkung erschwert.

Die Vorstellung, dass Extremismusprävention in Deutschland einem bundeseinheitlichen Ansatz folgt, erweist sich allerdings als ungenau, die Umschreibung „German Approach“ als metaphorisch. Vor dem Hintergrund der Realität eines föderalen Systems, in dem die Verantwortlichkeit für bestimmte Gesellschaftsbereiche in den Händen der Bundesländer liegt und nicht einem nationalen Diktat untersteht, existieren vielmehr in Deutschland zahlreiche Programme in Bund und Ländern mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Hieraus ergeben sich unweigerlich quasi maßgeschneiderte, auf die spezifischen regionalen Bedürfnisse ausgerichtete Ansätze sowie die Notwendigkeit einer besseren Koordinierung und Abstimmung zwischen Bund und Ländern sowie zwischen unterschiedlichen Ressorts (vertikaler und horizontaler Austausch).

Wie Extremismusprävention in Deutschland aktuell im Allgemeinen aufgestellt ist, wird in den folgenden Beiträgen des Handbuches durch Repräsentanten der Präventionspraxis ausführlich erörtert. Dabei offenbart sich die Dynamik einer Präventionspraxis, deren Konzepte, Ansätze und Programme stets einem Anpassungsdruck unterliegen, der durch die ständig wachsenden Anforderungen der unterschiedlichen Phänomene sowie die immer neuen Veränderungen der Rahmenbedingungen von Präventionsarbeit bedingt ist. Besonders in den letzten Jahren waren die Herausforderungen immens. Nicht nur im Bereich des islamistisch motivierten Extremismus und Terrorismus, dessen Bedrohung nicht zuletzt durch die massiven Ausreisen deutscher „Jihadisten“ nach Syrien und in den Irak selbst auf regionaler und kommunaler Ebene spürbarer geworden ist, sondern auch in weiteren Phänomenbereichen (Rechts- und Linksextremismus) sehen wir uns heute mit einer anderen Lage konfrontiert. Sowohl der quantitative Zuwachs der einzelnen Phänomene als auch die zunehmenden Interdependenzen zwischen ihnen machen eine wirksame und besser abgestimmte phänomenübergreifende Präventionsstrategie dringend erforderlich.

Die Bemühungen zur Etablierung von Präventionsprogrammen im Bereich des islamistisch motivierten Extremismus und Terrorismus begannen in den Anfängen der 2000er Jahre als Reaktion auf eine seinerzeit als neu empfundene Bedrohung. Für viele Jahre waren es in Deutschland überwiegend staatliche Akteure, die in diesem Bereich Initiativen entfalteten. Konzepte für eine „Islamismusprävention“ wurden oft im Rahmen von Gremienarbeit unter Berücksichtigung des jeweils aktuellen Wissensstandes entwickelt und abgestimmt. Im folgenden Abschnitt folgt eine Darstellung der seit 2005 in diesem Bereich unternommenen Anstrengungen für die Etablierung einer Präventionspraxis zur Eindämmung des islamistisch motivierten Extremismus und Terrorismus.

Staatliche Praxis seit 2005 – Chronologie der „Islamismusprävention“ in Deutschland

Die Präventionsbemühungen der Bundesländer im Bereich des islamistisch motivierten Extremismus und Terrorismus haben vor allem in den letzten drei bis vier Jahren signifikant zugenommen. Diese Entwicklung steht offensichtlich im Zusammenhang mit der Zuspitzung der Problematik der Ausreisen deutscher „Jihadistinnen" und „Jihadisten“ nach Syrien und in den Irak. Aktuell existieren in den meisten Bundesländern entsprechende Programme mit der Zielsetzung, die Arbeit der Sicherheitsbehörden (Gefahrenabwehr und Strafverfolgung) durch Prävention zu ergänzen.

Die Anfänge staatlicher Programme im Bereich der „Islamismusprävention“ reichen allerdings in die Jahrtausendwende zurück.

Erste Bund-Länder-Projektgruppe „Prävention islamistischer Extremismus/Terrorismus“ (PisET 1)

Den ersten Anlauf zu einer bundesweiten Konzeption unternahm eine Bund-Länder-Projektgruppe im Jahr 2005 im Auftrag der „Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder“ (IMK). Die Bund-Länder-Projektgruppe „Prävention islamistischer Extremismus/Terrorismus“ (PisET) hatte die Aufgabe, eine Konzeption zur Erarbeitung und Koordinierung gemeinsamer Präventionsansätze und -projekte in Bund und Ländern im Bereich „islamistischer“ Extremismus/Terrorismus zu erstellen, in der bereits vorhandene Aktivitäten und Maßnahmen berücksichtigt werden sollten. Die Projektgruppe bestand aus Vertretern von Sicherheitsbehörden (Staatsschutz und Verfassungsschutz), dem Bundesinnenministerium sowie dem „Programm polizeilicher Kriminalprävention der Länder und des Bundes“ (ProPK) und dem „Deutschen Forum für Kriminalprävention“ (DFK). Die Konzeption sollte einem gesamtgesellschaftlichen Präventionsansatz folgen, der sich nicht auf polizeiliche Prävention beschränkt und demgemäß ressort- und ebenenübergreifend ausgerichtete Vorschläge vorlegen.

Die BLPG, die vom Bundeskriminalamt (Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus) geleitet wurde, befasste sich mit dem Phänomen des „islamistischen“ Extremismus/ Terrorismus aus wissenschaftlicher Sicht (Erhebung des Wissensstandes zum Phänomenfeld) und führte eine Phänomenanalyse aus der Perspektive von Sicherheitsbehörden durch. Des Weiteren wurde im Zuge der Auftragserfüllung unter der Zuziehung der Expertise von DFK und ProPK das Präventionsverständnis abgestimmt und definiert. Basierend auf den Ergebnissen der wissenschaftlichen und phänomenologischen Analysen wurden dann folgende allgemeine Ziele für die Prävention definiert: 1) Verhinderung der Verbreitung des „Islamismus“; 2) Verhinderung von Radikalisierungsprozessen; 3) Verhinderung „islamistischer“/ terroristischer Straftaten. Daraus wurden konkretere Programm- und Zwischenziele zur Erreichung der Präventionsziele abgeleitet. Es wurden weiterhin Empfehlungen formuliert, die den Aufbau eines Wissensmanagements zu kontinuierlichen Analysen von wissenschaftlichen und phänomenologischen Erkenntnissen fordern sowie zum Aufbau einer Koordination und Steuerung vorhandener Präventionsprojekte und zur besseren Vernetzung der relevanten Akteure aufrufen. Um die Konzeption auf eine gesamtgesellschaftliche Basis stellen zu können, wurde die Einbindung weiterer Ressorts angeregt.4)

Auf der Grundlage der Empfehlungen des PisET 1-Berichtes empfahl die Innenministerkonferenz im Mai 2006, dass eine ressortübergreifende Bund-Länder-Projektgruppe einen gesamtgesellschaftlichen Aktionsplan zum Schwerpunktvorhaben der „Islamismusprävention“ erstellt.

Zweite Bund-Länder-Projektgruppe „Prävention islamistischer Extremismus/ Terrorismus“ (PisET 2)

Aufauend auf der Vorarbeit von PisET 1 unterstützte im Dezember 2007 die Ministerpräsidentenkonferenz die Bildung einer ressortübergreifenden Bund-Länder-Projektgruppe mit dem Ziel, dass die fachlich zuständigen Ressorts von Bund und Ländern ihre jeweiligen Aktivitäten im Bereich der Prävention von „islamistischem“ Terrorismus/Extremismus koordinieren.5)

Die sogenannte PisET 2 legte im September 2010 die Ergebnisse ihrer Arbeit in einem Bericht vor (Bericht der Bund-/Länder-Arbeitsgruppe Islamismusprävention an die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder zur Verwirklichung eines ganzheitlichen Präventionsansatzes). Dabei identifizierten die Experten acht Handlungsfelder bzw. Themenbereiche, die einen ganzheitlichen Präventionsansatz widerspiegeln und sich nicht auf Maßnahmen beschränken, die in die originäre Zuständigkeit der Innenressorts fallen. Die übergeordneten Ziele sind: 1) die Stärkung des Demokratieverständnisses und der Akzeptanz der Werteordnung des Grundgesetzes; 2) die Bewusstmachung von und Auseinandersetzung mit „islamistischer“ Ideologie, Propaganda und „islamistischen“ Feindbildern sowie 3) die Verhinderung „islamistischer“ extremistischer/terroristischer Straftaten.

