Bühne des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention
5.1 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Auch wurde am Caplan-Modell von verschiedenen Autorinnen und Autoren6) Kritik geübt. Die wesentlichen Argumente gegen die Caplan-Definition sind:
- „Primärprävention“ ist wissenschaftlich nicht definierbar, es gelingt damit keine geeignete Erfassung von Prozessen, die später zu Problemen führen könnten. So wird z. B. Aggression als Merkmal für die Prognose späterer Probleme wie Gewalt herangezogen. Dieses Merkmal ist aber vor allem im frühen Lebensalter weit verbreitet. Unklar bleibt somit, was eine „primäre Prävention“ „weit vor dem Ereignis“ von Gewalt hier bedeuten soll. Bei der „Primärprävention“ werden Gruppen mit erhöhten Risiken, die in der Bevölkerung durchaus weit verbreitet sein können, nicht erfasst. Damit ist die in Abb. 1 dargestellte Differenzierung nach der Risikoeinschätzung nicht sinnvoll.
- „Tertiärprävention“ ist eine Vermischung von Behandlung und Prävention und keine Prävention im eigentlichen Sinne. Mit der Entwicklung des Schemas „universell – selektiv – indiziert“ war die Differenzierung von Prävention und Behandlung beabsichtigt.7) Da alle vorhandenen Problematiken zu immer noch schwereren Problematiken führen können, wäre jede denkbare Behandlungsmaßnahme immer auch als eine „Prävention“ zu betrachten.8) Das ergibt dann aber keinen Sinn mehr, wenn man Prävention von etwas anderem unterscheiden will. Das Ziel der Verhinderung des Rückfalls ist jeder Behandlung zumindest in dem hier zur Diskussion stehenden Themenfeld eigen und braucht nicht als „Tertiärprävention“ eigens hervorgehoben zu werden.
Das zweite Klassifkationsmodell unterscheidet in Bezug auf die Zielgruppen der Prävention zwischen universell, selektiv und indiziert.9)
Begriff | Zielgruppe | Beispiel |
Universelle Prävention | Alle Mitglieder einer Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, die nicht auf der Basis ihres Risikoniveaus ausgewählt wurden. | Ein Programm zur Mobbingprävention, das für alle Schulkinder der Stufen 7-9 in einer Kommune angeboten wird. |
Selektive Prävention | Ausgewählte Gruppen einer Population mit erhöhtem Risiko, ohne dass die zu verhindernde Problematik in der Zielgruppe schon vorhanden ist. | Ein Programm für Kinder aus suchtbelasteten Familien zur Prävention späterer Sucht- und Verhaltensprobleme. |
Indizierte Prävention | Personen mit hohem Risiko/ersten Vorzeichen des Problemverhaltens, ohne dass schon eine „klinische“ Diagnose des Problems vorhanden ist. | Eine Maßnahme zur Unterstützung von nur denjenigen Eltern, deren Kinder einen Schulverweis aufgrund von Verhaltensproblemen bekommen haben. |
Hierbei lassen sich zwar einige Parallelen zu der Caplan-Einteilung finden, aber es besteht ein klarer Unterschied zur vorherigen Einteilung.
Annäherungen an eine Definition der universellen Prävention
Eine weitergehende Definition kommt aus den USA vom Institute of Medicine/National Research Council (IOM). Diese Einteilung wird hier als Arbeitsgrundlage für die weiteren Ausführungen vorgeschlagen. Dem Feld der Prävention ist hier die Promotion (i. S. v. Förderung) vorgelagert. An die Prävention (Prevention) schließt sich die Behandlung (Treatment) und dann die Heilung (Recovery) an.
Für den Begriff der universellen Prävention erscheint diese Darstellungsweise insbesondere deshalb hilfreich, weil sie darin nicht einfach als der Ausgangspunkt und die Basis von Prävention gesetzt wird, sondern die Handlungskette um den Aspekt von allgemeinen Fördermaßnahmen ergänzt wird.
Worin liegen also die Unterschiede oder auch die Gemeinsamkeiten von universeller Prävention mit Förderungs-Maßnahmen (Promotion) im Hinblick auf allgemeine Ziele, wie z. B. geistig-seelische Entwicklung, Gesundheit oder Demokratie? Alle effektiven Maßnahmen der Prävention enthalten Elemente der Förderung von Fähigkeiten, Kompetenzen oder Erfahrungen. Förderung ist grundlegend für den Erfolg von Prävention. Daher lässt sich dieser Bereich nicht einfach abtrennen, er hat im Gegenteil eine breite Überschneidung mit universeller Prävention. Allerdings können auch Kriterien für eine Unterscheidung gefunden werden. Bei der universellen Prävention kommt zur Förderung ganz wesentlich noch das Ziel bzw. die Absicht der Vermeidung bestimmter Probleme hinzu und dies idealerweise basierend auf dem Nachweis bzw. einer Plausibilität der Erreichung ebensolcher Ziele.
