Bühne des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention
5.1 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Es wird unterschieden, ob Präventionsmaßnahmen explizit und somit unmittelbar, oder ob sie ohne entsprechende klare Zielsetzungen indirekt kriminalpräventiv wirken. Besonders typische und bedeutsame Beispiele für indirekte Ansätze sind die zahlreichen Programme und Maßnahmen im Arbeitsfeld Public Health. Diese verfolgen nicht unmittelbar kriminalpräventive Ziele, haben jedoch nachweislich sehr häufig entsprechende kriminalpräventive Effekte.
![Die Matrix stellt die Differenzierung der Kriminalprävention nach verschiedenen Aspekten dar. Diese sind Präventive Maßnahmen universeller, selektiver oder indizierter Art. Die Matrix stellt die Differenzierung der Kriminalprävention nach verschiedenen Aspekten dar. Diese sind Präventive Maßnahmen universeller, selektiver oder indizierter Art.](/HEX/DE/Handbuch/Kapitel_5/Modul_5_1/Bilder/Grafik_Abb_4_Matrix.png?__blob=normal&v=5)
![Abb. 4: Matrix der Kriminalprävention, Marks 2018](/SiteGlobals/Frontend/Images/icons/loupe-b_respimage.png?__blob=normal&v=4)
Bei den zu betrachtenden Ebenen ist das besondere Augenmerk künftig noch sehr viel intensiver auf die lokalen und regionalen Ebenen zu richten. Dementsprechend sollte es die vorrangige Aufgabe der nationalen und internationalen Ebenen sein, Präventionsmaßnahmen und Präventionsstrategien auf kommunalen und regionalen Ebenen zu beraten und zu fördern. Neben der Schwierigkeit, universelle Präventionsmaßnahmen definitorisch sauber abzugrenzen, beinhaltet das abgesteckte Präventionsfeld weitere zu benennende Problematiken.
- Stigmatisierungsrisiko: Wird eine Maßnahme kriminalpräventiv genannt, ist immer auch das Risiko der Stigmatisierung vorhanden. Bisher „unauffällige“ Bevölkerungsgruppen geraten durch die Maßnahme in den Verdacht einer späteren kriminellen Karriere. Dieses Stigmatisierungsrisiko ist allerdings bei der selektiven und indizierten Prävention noch um einiges höher, da bei den entsprechenden Maßnahmen spezielle Zielgruppen ausgewählt werden. Wenn Kriminalprävention also auch ganz allgemein in der Bevölkerung eingesetzt würde, könnte dies vielleicht sogar eher zu einer Verringerung des Stigmatisierungseffektes beitragen.
- Schwer greifbare Wirksamkeit: Im Vergleich zu den anderen Formen der Prävention ist der Nachweis der Wirksamkeit der Maßnahmen bei der universellen Prävention oftmals schwieriger zu erbringen, da mehr Einflussfaktoren eine Rolle spielen können, als bei den stärker abgegrenzten Maßnahmen der selektiven und indizierten Prävention. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ein großer Teil der Zielgruppe nicht von den Maßnahmen profitiert, da er sich ohnehin günstig entwickeln würde.
Daher ist die Effektstärke11) von universellen Maßnahmen zumeist klein. Der statistische Nachweis von Wirkungen gelingt leichter bei weitverbreiteten Problematiken (z. B. Gewalt oder Suchtmittelkonsum), schwieriger ist es bei den Problematiken, die nur wenige Personen innerhalb der Gesamtgruppe betreffen (z. B. Radikalisierung).12) Der Nachweis oder zumindest die begründete Annahme der Wirksamkeit ist aber bedeutsam, denn entsprechende Maßnahmen erfordern eine Legitimation. - Fehlender Leidensdruck: Aus der zunächst wenig greifbaren unmittelbaren Wirkung leitet sich das „Präventionsparadox“ nach G. Rose13) ab: Universelle Prävention bringt viele Vorteile für die gesamte Population, aber nur geringe Vorteile für die einzelnen Individuen. Die Motivation, an solchen Maßnahmen teilzunehmen oder sie durchzuführen, ist daher meist gering, obwohl sie in den meisten Fällen die beste Wahl wären.
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Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul
Fussnoten
1)
Schreiber 2019.
2)
Vgl. Caplan 1964.
3)
Vgl. Gordon 1983.
4)
Der einzige genuine Ansatz aus der Kriminologie findet sich bei Tonry/Farrington und differenziert zwischen „developmental prevention, community prevention, situational prevention, law enforcement“ (Tonry/Farrington 1994). Dieser Ansatz wird hier nicht weiter aufgegriffen, da sich die Prävention von Radikalisierung im Kern innerhalb der entwicklungsorientierten („developmental“) und der gemeinwesenorientierten („community“) Prävention bewegt. Eine weitere Klassifikation wird von dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) eingebracht. Sie unterscheidet nach Art und Ort der Maßnahmen zwischen sozialer, lokaler, situativer und reintegrativer Prävention (Vgl. UNODC 2010).
5)
Vgl. u. a. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o. J.
6)
U.a. Cowen 1977, 1980; Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
7)
„The classifcation that we propose would restrict the use of the term ‘preventive’ to measures, actions, or interventions that are practiced by or on persons who are not, at the time, suffering from any discomfort or disability due to the disease or condition being prevented. This distinction would serve to eliminate most of what is now encompassed in the old category ‘tertiary’.” (Gordon 1983, 108).
8)
Greenberg/Weissberg 2001.
9)
Vgl. Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
10)
Vgl. Hafen 2004.
11)
Effektstärken geben als statistischer Wert das Ausmaß der Wirkung eines bestimmten Einflussfaktors an.
12)
Diskutiert wird weiterhin: Die Effektstärke von universeller Prävention ist zwar zumeist gering, aber immer in Bezug auf die Gesamtpopulation zu sehen. Bei der selektiven und indizierten Prävention werden oft mittlere bis große Effektstärken erreicht, dies aber nur in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe. Bezieht man diese Ergebnisse ebenfalls auf die Gesamtpopulation, sind die Effektstärken u. U. kleiner als bei der universellen Prävention.
13)
Rose 1985.
14)
Ein Beispiel hierfür ist die „Grüne Liste Prävention“, die der Landespräventionsrat Niedersachsen entwickelt hat und in der Präventionsprogramme, eingestuft nach dem Grad ihrer geprüften Wirksamkeit, dargestellt werden.
15)
Vgl. Fixsen et al. 2005.
16)
Rogers 2003.
17)
Vgl. Gruber/Lützinger 2017.
18)
Vgl. Baier 2018.
19)
Beelmann/Jahnke/Neudecker 2017, 90f.
20)
Vgl. Beelmann, Gutachten 2017, 14.
21)
Ebd., 36.
22)
Ebd., 18.
23)
Ebd., 54-59.
24)
Scales/Leffert 2004.
25)
Eine mögliche diese Überlegungen berücksichtigende Formulierung wäre dann „Prävention von religionsbezogenem (ggf. sogar islambezogenem) politischem Extremismus“.
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