Die acht Themenbereiche sind:

  • Entwicklung von politischem Wissen und demokratischen Werten bei Schülerinnen und Schülern in der Schule.
  • Schaffung öffentlicher islamischer Bildungsangebote in deutscher Sprache.
  • Sprachliche und landeskundliche Qualifizierung von islamischen Religionsbediensteten (u.Imamen) und weiteren Multiplikatoren in islamischen Gemeinden.
  • Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
  • Partnerschaften staatlicher Einrichtungen, insbesondere Schulen, mit muslimischen Einrichtungen auf lokaler Ebene.
  • Vertrauensbildung und Aufbau interkultureller Kompetenzen – Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden mit Muslimen.
  • Medienarbeit zur Auseinandersetzung mit dem „Islamismus“ und zur Vorbeugung gegen Radikalisierung.
  • „Islamistische“ Inhalte im Internet und in anderen Medien.

Zur Umsetzung der Empfehlungen des Berichtes wurden in den folgenden Jahren auf unterschiedlichen Ebenen entsprechende Maßnahmen angestoßen. So wurde z. B. die Zentrale Geschäftsstelle des Programms „Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes“ (ProPK) mit der Leitung einer Bund-Länder-Projektgruppe beauftragt mit dem Ziel, das Thema „Islamistische Inhalte im Internet und anderen Medien“ aufzugreifen und auf der Basis des PisET-Berichtes ein konkretes Realisierungskonzept zur Verwirklichung eines ganzheitlichen Präventionsansatzes zu erarbeiten. Die Projekt gruppe entwickelte in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren ein Medienpaket für Pädagogen, mit dessen Hilfe Präventionsarbeit mit Jugendlichen erleichtert werden kann.6)

Des Weiteren wurden – um eine weiteres Beispiel zu nennen – auf der Ebene der Deutschen Islamkonferenz zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Kommunikation zwischen Islamverbänden und staatlichen Akteuren zu verbessern und Kooperationen in diesem Bereich zu erleichtern. Auch auf der Ebene der Bundesländer wurden zahlreiche Projekte und Maßnahmen ins Leben gerufen, um im Sinne der Empfehlungen des PisET-Berichtes zur „Islamismusprävention“ beitragen zu können.

AG-Deradikalisierung im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ)

Im engeren Bereich der Sicherheitsbehörden, die sich mit dem Thema Extremismus und Terrorismus beschäftigen (polizeilicher Staatsschutz und Verfassungsschutz), wurde auf Beschluss der Innenstaatssekretäre von Bund und Ländern im Jahre 2009 die Arbeitsgruppe „Deradikalisierung“ im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin eingerichtet. Ziel der AG ist es, den Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden zum Thema zu verbessern und Konzepte für Maßnahmen zu erarbeiten, die zur Deradikalisierung von Einzelpersonen und/oder „islamistischer“ Szene beitragen können.

An der jährlich stattfindenden Plenumssitzung der AG-Deradikalisierung nehmen alle im GTAZ vertretenen Behörden teil. Im Rahmen dieser werden die Ergebnisse der zahlreichen Unterarbeitsgruppen vorgestellt und diskutiert. Unterarbeitsgruppen bilden sich zu bestimmten Themen, die von den Mitgliedern der AG-Deradikalisierung vorgeschlagen werden. Die Unterarbeitsgruppen treffen sich nach Bedarf und entwickeln Konzepte für unterschiedliche Themen.

Zu den Themen, die bis 2019 im Rahmen der AG-Deradikalisierung von Unterarbeitsgruppen behandelt wurden, zählen folgende: „Grundlagen und Strategien“; „Kommunikative Gegenstrategien“; „Ansprechpartner und Kommunikationswege“; „Dekonstruktion jihadistischer Ideologie“; „Counter Narratives“; „Zusammenarbeit mit Justiz“; „Psychisch auffällige Personen“ etc.

Die AG-Deradikalisierung hat sich im Laufe der Jahre zu einem Thinktank der Sicherheitsbehörden entwickelt. Ihre Arbeit trug zu einem Wissenszuwachs zum Thema „Deradikalisierung“ im sicherheitsbehördlichen Bereich erheblich bei.

2019 übernahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Federführung der AG-Deradikalisierung.

Aktuelle Konzepte (zugrundeliegendes Konzept für die Arbeit der Landeskoordinierungsstellen)

Auf der regionalen Ebene wurden in den Jahren vor 2013 in einigen Bundesländern unterschiedliche Programme initiiert, um Extremismusprävention im „Islamismusbereich“ voranzubringen. So hat sich z. B. in Niedersachsen eine Projektgruppe unter der Federführung des Verfassungsschutzes der Erstellung eines Handlungskonzeptes angenommen, „um der Radikalisierung junger Musliminnen und Muslime entgegenzuwirken“.7)

Vergleichbare Initiativen sind auch aus anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfallen, Hamburg oder Bayern bekannt. Einhergehend mit dieser Entwicklung wuchs auch die Bedeutung einer besseren Abstimmung und intensiveren Koordination zwischen den unterschiedlichen Programmen der Bundesländer zu einem zentralen Erfordernis.

Die aktuelle Praxis, die durch eine bundesweite Dachstrategie geprägt ist, begann erst 2013. Der Kerngedanke ist die Bildung von Netzwerken der Prävention, um einem Phänomen begegnen zu können, das sich ebenfalls durch eine Netzwerkstruktur auszeichnet. Der treibende Faktor hinter dieser Entwicklung waren die zunehmenden Reisetätigkeiten deutscher „Islamisten/Salafisten“ in Richtung Syrien und Irak, ein Phänomen, das sowohl für den Bund als auch für einen Großteil der Bundesländer hohe Relevanz aufweist.

Ende 2013 reagierte die IMK (Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder) auf den Anstieg jihadistisch motivierter Ausreisen aus Deutschland in die Krisengebiete in Syrien und im Irak. Sie beschloss die Durchführung einer Studie, um die Radikalisierungshintergründe und -verläufe aller bisher aus Deutschland nach Syrien Ausgereisten zu analysieren. Auf der Grundlage der Erkenntnisse dieser Auswertung sollte eine gemeinsame Rahmenkonzeption zur Implementierung von „Präventionsnetzwerken gegen Salafismus“ in Bund und Ländern erstellt werden. Ein Kernergebnis der 2014, 2015 und 2016 wiederholt durchgeführten Analysen war die Feststellung, dass die radikalisierungsbefördernden Faktoren und die Bedeutung, die ihnen jeweils zukommt, fast ausnahmslos mit dem salafstischen Milieu verbunden sind. Daraus resultierend wurde eine neue Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen mit dem Ziel, ein neues Präventionskonzept zu erstellen (Länderübergreifende Präventionsnetzwerke gegen Salafismus).8)

Die mit der Erstellung und Aktualisierung des Konzeptes beauftragte Arbeitsgruppe identifizierte fünf Handlungsfelder für die Salafismusprävention: „allgemeine Prävention“, „spezifische Prävention“, „Beratung von Angehörigen“, „Beratung/Deradikalisierung von Radikalisierten im frühen Stadium“ und „Ausstiegshilfen“.

Sie entwickelte eine Rahmenkonzeption, die eine gemeinsame, ganzheitliche Präventionsstrategie sicherstellt und zugleich so flexibel ist, dass (regionale) Besonderheiten in den einzelnen Ländern und im Bund berücksichtigt werden können.