Die Abgrenzung der universellen Prävention von der allgemeinen Förderung ist also theoretisch klar, wenn auch in der Praxis nicht immer „sortenrein“. Kompetenzstärkung bspw. kann sowohl als Entwicklungsförderung, aber auch als Prävention gedacht werden. Und jede Präventionsmaßnahme hat auch fördernden Charakter. Die Einstufung in Prävention oder Förderung (nach dem IOM-Modell) hängt jeweils von Setting, Zielen, Legitimation, Problemstellung und Programmumfeld ab.10)
Zugespitzt könnte man sagen, dass universelle Prävention explizit, d.h. eindeutig auf die Verhinderung kriminellen Verhaltens abzielt, während Förderung diese indirekt bereits beinhaltet, also implizit mitbetreibt.
Eine Veranschaulichung dieser beiden Pole in Bezug auf die Präventionsklassen sowie die Felder, in denen Prävention bzw. Förderung geschieht, bietet die Matrix der Kriminalprävention in Abb. 4 (siehe nächste Seite).
Die Matrix erlaubt einen Gesamtblick auf verschiedene Präventionsklassen der Kriminalprävention sowie auf verschiedene Felder und Ebenen, auf denen präventives Handeln erfolgen kann. Für alle präventiven Maßnahmen, egal ob sie universell, selektiv oder indiziert angelegt sind, werden weitere Differenzierungen vorgesehen.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schreiber 2019.
2)
Vgl. Caplan 1964.
3)
Vgl. Gordon 1983.
4)
Der einzige genuine Ansatz aus der Kriminologie findet sich bei Tonry/Farrington und differenziert zwischen „developmental prevention, community prevention, situational prevention, law enforcement“ (Tonry/Farrington 1994). Dieser Ansatz wird hier nicht weiter aufgegriffen, da sich die Prävention von Radikalisierung im Kern innerhalb der entwicklungsorientierten („developmental“) und der gemeinwesenorientierten („community“) Prävention bewegt. Eine weitere Klassifikation wird von dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) eingebracht. Sie unterscheidet nach Art und Ort der Maßnahmen zwischen sozialer, lokaler, situativer und reintegrativer Prävention (Vgl. UNODC 2010).
5)
Vgl. u. a. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o. J.
6)
U.a. Cowen 1977, 1980; Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
7)
„The classifcation that we propose would restrict the use of the term ‘preventive’ to measures, actions, or interventions that are practiced by or on persons who are not, at the time, suffering from any discomfort or disability due to the disease or condition being prevented. This distinction would serve to eliminate most of what is now encompassed in the old category ‘tertiary’.” (Gordon 1983, 108).
8)
Greenberg/Weissberg 2001.
9)
Vgl. Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
10)
Vgl. Hafen 2004.
11)
Effektstärken geben als statistischer Wert das Ausmaß der Wirkung eines bestimmten Einflussfaktors an.
12)
Diskutiert wird weiterhin: Die Effektstärke von universeller Prävention ist zwar zumeist gering, aber immer in Bezug auf die Gesamtpopulation zu sehen. Bei der selektiven und indizierten Prävention werden oft mittlere bis große Effektstärken erreicht, dies aber nur in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe. Bezieht man diese Ergebnisse ebenfalls auf die Gesamtpopulation, sind die Effektstärken u. U. kleiner als bei der universellen Prävention.
13)
Rose 1985.
14)
Ein Beispiel hierfür ist die „Grüne Liste Prävention“, die der Landespräventionsrat Niedersachsen entwickelt hat und in der Präventionsprogramme, eingestuft nach dem Grad ihrer geprüften Wirksamkeit, dargestellt werden.
15)
Vgl. Fixsen et al. 2005.
16)
Rogers 2003.
17)
Vgl. Gruber/Lützinger 2017.
18)
Vgl. Baier 2018.
19)
Beelmann/Jahnke/Neudecker 2017, 90f.
20)
Vgl. Beelmann, Gutachten 2017, 14.
21)
Ebd., 36.
22)
Ebd., 18.
23)
Ebd., 54-59.
24)
Scales/Leffert 2004.
25)
Eine mögliche diese Überlegungen berücksichtigende Formulierung wäre dann „Prävention von religionsbezogenem (ggf. sogar islambezogenem) politischem Extremismus“.
Literatur
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Beelmann, Andreas (2017): Grundlagen einer entwicklungsorientierten Prävention des Rechtsextremismus, Gutachten im Rahmen eines Wissenschafts-Praxis-Dialogs zwischen dem Landespräventionsrat Niedersachsen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Beelmann, Andreas/Jahnke, Sarah/Neudecker, Clara (2018): Radikalisierung Jugendlicher und Extremismusprävention. In: Beelmann,Andreas (Hrsg.): Toleranz und Radikalisierung in Zeiten sozialer Diversität. Beiträge aus Psychologie und Sozialwissenschaften, S. 90-106. Schwalbach/Ts, Wochenschau Verlag.
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