Die zentralen Elemente sind dabei:

  • Landeskoordinierungsstellen: Die Landeskoordinierungsstellen, die an zentrale staatliche Stelle angebunden sein sollen, sind zuständig für die zentrale Steuerung und Koordinierung der Maßnahmen der Prävention und gewährleisten zudem den notwendigen Informationsfluss zwischen den Beratungsstellen und den Sicherheitsbehörden.
  • Beratungsstellen: Zu den Kernaufgaben der Beratungsstellen gehören Maßnahmen der Prävention und Ausstiegsbegleitung. Die Beratungsstellen sollten nicht bei den Sicherheitsbehörden angesiedelt werden, um für Betroffene die Hemmschwellen zur Kontaktaufnahme zu senken. Sie beraten Angehörige von Radikalisierten, auch von ausgereisten Personen; sie arbeiten aber auch mit Radikalisierten selbst.
  • Fachbeiräte: Aufgabe dieser Gremien ist die Begleitung, Beratung und Unterstützung der Landeskoordinierungsstellen und der Beratungsstellen in ihrer strategischen Ausrichtung und Arbeit. Die Fachbeiräte setzen sich aus Vertreterinnen und Vertretern der tangierten Ministerien (z. B. Innenressort, Justizressort, Kultusressort, Sozialressort – ressortübergreifende Gremien) sowie diversen weiteren Akteuren zusammen (z. B. Städte- und Gemeindebund, Städtetag, Landkreistag, Landeszentrale für politische Bildung, Landesamt für Verfassungsschutz, Landeskriminalamt, Sportjugend, Landesjugendring, religiöse Landesverbände/Verbände/Organisationen, Universitäten etc.).
  • Hotline: Betroffene, aber auch Angehörige oder Personen aus dem sozialen Umfeld können über eine Hotline, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angesiedelt ist, ersten Kontakt aufnehmen und von dort an die Beratungsstellen im jeweiligen Bundesland vermittelt werden (des Weiteren verfügen viele Landesprogramme über eigene Hotlines).
  • Kommunen: Die Kommunen stellen idealerweise einen zentralen Ansprechpartner zur Verfügung und unterstützen bei Bedarf die Beratungsstelle. Sie betreiben ihrerseits geeignete Präventionsmaßnahmen auf lokaler Ebene, ggf. mit Unterstützung der Beratungsstelle und der Landeskoordinierungsstelle.

Das Konzept der „Präventionsnetzwerke gegen Salafismus“ wurde mit einigen Anpassungen an die Gegebenheiten vor Ort in vielen Bundesländern umgesetzt und stellt seit einigen Jahren eine wichtige Säule der Extremismusprävention in Deutschland dar. Seitdem ist die Präventionspraxis im Bereich der „Islamismusprävention“ in Deutschland stärker als zuvor durch eine höhere Dynamik auf Länderebene sowie durch eine neue Verzahnung zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren gekennzeichnet.

Die Koordinierungsstellen der Länderprogramme führen und finanzieren die Präventionsarbeit in den jeweiligen Regionen. Die meisten dieser Landeskoordinierungsstellen sind im sicherheitsbehördlichen Bereich angesiedelt (Innenministerien, Polizei und Verfassungsschutz). Die konkrete und praktische Präventionsarbeit mit der eigentlichen Zielgruppe vor Ort wird hingegen in einem Großteil der Länder durch Beratungsstellen sichergestellt, die in der Verantwortung von zivilgesellschaftlichen Trägern liegen. Somit setzen viele der aktuellen Präventionsprogramme auf die Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Diese Partnerschaft ist quasi ein Markenzeichen des heutigen „Deutschen Ansatzes“ und stellt im Vergleich zu der Praxis im Bereich des Rechtsextremismus, indem Großteile der Aussteigerprogramme ausschließlich durch Sicherheitsbehörden betrieben werden, ein Novum dar. Dass bei der Prävention des Islamismus die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren leichter fällt, liegt zum einen an den Eigenarten des Phänomens und zum anderen an den zurückliegenden Erfahrungen der Sicherheitsbehörden bei den früheren Versuchen, Präventionsprogramme in diesem Bereich zu etablieren. Einer der ersten Versuche auf Bundesebene zur Etablierung eines Aussteigerprogrammes für „Islamisten“ wurde in Gestalt einer Hotline vom Bundesamt für Verfassungsschutz 2010 initiiert.9) Das Programm mit dem Akronym HATIF (Heraus aus Terrorismus und islamistischem Fanatismus) wurde mangels Erfolg 2014 eingestellt.10) Bereits ein Jahr zuvor siedelte das Bundesinnenministerium eine andere Hotline für Ratsuchende beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg an.11)

Die „Beratungsstelle Radikalisierung“ soll Betroffene aus dem gesamten Bundesgebiet unterstützen und im Falle der Feststellung eines Beratungsbedarfes die Vermittlung zu einer Beratungsstelle vor Ort organisieren. Die Beratungsstelle Radikalisierung ist nach 2013 Teil des Präventionsnetzwerks gegen Salafismus geworden und vermittelt Fälle an die Beratungsstellen der Bundesländer.

Eine ausführliche Übersicht des aktuellen Präventionsnetzwerkes sowie über Anbindung und Aufgaben der Länderkoordinierungsstellen wird regelmäßig durch die Arbeitsgruppe Deradikalisierung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) erstellt.12) Im Folgenden werden exemplarisch einige Beispiele dargestellt:

  • Baden-Württemberg: Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg (konex), ist angesiedelt im Innenministerium und dient als Koordinierungsstelle für die landesweite Extremismusprävention.
  • Bayern: „Bayerisches Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus“, in dem vier Ressorts (Innen-, Justiz-, Kultus- und Sozialressort) aktiv beteiligt sind, wird von einer interministeriellen Arbeitsgruppe (IMAG) koordiniert und gesteuert. Die Federführung der IMAG liegt im Bayerischen Innenministerium in der Abteilung Verfassungsschutz. Der Bereich der Deradikalisierung wird vom im Bayerischen Landeskriminalamt angesiedelten Kompetenzzentrum für Deradikalisierung (BLKA/KomZ) koordiniert.
  • Bremen: Das Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention (KODEX) ist direkt an das Innenressort angebunden und wird durch eine interministerielle Lenkungsgruppe begleitet.

  • Hessen: Das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) ist in der Abteilung Landespolizeipräsidium im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport (HMdIS) angesiedelt. Eine zentrale Aufgabenstellung ist die phänomenübergreifende Koordinierung aller hessischen Programme und Projekte der Extremismusprävention. Dem HKE ist eine Lenkungsgruppe zur Seite gestellt, die sich aus je einem Vertreter des Justiz-, des Sozial- und des Kultusministeriums sowie des Hessischen Landeskriminalamtes und des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz zusammensetzt.
  • Niedersachsen: Die Kompetenzstelle Islamismusprävention Niedersachsen (KIP NI) hat zur Aufgabe, die Aktivitäten und bereits vorhandenen Netzwerke der unterschiedlichen staatlichen bzw. staatlich finanzierten Akteure im Bereich der Islamismusprävention in Niedersachsen zu bündeln, zu institutionalisieren und zu intensivieren. Die Zuständigkeiten für die Präventionsarbeit in der Kompetenzstelle sind zwischen Landeskriminalamt und Landesamt für Verfassungsschutz aufgeteilt.
  • Nordrhein-Westfalen: Die Koordinierungsstelle des Landes Nordrhein-Westfalen für die Präventionsarbeit im Bereich Islamismus ist im Innenministerium, Abteilung Verfassungsschutz angesiedelt.
  • Weitere Landeskoordinierungsstellen existieren in Schleswig-Holstein, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Berlin, Brandenburg und Hamburg.

 

Relevante weitere Akteure

Neben den oben geschilderten Bund- und Länderprogrammen, die in erster Linie durch die Innenressorts betrieben oder gefördert werden, sind noch die Maßnahmen und Projekte zu erwähnen, die durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben“ finanziert werden. In der Förderperiode, die 2015 begann, sind Mittel zur Förderung von Modellprojekten zur Radikalisierungsprävention vorgesehen worden. Damit sollten Projekte zur Prävention von „Rechtsextremismus“, „gewaltorientiertem Islamismus/Salafismus“ sowie „Linker Militanz“ finanziert werden13) (eine ausführliche Darstellung des Programmes des BMFSFJ erfolgt im Kapitel 6). Die dadurch entstandenen Projekte fügen sich in die Landschaft der Extremismusprävention in Deutschland ein und prägen somit den „Deutschen Ansatz“ mit. Sie werden größtenteils von denselben zivilgesellschaftlichen Präventionsakteuren betrieben, die auch im Rahmen der Präventionsnetzwerke gegen Salafismus mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten.

Von Relevanz für die Extremismusprävention in Deutschland scheinen auch die Aktivitäten auf der Ebene der Europäischen Union, die in erster Linie in Gestalt des durch die Europäische Kommission geförderten europäischen Netzwerks RAN (Radicalisation Awarness Network) auf eine bessere Vernetzung unterschiedlicher Präventionsakteure und einen Austausch von Expertisen abzielt (ausführlich in Kap. 7). Das RAN entfaltet eine unterstützende Wirkung auf die Präventionspraxis in Deutschland zum einen, weil zahlreiche staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure aus Deutschland in diesem Netzwerk aktiv sind und zum anderen, weil die im Rahmen der unterschiedlichen Arbeitsgruppen gefertigten Berichte in der Präventionspraxis in Deutschland disseminiert werden.

Die bis zu dieser Stelle erfolgte deskriptive Übersicht des aktuellen deutschen Ansatzes im Bereich der „Islamismusprävention“ dokumentiert zum einen signifikante Entwicklungen, die sich vor allem seit 2013, dem Erscheinungsjahr des „German Approach“-Artikels von Hellmuth, vollzogen haben. Zum anderen offenbart sie beachtliche quantitative Zuwächse von Programmen, Akteuren und finanziellen Mitteln im Handlungsfeld der Extremismusprävention. Im Vergleich zu den Anfängen der „Islamismusprävention“ vor 15 Jahren stellt sich die aktuelle Situation lebendiger und komplexer dar, was an sich als eine positive Entwicklung angesehen werden kann. An diesen Bereich der Extremismusprävention, der sich schwerpunktmäßig mit Deradikalisierungsarbeit und Ausstiegshilfe beschäftigt, werden allerdings auch hohe Erwartungen gestellt. Die staatlichen Akteure, die sich hier massiv einbringen, erwarten von den zahlreichen Programmen einen positiven Effekt im Sinne einer Ergänzung der sicherheitsbehördlichen Anstrengungen im Bereich der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr.

Im folgenden Abschnitt wird auf die Bedingungen und Voraussetzungen eingegangen, die eine Wirksamkeit von Extremismuspräventionsprogrammen im Sinne der sicherheitsbehördlichen Erwartungen fördern können. Dabei wird die Rolle einer Präventionsarbeit, die sich der Förderung von sozialen Kompetenzen und von Demokratieakzeptanz bei jungen Menschen außerhalb der für Sicherheitsbehörden relevanten Zielgruppen widmet, keinesfalls in ihrer Bedeutung unterschätzt.

Effektivität und Effizienz der Extremismusprävention aus sicherheitsbehördlicher Perspektive

Die fundamentale Frage bei der Prävention von Extremismus und Terrorismus ist zweifellos die nach der Wirkung präventiven Handelns. Wie kann sichergestellt werden, dass das übergeordnete Ziel der Extremismusprävention erreicht wird, nämlich die Gewährleistung eines Nutzens für die Gesellschaft durch die Erzielung eines Effektes, der zur Eindämmung von Extremismus und Terrorismus beitragen kann.

Gerade die neueren Entwicklungen im Bereich des Rechtsextremismus und Populismus in Folge der Migrationsbewegungen im Herbst 2015 werfen aus kriminalistischer Perspektive viele Fragen nach Sinnhaftigkeit und Wirkung zurückliegender Präventionsprogramme auf. Die Rechtsextremismusprävention kann in Deutschland im Vergleich zu der Islamismusprävention auf eine längere Tradition zurückblicken, wobei die staatlich finanzierten Programme nicht selten über erhebliche Mittel verfügten. Offenbar haben die Aufwände, die in den letzten Jahrzehnten in diesem Bereich erbracht wurden, das Land nicht vor wiederkehrenden Bildern brennender Asylantenunterkünfte bewahren können oder davor, dass rechtsradikales Gedankengut stärker in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Kurt Möller äußerte bereits 2003 aufgrund seinerzeit steigender Zahlen von rechtsextremer Gewalt seine Zweifel an der extremismusreduzierenden Wirkung von Prävention, wenngleich natürlich zu fragen ist, wie sich die Situation ohne präventive Maßnahmen entwickelt hätte.

Im Bereich des Linksextremismus zeigt sich zugleich, dass große Defizite in der Prävention bestehen und dass die Fokussierung auf alte Themen in der Präventionspraxis (wie Kommunismus, SED-Herrschaft) den neuen Herausforderungen – die sich beispielhaft in Gestalt der Ausschreitungen im Rahmen des G20-Gipfels im Hamburg zeigten – nicht gerecht werden können.

Vor dem Hintergrund der geschilderten Phänomenentwicklungen (siehe Kap. 2) stellt sich heutzutage die berechtigte Frage, ob wir in Deutschland in der Lage sind, die Herausforderung der unterschiedlichen Extremismen gemeinsam anzunehmen und ob die Praxis der staatlich gesteuerten Extremismusprävention in Deutschland den aktuellen Anforderungen gewachsen ist. Das Radikalisierungsgeschehen in Deutschland wird in nahezu allen Phänomenen in großem Maß von unkontrollierbaren Einflussfaktoren wie Weltkrisen oder globalen geostrategischen Verschiebungen bedingt (Beispielhaft: der Syrienkonflikt, die sogenannte Fluchtkrise von 2015 und die Immobilien- und Finanzkrise von 2008). Deshalb können aktuelle Phänomenentwicklungen wie die Zunahme von Extremismus nicht einfach auf ein Versagen der früheren Praxis der Extremismusprävention zurückgeführt werden. Die Bedeutung der Sicherstellung von Effektivität und Effizienz als Maßstab für staatlich finanzierte Präventionsprogramme sollte allerdings deshalb nicht relativiert werden. Solche Programme müssen explizit das Ziel verfolgen, Extremismus nachhaltig zu reduzieren. Das Argument, diese Wirkung später nicht mit Sicherheit nachweisen zu können, entledigt nicht davon, bereits in der Planungsphase alle Vorkehrungen zu treffen, die die Erreichung dieses Zieles gewährleisten können. Gütekriterien, die eine Orientierung für die Gestaltung einer wirkungsvollen Präventionsstrategie bieten, liefert z. B. die phänomenrelevante Forschung oder eine systematische Evaluationspraxis. Somit sind zwei Zugänge angesprochen, die eine Steuerung in Richtung Zielgenauigkeit möglich machen: Top-down und Bottom-up.

Der Ausbau der Evaluation in diesem Bereich kann sicherlich dazu beitragen, vermittelt über Rückkoppelungs- und Anpassungsprozesse, Extremismusprävention wirkungsvoller zu machen (siehe Kap. 4). Die Weichenstellung für Effektivität und Effizienz sollte allerdings viel früher beginnen. Extremismusprävention muss von einer gut durchdachten Strategie gerahmt werden, die klare Zielvorstellungen definiert und alle notwendigen Vorkehrungen zur Gewährleistung der Effektivität bereits im Vorfeld trifft. Wesentlich auf gesichertem Wissen basierend und durch die Berücksichtigung von Gütekriterien – damit sind hier Richtlinien, Empfehlungen oder allgemeine Prinzipien gemeint, deren Beachtung die Qualität von Programmen und Projekten der Extremismusprävention gewährleisten soll –, kann bereits in der Konzeptionsphase von Maßnahmen Vorsorge für Effizienz und Effektivität getroffen werden. Das gilt freilich auch für Programme und Strategien. Eine wissensbasierte Rahmenstrategie, die auf gesicherten Erkenntnissen der Extremismus- und Terrorismusforschung fußt und die Wirklichkeiten des Handlungsfeldes berücksichtigt, ist der Grundstein für die Wirksamkeit der Extremismusprävention.

In den letzten Jahren mehrten sich die Appelle, Extremismusprävention in Deutschland evidenzbasiert zu gestalten. Darunter versteht man die empirisch zusammengetragenen und bewerteten Erkenntnisse nachgewiesener positiver Effekte, was Evaluation und Qualitätsstandards stärker in den Mittelpunkt rückt. Die Hauptzutaten einer evidenzbasierten Strategie sind darüber hinaus systematische Metaanalysen, also Zusammenfassung der Evaluationen einzelner Maßnahmen sowie Wissensmanagementsysteme zur Aufbereitung von Best-Practice-Ansätzen.

Ansätze, die nur auf empirischer Evidenz basieren, existieren indes in der Realität nicht. Die Appelle nach Evidenzbasierung sind vielmehr als Ausdruck einer Erwartungshaltung zu verstehen, Programme und Maßnahmen besser zu evaluieren. Im Bereich des Gesundheitswesens, aus dem solche Ansätze häufig abgeschaut werden, sind evidenzbasierte Elemente ein Baustein unter vielen, die erst in einer Gesamtstrategie eine sinnvolle Vorgehensweise ergeben. Weitere Bausteine einer Präventionsstrategie im Gesundheitswesen sind z. B. 1) die Definition des Problems bzw. eine klare Vermessung des Gegenstandes der Prävention; 2) die Identifikation und Adressierung von relevanten Stellschrauben (Risikofaktoren und Ursachen), deren Beeinflussung eine positive Veränderung erzeugen kann; 3) die Entwicklung bzw. das Folgen von logischen Modellen zur Erzielung von Veränderungen (welche Effekte können durch welche Interventionen hervorgerufen werden); 4) die Entwicklung und Erprobung von entsprechend dieser Logik konzipierten Interventionsinstrumenten sowie 5) die Sicherstellung ihrer Dissemination und Implementation.14) Abgesehen von der grundsätzlichen Frage der Sinnhaftigkeit von Konzeptübertragungen aus dem Bereich "Gesundheitswesen" auf das Handlungsfeld der Extremismusprävention (die Frage stellt sich auch bezüglich der Übertragbarkeit von Konzepten aus der allgemeinen Kriminalprävention, die in der Regel auch defizitorientiert sind), relativiert sich bei einer Gesamtbetrachtung aller Bausteine einer Präventionsstrategie die Bedeutung des Einzelelements „Evidenzbasierung“. Die Rückkoppelungsschleifen zwischen evaluatorischem Output und konzeptionellem Input können bei der Nachjustierung hilfreich sein, sie sind aber allein nicht ausreichend, um Effektivität und Wirkung sicherzustellen.

Des Weiteren gerät nicht selten in Vergessenheit, dass die Praxis der Extremismusprävention in Deutschland im Gegensatz zu der Praxis der Prävention im Gesundheitswesen oder der allgemeinen Kriminalprävention aufgrund von vielen Phänomen-Spezifika durch einen Bottom-up Ansatz kaum modellierbar ist. Eine praktische Einschränkung für einen Ansatz, der allein auf empirischer Evidenz fußt, ist zum Beispiel die quantitative Beschaffenheit des Gegenstandes. Extremismus bleibt in Vergleich zur allgemeinen Kriminalität ein relativ seltenes Phänomen. Dementsprechend ist die Anzahl der Präventionsmaßnahmen in diesem Bereich überschaubar und sie werden mitunter selten so evaluiert, dass systematische Metaanalysen sich als sinnvolle Option anbieten (siehe Kap. 7). Für einen auf empirischer Evidenz basierten Ansatz fehlt ganz einfach die erforderliche Quantität an Empirie. Die Praxis der Extremismusprävention ist darüber hinaus in Wirklichkeit in mehrere Praktiken zersplittert, die sich – trotz aller Koordinationsbestrebungen – zum Teil voneinander konzeptionell erheblich unterscheiden. Dies ist Ausdruck der strukturellen Eigenschaften in Deutschland, die durch den Föderalismus und die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen zahlreichen Ressorts bedingt sind. Dies führt unweigerlich zu der Entstehung verschiedener Präventionsprogramme, die auf die differenten Wirklichkeiten und Bedarfe vor Ort zugeschnitten sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich die berechtigte Frage stellen, ob wir in Deutschland von einer Praxis der Extremismusprävention oder von mehreren reden müssen und ob Evidenzen, die beispielsweise aus der Praxis in einer Region gewonnen werden, für eine Nachjustierung von Konzepten in anderen Regionen uneingeschränkt tauglich sein können.

Bedingt durch den Mittelzuwachs im Rahmen von Bundes- und Landesprogrammen in den letzten Jahren, ist neuerdings eine große Dynamik im Bereich der Extremismusprävention zu beobachten, die unter anderem durch ein zunehmendes Engagement von Akteuren der allgemeinen Kriminalprävention in diesem wichtigen Präventionsfeld gekennzeichnet ist.15) Die damit einhergehende Übertragung von Konzepten, die seit langem in der Kriminalprävention gut funktionieren, wird oft anhand von Forschungsbefunden begründet, die Ähnlichkeiten zwischen extremistisch motivierten und allgemeinkriminellen Täterinnen und Tätern feststellen. Eine umfassende Sichtung des Forschungsstandes zu diesem Punkt lässt allerdings berechtigte Zweifel an der Generalisierbarkeit solcher punktueller Befunde aufkommen (siehe Kap. 3.3). Darüber hinaus wird oft außer Acht gelassen, dass die Merkmale von Täterinnen und Tätern keine brauchbaren Rückschlüsse auf die Zielgruppe der Extremismusprävention erlauben, da diese ein viel breiteres Spektrum umfasst (siehe Kap. 3.3). Die Spezifika des hier gegenständlichen Phänomens lassen, wie bereits weiter oben aufgeführt, eine einfache Übertragbarkeit von in der Regel defizitorientierten kriminalpräventiven Ansätzen nicht ohne weiteres zu. Ein Transfer in dieses Präventionsfeld sollte mit gebotener Vorsicht geschehen und mit Blick auf diese Fragestellung verpflichtend evaluativ begleitet werden.

Statt sich allein auf evidenzbasierten Herangehensweisen hinzugeben oder sich ausschließlich auf einen Transfer von Konzepten aus anderen Präventionsbereichen zu verlassen, deren Übertragbarkeit auf das Phänomenfeld „Extremismus/Terrorismus“ nicht gesichert ist, bietet sich die Möglichkeit einer wissensbasierten Konzeptualisierung an. Die Erkenntnisse der Extremismus/Terrorismusforschung darauf abzuklopfen, was für die Gestaltung einer guten Extremismusprävention berücksichtigt werden kann, scheint in diesem Zusammenhang und in Anbetracht der bereits geschilderten Unreife einer relativ jungen Praxis eine durchaus sinnvolle Alternative bzw. Ergänzung zu sein. Solche Erkenntnisse, die in diesem Handbuch in den Kapiteln 1 bis 4 zusammengefasst sind, können herangezogen werden, um zumindest die Leitplanken einer Extremismuspräventionsstrategie aufzuzeigen.

Schlussfolgerung 1: Berücksichtigung der verschiedenen Systemebenen

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den in Deutschland existierenden Phänomenen sowie mit den entsprechenden Prozessen, die zur Entstehung von Extremismus und Terrorismus führen können (Kap. 2 und 3 dieses Buches) lässt die Schlussfolgerung zu, dass auch Präventionsprogramme der multifaktoriellen und prozessualen Bedingtheit von Radikalisierungsprozessen Rechnung tragen müssen. Extremismusprävention ist dieser Logik folgend möglichst „ganzheitlich" zu gestalten: Sie kann nur dann eine nachhaltig spürbare Wirkung auf ein Phänomen erzielen, wenn sie phänomenadäquat agiert und alle unterschiedlichen relevanten Interventionsebenen (Person, Kleingruppe, Organisation und Subgesellschaften/Gesellschaft – siehe Kap. 1) entsprechend ihrer jeweiligen Relevanz berücksichtigt. Einzelne Präventionsmaßnahmen und -projekte sollten in diesem Sinne von einer Gesamtstrategie gerahmt werden, die diesen umfassenden Ansatz explizit und prüfbar verfolgt. In der Konsequenz sollte sich eine phänomenadäquate und ebenenübergreifende Strategie in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Präventionsmaßnahmen, die auf Personen, Gruppen, Organisationen und Gesellschaft abzielen, widerspiegeln.

Auf der Individualebene sind Maßnahmen erforderlich, die in allen Stadien eines Radikalisierungsprozesses eine angemessene (pädagogische) Einflussnahme auf einzelne Personen ermöglichen – sei es im Vieraugengespräch oder im Gruppensetting. Es gilt, Angebote zu schaffen, die entsprechend den im Kapitel 3.3 beschriebenen Prozessphasen Resilienzfaktoren bei Personen aus der Zielgruppe stärken, um auf beginnende oder fortgeschrittene Radikalisierungsprozesse präventiv einwirken zu können, um einen Ausstieg bzw. eine Deradikalisierung zu ermöglichen bzw. moderieren.

Auf der Mikro- bzw. Kleingruppen-Ebene sind Maßnahmen und Instrumente erforderlich, die z. B. im Gruppensetting ähnlich einer Gruppentherapie bzw. in moderierten Selbsthilfegruppen die Ressourcen der Gruppe zur Erreichung der Präventionsziele ausschöpfen können oder – um ein anderes Beispiel zu nennen – auf eine Gruppe (Familie/soziales Umfeld einer Zielperson) einwirken, um einen mittelbaren präventiven Effekt entfalten zu können. Auf dieser Handlungsebene sollten vor allem gruppendynamische Prozesse, die in Kapitel 3.2 beschrieben wurden, im Fokus der Präventionspraxis stehen. Dabei werden andere Methoden und Kompetenzen benötigt, als diejenigen, die bei der Einzelfallarbeit erforderlich sind.

Auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen und Einrichtungen sind Maßnahmen erforderlich, die entsprechende relevante Organisationen gezielt hinsichtlich ihres jeweiligen phänomenrelevanten Wirkspektrums und unter Berücksichtigung der jeweilig verfolgten Zielstellung adressieren. Gegenstand der präventiven Handlung sind hier nicht Personen (Einzelpersonen oder Kleingruppen), sondern eher spezifische Zielgruppen und/oder konkrete Strukturen. Wir können insgesamt drei unterschiedliche Interventionsformen differenzieren: 1) Infrastrukturelle Maßnahmen: Es werden Institutionen/Einrichtungen ertüchtigt, um bestimmte Zielgruppen (etwa: Jugendliche, Personen aus bestimmten risikobehafteten Milieus) gezielt zu adressieren; 2) Diskursive Maßnahmen: Gesprächsangebote, Verhandlungen mit Organisationen/Einrichtungen, in denen politische und/ oder religiöse Positionen verhandelt werden, die Berührungspunkte mit entsprechenden Sympathisanten-Milieus haben; 3) Administrative Maßnahmen: Erlass von Organisationsverboten, wenn festgestellt werden kann, dass die Zwecke oder die Tätigkeiten einer Organisation den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder dass sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten (wie zuletzt beispielhaft gegen die Vereinigung „Die wahre Religion“ alias „LIES! Stiftung“ oder den Verein „linksunten.indymedia“).

Letztere, die administrativen Maßnahmen, sind aber hinsichtlich ihres Handlungskerns auf die Makroebene, also auf die Ebene der Normen und Werte einer Gesellschaft, ausgerichtet, auch wenn sie konkret auf Veränderungen der Ebene gesellschaftlicher Institutionen und Einrichtungen abzielen, indem eben bestimmte, als extremistisch eingestufte Organisationen verboten werden. Auf der Makroebene stehen vor allem die gesellschaftlichen und politischen Konflikte im Mittelpunkt, die Extremismus und Terrorismus hervorrufen bzw. bedingen. Es werden konkret politische Entscheidungen gefällt und/oder Normanpassungen auf den Weg gebracht, von denen ein Konflikttregulierender Effekt erwartet wird.

Ist die Extremismusprävention in Deutschland phänomenadäquat? Adressiert sie alle phänomenrelevanten Ebenen gleichermaßen? Diese Frage wird in der Literatur nicht zufriedenstellend beantwortet, da sie offensichtlich noch nicht explizit Gegenstand von Untersuchungen war. Die vorhandenen Erhebungen (z. B. im Rahmen des Extremismuspräventionsatlas des BKA – siehe Kap. 7) deuten allerdings darauf hin, dass die Ebene der Person überproportional in der Praxis adressiert wird. Im Vergleich dazu werden offenbar Kleingruppen sowie die weiteren Ebenen seltener adressiert. Des Weiteren scheint es, dass selbst auf der Ebene der Person viele Maßnahmen bzw. Projekte gefördert werden, die sich nur mittelbar mit der Zielgruppe beschäftigen. Ein erheblicher Teil der Maßnahmen scheint sich an Fachkräfte und Multiplikatoren zu richten, die Berührungspunkte mit der fokussierten Zielgruppe aufweisen (z. B. Fortbildungsangebote für Fachkräfte lokaler Behörden oder aus dem Bereich Schule und Jugendhilfe).16) Ob ein Transfer im Rahmen der Beschäftigung dieser Multiplikatoren mit der eigentlichen Zielgruppe stattfindet und ob letztendlich eine präventive Wirkung erzielt wird, ist schwer einzuschätzen. Gesicherte Erkenntnisse dazu sind in der Literatur nicht zu finden.

Vor diesem Hintergrund sollte insofern darauf geachtet werden, dass sowohl auf der Individuums- als auch auf der Mikroebene die direkte bzw. unmittelbare Arbeit mit Personen und Gruppen das Kerngeschäft der Prävention bildet. Präventionsprojekte mit dem Ziel, Info-Materialien für andere zu erstellen, Expertentagungen zu organisieren und Multiplikatoren zu bilden, spielen sicherlich eine wichtige Rolle im Rahmen eines Präventionsprogrammes, solange sie die direkte Arbeit mit jungen Menschen, die radikalisierungsgefährdet oder bereits radikalisiert sind, flankieren. Die mangelnde Adressierung von relevanten Systemebenen, allen voran die Gruppenebene und die offensichtliche Scheu vieler Präventionsakteure vor der direkten Feldarbeit scheinen allerdings zurzeit eine Entwicklung zu charakterisieren, die aus sicherheitsbehördlicher Sicht aufgrund der aktuell akuten Lage mit Sorge beobachtet wird.

Zusammenfassend lässt sich zum hier geschilderten Aspekt der Phänomenadäquatheit sagen, dass bei der Konzeption und bei der Steuerung von Extremismuspräventionsprogrammen darauf geachtet werden sollte, dass die relevanten Ebenen eines Phänomens entsprechend ihrer jeweiligen aktuellen Bedeutung angemessen adressiert werden und dass ein vernünftiges Verhältnis zwischen direkter und indirekter Präventionsarbeit hergestellt wird.

Schlussfolgerung 2: Adressierung aller Stadien des Radikalisierungsgeschehens

Neben den unterschiedlichen Systemebenen, auf denen sich Radikalisierungsprozesse abspielen, scheinen die differenten Prozessstadien für die Gestaltung einer ganzheitlichen Präventionsstrategie von großer Bedeutung. Personen, Gruppen, Organisationen und Kollektive (wie im Kap. 3 geschildert) durchlaufen in der Regel verschiedene Phasen eines Radikalisierungsprozesses und sollten in jeder dieser Phasen mit geeigneten Präventionsangeboten adressiert werden können. Auf jeder relevanten Interventionsebene (Person, Gruppe/Organisation, Subgesellschaft/Gesellschaft) sind Maßnahmen vorzusehen, die in allen Stadien eines Radikalisierungsprozesses einen präventiven Effekt erzielen können. Extremismusprävention sollte unabhängig von der angewandten definitorischen Systematik (universell, selektiv, indiziert oder primär, sekundär, tertiär) sämtliche relevanten Prozessphasen eines Radikalisierungsgeschehens ins Visier nehmen und somit Angebote für die unterschiedlichen Zielgruppen aufweisen (potenziell radikalisierungsgefährdete, Träger von Risikofaktoren, sich radikalisierende, aussteigende und sich deradikalisierende Personen). Zu der Anzahl von Phasen in einem Radikalisierungsprozess gibt es sicherlich unterschiedliche Auffassungen (Kapitel 3.3 bezieht sich auf das Stufenmodell von Horgan mit folgenden Phasen:

Vor-Radikalisierung; Radikalisierung; Vor-Engagement/Suche; gewalttätige Radikalisierung; dauerhaftes Engagement und Verpflichtung; Disengagement; Deradikalisierung), die Anzahl der Phasen eines Radikalisierungsprozesses ist an dieser Stelle aber nicht maßgeblich. Entscheidend scheint hingegen, dass das Handlungsfeld der Extremismusprävention alle Stadien umfasst. Die Frage nach der Vermessung des Handlungsfeldes der Extremismusprävention scheint allerdings in der Praxis nicht unumstritten zu sein. Hier stoßen offenbar unterschiedliche Interessen aufeinander: Wenn es um die Definition dessen geht, was zur Extremismusprävention gehört und was nicht, stehen oft Interessen von Akteuren der Extremismusprävention Interessen anderer entgegen, die sich nicht als solche verstehen (z. B. Politische Bildung, Jugendarbeit, Schule). Des Weiteren sind auch Interessenskonflikte unter Extremismuspräventionsakteuren vorhanden, wenn es darum geht, die Fragen der Binnendifferenzierung innerhalb des Handlungsfeldes zu klären (Definition der Übergänge zwischen den unterschiedlichen Präventionsbereichen: universell, selektiv, indiziert). Solche Differenzen können zwar theoretisch begründet erscheinen, sie spiegeln teilweise aber auch unterschiedliche Interessen wider, die mit den Zugängen zu Fördermitteln und Zielgruppen im Zusammenhang stehen.

Eine klare Vorstellung der Reichweite des Handlungsfeldes der Extremismusprävention scheint jedoch auch bei Förderern und Bedarfsträgern zu fehlen, wie man allein schon an der Verteilung von Präventionsmaßnahmen und -projekten erkennen kann. Eine Steuerung der Praxis mit dem Ziel einer angemessenen Adressierung aller Zielgruppen/ Prozessstadien ist dabei nicht auszumachen. Die Auswertungen in Kapitel 7 deuten eher auf eine Konzentration von Projekten und Maßnahmen auf das Vorfeld des Radikalisierungsgeschehens hin. Eine klare Definition des Spektrums der Extremismusprävention (wann beginnt sie und wann endet sie) sowie der Binnendifferenzierung (Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Handlungsfeldern der Extremismusprävention) scheint von zentraler Bedeutung für die Konzeption und für das Management von Extremismuspräventionsprogrammen. Hier herrscht ein offensichtlicher Handlungsbedarf. Doch woran sollten sich Entscheidungsträger orientieren, um bessere Rahmenbedingungen zu schaffen?

Bei dem Versuch, die in der Praxis herrschenden unterschiedlichen Auffassungen zu ergründen, stößt man in der Literatur auf unterschiedliche Defnitionssysteme und Präventionsverständnisse. In erster Linie fnden in diesem Zusammenhang die bereits genannten unterschiedlichen Kategorisierungen bzw. Klassifkationssystematiken ihre Verwendung, die der Beschreibung von Handlungsfeldern dienen. In der Praxis wird sowohl die Umschreibung „primär, sekundär, tertiär“ als auch „universell, selektiv, indiziert“ zur Kategorisierung der unterschiedlichen Interventionsbereiche verwendet. Die erste Art der Kategorisierung, die sehr lange in der Kriminalprävention als Maßstab galt, orientiert sich an der Risikowahrscheinlichkeit einer kriminellen Handlung bzw. der zeitlichen Nähe zu dieser. Die „Primärprävention“ hat demnach Zielgruppen mit geringem Risiko bzw. in einem weit vorgelagerten Zeitpunkt einer möglichen Straftat im Visier. Die „Sekundärprävention“ zielt auf Gruppen/Personen mit erhöhtem Risiko bzw. jene, die kurz vor einer Handlung stehen, und die „tertiäre Prävention“ beschäftigt sich mit Personen/Gruppen mit erwiesenem Risiko bzw. nach erfolgter Handlung und verfolgt das Ziel, einen möglichen Rückfall zu verhindern. Die zweite Art der Kategorisierung wird hingegen in der aktuellen Extremismuspräventionspraxis verwendet und orientiert sich an der Beschaffenheit der Zielgruppen. Die „universelle Prävention“ adressiert eine große Zielgruppe (Gesamtbevölkerung/unselektierte Personengruppen), die „selektive Prävention“ zielt auf Risikogruppen ab und die „indizierte Prävention“ soll sich mit Personen mit manifestem Risikoverhalten beschäftigen (ausführlich in Kap. 5).

Die Hintergründe für diese Definitionsvielfalt sind vielschichtig. Zum einen haben unterschiedliche Disziplinen unterschiedliche Auffassungen vom Handlungsfeld. Unterschiedliche Interessen von verschiedenen Akteuren können sich zum anderen in differenten Sichtweisen ausdrücken. Entscheidend aus der Sicht von Bedarfsträgern, die Extremismuspräventionsprogramme fördern und sich davon einen bestimmten Effekt versprechen, ist allerdings, ob die Praxis das gesamte Handlungsfeld abdeckt, d.h. ob sie das Radikalisierungsgeschehen in all seinen Phasen vollumfänglich berücksichtigt. Es stellt sich also die Frage, ob beide in der Praxis angewandten Differenzierungssystematiken diesem Bedarf gerecht werden. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass diese Frage in der Literatur nicht offen angesprochen wird. In der Praxis werden allzu oft die unterschiedlichen Umschreibungen als Synonyme verwendet. Die Begriffe „universell, selektiv und indiziert“ gelten offenbar als als moderne Varianten, die deckungsgleich mit den „altbekannten“ Begriffen „primär, sekundär und tertiär“ seien. Diese Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht korrekt.

Im Gesundheitsbereich (public health) beschränkt sich das nach Zielgruppen klassifizierte Handlungsfeld der Prävention auf die Zeit vor der vollen Ausprägung einer Krankheit und grenzt sich so vom Handlungsfeld der Therapie ab. Somit scheint es lediglich den Bereich der primären und einen Teilbereich der sekundären Prävention zu umfassen.17) Nimmt man das kriminalpräventive Begriffsverständnis als Maßstab, würden die Handlungsfelder der „universellen, selektiven und indizierten Prävention“ lediglich den Bereich der Primärprävention vollständig abdecken. Übertragen auf die Extremismusprävention bedeutet dies, dass die Arbeit mit Radikalisierten oder mit Aussteigern nicht Bestandteil der Präventionsarbeit sein muss. Dies scheint zumindest der Sicht von einigen Präventionsakteuren in Deutschland zu entsprechen, die eine Gliederung der Prävention nach Zielgruppen bevorzugen und dieses Verständnis in ihren Publikationen und auf Fachveranstaltungen immer wieder vermitteln. Für sie erschöpft sich der Geltungsbereich der Extremismusprävention in einer Primärprävention. Präventionsakteure, die fortgeschrittene Stadien von Radikalisierung adressieren, nennen ihre Arbeit nicht selten „Intervention“ und grenzen sich somit ab von der Prävention.

Die Abkehr von einer an Risikowahrscheinlichkeit und Zeitpunkt orientierten Klassifikation der Präventionsansätze ist in Deutschland relativ neu. Die Gliederung „primär, sekundär und tertiär“ hat die Präventionsarbeit in Deutschland Jahrzehnte lang geprägt und wird in vielen Bereichen wie der polizeilichen Kriminalprävention weiter verwendet. Die relativ neue Entwicklung hin zu einer anderen Klassifikation korreliert mit dem Ausbau der Extremismuspräventionsprogramme nach 2013 und scheint durch die spezifischen Gegebenheiten und Herausforderungen in diesem Bereich bedingt. Die Durchführung von Präventionsprojekten im Bereich der sekundären und tertiären Prävention erfordert Zugänge zu entsprechenden Zielgruppen (radikale und extremistische Milieus, Inhaftierte in Justizvollzugsanstalten etc.). Der Zugang zu diesen Zielgruppen gestaltet sich für einen Großteil der zivilgesellschaftlichen Akteure verständlicherweise um einiges schwieriger als der Zugang zu Zielgruppen der Primärprävention. Die Unzugänglichkeit des Handlungsfeldes für zivilgesellschaftliche Akteure, die sehr oft Neueinsteiger im Handlungsfeld der Extremismusprävention sind, könnte also einer der Gründe für die begriffliche Anpassung in der aktuellen Praxis sein.

Aus der Perspektive eines sicherheitsbehördlichen Bedarfs stellt allerdings eine limitierte Extremismusprävention, deren Handlungsfeld sich auf die Vorfeldarbeit beschränkt und die Arbeit mit relevanten Zielgruppen nicht umfasst, ein Defizit dar und eine Entwicklung, die nicht im Einklang mit ihren Erwartungen an zu unterstützende Programme steht.

In den Bereichen der Extremismusprävention, die sich aus einem sicherheitsbehördlichen Bedarf begründen, scheint es aus sicherheitsbehördlicher Perspektive von entscheidender Bedeutung, Beginn und Endpunkt einer Extremismusprävention unmissverständlich zu definieren. Extremismusprävention, die sich als Teil der Sicherheitsstrategie versteht, sollte erst mit dem Beginn von Radikalisierungsprozessen beginnen und die fortgeschrittenen Stadien bis hin zu Disengagement und Deradikalisierung umfassen. Einerseits sollte die Reichweite solch einer Extremismusprävention in die Vorfelder von Radikalisierungsprozessen auf das nötige Maß reduziert werden, um Stigmatisierungsrisiken zu minimieren und damit keine unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen entstehen zu lassen. Eine bessere Abgrenzung von der allgemeinen Förderung im Rahmen von Jugendarbeit und politischer Bildung scheint hier erforderlich. Es sollten keine Personen ins Visier einer an einem sicherheitsbehördlichen Bedarf orientierten Extremismusprävention genommen werden, wenn diese sich nicht in einem der Stadien eines Radikalisierungsprozesses befinden. Eine Präventionspraxis, die ausschließlich radikalisierungsunspezifsche Risikofaktoren zum Gegenstand ihrer Arbeit macht, sollte nicht als Extremismusprävention vermarktet werden. Die positiven Effekte, die hierbei erzielt werden sollen, könnten durch den Labelingeffekt konterkariert werden. Auf der anderen Seite dürfen die fortgeschrittenen Stadien eines Radikalisierungsprozesses nicht aus dem Handlungsfeld der Extremismusprävention ausgegliedert werden. Akteure in diesem Bereich müssen über die erforderlichen Zugänge verfügen, die eine direkte Arbeit mit den entsprechenden Zielgruppen möglich machen. Die Praxis in diesem Bereich sollte aus der Arbeit mit Personen und Gruppen, die sich in den unterschiedlichen Stadien eines Radikalisierungsprozesses befinden, ein Kerngeschäft machen und sich nicht abseits der bekannten radikalen und extremistischen Milieus etablieren. Die Schaffung von Zugängen in die Umfelder, in denen Radikalisierung geschieht, ist zwar eine große Herausforderung für eine junge Präventionspraxis, sollte aber stärker als Kriterium für die Förderung berücksichtigt werden. Hier sollten die zivilgesellschaftlichen Akteure die erforderliche Unterstützung von Sicherheits- und Justizbehörden erhalten, um ihnen den Zugang zu den Milieus zu erleichtern.

Ausblick

Zurückkommend auf die aus dem ersten Teil des Handbuchs abgeleiteten zwei zentralen Empfehlungen, Extremismusprävention möglichst
1) phänomenadäquat (im Sinne der Berücksichtigung aller relevanten Systemebenen) und
2) ganzheitlich (im Sinne einer Adressierung aller Stadien eines Radikalisierungsgeschehens) zu gestalten, stellt sich nun die Frage, ob die staatlich geförderten Programme diese beiden Kriterien aktuell hinreichend erfüllen. Eine klare Beantwortung dieser Frage erfordert wiederum das Vorhandensein einer funktionierenden Steuerung der Extremismuspräventionspraxis, die Auskunft darüber geben kann, welche Akteure an welchen Orten und zu welcher Zeit mit welchen Zielgruppen arbeiten.

Föderalismus und das Prinzip der Subsidiarität, die den deutschen Ansatz stark und flexibel machen, erschweren – das ist die Kehrseite der Medaille – seine Koordinierung und Steuerung. Die Präventionspraxis in Deutschland ist in der Folge der in diesem Beitrag bereits geschilderten Anstrengungen der letzten Jahre zwar strukturell besser aufgestellt, aber zugleich zerstreuter als zuvor. Neben zahlreichen Länderprogrammen existieren Programme in der Zuständigkeit der Bundesverwaltung. Drüber hinaus teilen sich unterschiedliche Ressorts die Verantwortung. So sind auf Bundesebene sowohl das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat als auch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend mit der Extremismusprävention befasst. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung engagiert sich zunehmend in diesem Bereich. Auf Regionalebene werden z. B. die Koordinierungsaufgaben für die Islamismusprävention (Landeskoordinierungsstellen) in einigen Ländern von der Polizei, in anderen vom Verfassungsschutz oder von den Innenministerien wahrgenommen. In weiteren Ländern hingegen sind diese Koordinierungsstellen im Sozialministerium angesiedelt oder bei ressortübergreifenden Stellen. In einigen Ländern beschränkt sich die Aufgabe der staatlichen Akteure auf die Koordinierung. Die Beratungsarbeit wird hier von zivilgesellschaftlichen Akteuren durchgeführt. In anderen Ländern übernehmen die Behörden auch Beratungsaufgaben. Einige Landesprogramme verfolgen einen phänomenübergreifenden Ansatz, andere verfügen über jeweils unterschiedliche Strukturen für die unterschiedlichen Phänomene. Und schließlich finden die meisten Präventionsmaßnahmen an Orten statt, die in den Zuständigkeiten anderer Ressorts liegen (z. B. Schule, Gefängnis). Daher versteht es sich von selbst, dass eine uneingeschränkte Kooperation und Koordinierung nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen (z. B. Datenschutz) sehr schwierig sein kann.

Trotz des offensichtlichen und von allen Akteuren wohl erkannten Koordinationsdefzits, das künftig unbedingt gemeinsam angegangen werden soll, kann die Entwicklung der Extremismusprävention in den letzten Jahren überwiegend als positiv bewertet wer den. Der erfolgte Ausbau von Ressourcen und Programmen im Bund und in den Ländern scheint angesichts der Entwicklungen in den verschiedenen Phänomenbereichen der politisch motivierten Kriminalität dem aktuellen Bedarf angemessen. Dies dokumentiert einen manifesten politischen Willen, Strafverfolgung und Gefahrenabwehr durch eine starke und effektive Extremismusprävention zu flankieren. Die Entwicklung der letzten Jahre hat sich durch ein fast flächendeckendes Engagement der Bundesländer und eine breite Miteinbeziehung der Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Die Praxis der Extremismusprävention in Deutschland wird heute von einer Vielzahl staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure getragen, die über eine breit gefächerte Expertise verfügen. Auch im Bereich der Erforschung von Ursachen und Prozessen sind spürbare Fortschritte festzustellen. Der Wissensstand über Radikalisierungsgeschehnisse ist in den letzten Jahren merklich angewachsen und die Forschung zu präventionsbezogenen Themen hat sich zuletzt weiter intensiviert.

Trotz der überwiegend positiven Bilanz bleiben Schattenseiten und Verbesserungspotenziale dem aufmerksamen Beobachter nicht verborgen. Die aktuelle Extremismusprävention ist mit einem Schiff ohne Kommandobrücke vergleichbar. Man weiß nicht, ob sie den richtigen Kurs steuert.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen