Bühne des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention
5.1 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention im Bereich Rechtsextremismus ist nicht zu verwechseln mit Maßnahmen der allgemeinen Demokratieförderung oder Demokratiebildung. Diese wirken nur auf einen der vielen bekannten Risikofaktoren. Sie dienen eher der Werte- und Normenvermittlung und damit der Stabilisierung und Sensibilisierung des positiven Ist-Zustands. Sie ergänzen universelle Präventionsansätze und bieten flankierend Ansätze für die Förderung der Widerstandsfähigkeit und Ressourcenorientierung.
Ähnlich ist es mit Maßnahmen der politischen Bildung, Information und Aufklärung über Rechtsextremismus. Diese vermitteln einerseits ganz allgemein Werte, wollen aber auch gezielt Fehlentwicklungen vorbeugen. Ihre tatsächliche präventive Wirkung ist jedoch umstritten und nur unter bestimmten Bedingungen erfolgversprechend. Nur wenn nachweisbar ist, dass wissensbasierte Maßnahmen im Belastungsfall tatsächlich einen relevanten Schutzeffekt haben, sprechen wir auch hier von universeller Prävention.
Universelle Prävention ist ein Instrument, um auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen die Entwicklungsrisiken und Entstehungsbedingungen für rechtsextremistische Einstellungen und Handlungen im Vorfeld zu beeinflussen. Maßnahmen der universellen Prävention wirken multifaktoriell und kumulierend auf individueller, sozialer und gesellschaftlicher Ebene, das heißt sie bauen aufeinander auf und verstärken sich gegenseitig. Für einen Großteil der untersuchten Maßnahmen zur universellen Prävention von Radikalisierung ist deren Wirkung in Bezug auf andere Fehlentwicklungen wie Kriminalität, Gewaltverhalten und Sucht ebenfalls nachgewiesen.
Zusammengefasst bedeutet dies: Bei Maßnahmen, die bei der gesamten Bevölkerung mit durchschnittlichem Risiko gezielt eingesetzt werden, um wissenschaftlich nachgewiesene Risiko- und Schutzfaktoren von Radikalisierungsprozessen bzw. die Entwicklung von extremistischen Kernmerkmalen21) positiv zu beeinflussen, handelt es sich um Maßnahmen der universellen Prävention. Maßnahmen der universellen Prävention adressieren das Individuum ganz allgemein im Kontext des sozialen Systems, um sich im günstigsten Fall für den Einzelnen präventiv auszuwirken. Dies können beispielsweise alle Schüler der Klassen 7 und 8 einer Kommune sein, denn eine Zielgruppenorientierung ist weiterhin notwendig, um entwicklungsorientierte Aspekte zu berücksichtigen und eine altersgemäße Ansprache zu ermöglichen.
Die Auswahl orientiert sich aber eben nicht an einer festgestellten spezifischen Belastung dieser Gruppe. Sofern in einer Analyse festgestellt wurde, dass die Ausprägung eines oder mehrerer Risiko- oder Schutzfaktoren entweder in der Gesamtbevölkerung oder bei einer bestimmten Zielgruppe (z. B. alle Jungen der Klassen 8 der Hauptschulen) im Vergleich zu gemessenen Durchschnittswerten anderer Kommunen oder insgesamt als erhöht zu bewerten ist (z. B. dass bei 40 % der Jugendlichen in den Klassen 7 und 8 fremdenfeindliche Einstellungen festgestellt wurden), handelt es sich um eine Maßnahme der selektiven Prävention, wenn die Auswahl der Zielgruppe auf der Basis dieser Analyse vorgenommen wurde.
Sofern Maßnahmen bei der Gesamtpopulation mit dem Ziel durchgeführt werden, Entwicklungsaufgaben angemessen zu bewältigen (allgemeine Förderung von Kompetenzen wie Selbstwertgefühl, Selbstbeherrschung, soziale Integration), handelt es sich um Maßnahmen der allgemeinen Entwicklungsförderung (z. B. allgemeine Maßnahmen der politischen Bildung wie Politikunterricht in der 8. Klasse), nicht um Maßnahmen der universellen Prävention. Zu Maßnahmen der universellen Prävention werden sie, sofern sie in dem Wissen, dass die geförderte Kompetenz für den Radikalisierungsprozess bzw. für die Entwicklung von extremistischen Einstellungen und Handlungen von Bedeutung ist, gezielt in der Absicht eingesetzt werden, diese zu beeinflussen.
Die Inhalte der Präventionsansätze richten sich nach den wissenschaftlich nachgewiesenen Risiko- und Schutzfaktoren. So beschreibt Beelmann zentrale Bedingungen für Radikalisierungsprozesse auf der Mikroebene (z. B. Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung), der Mesoebene der sozialen Gruppe (z. B. Ausgrenzungserfahrungen, ausgeprägte Vorurteilsstrukturen) und der Makroebene (z. B. Bereitstellung einer Ideologie).22) Dementsprechend lassen sich auch Handlungsempfehlungen für Maßnahmen der universellen Prävention im Bereich Rechtsextremismus zuordnen:
- Individualpsychologische Maßnahmen (Mikroebene):
Vorurteilsbekämpfung (Kontakthypothese, positive Erfahrungen sozialer Diversität), sozial-kognitive Kompetenzsteigerung (Steigerung von Empathie und Perspektivübernahme, Konfliktregelungskompetenzen, geistige Differenziertheit, moralische Entwicklung), Maßnahmen zur Identitätsfindung, Maßnahmen zur positiven Jugendentwicklung, spezifische Formen der politischen Bildung, Prävention gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen
- Maßnahmen im sozialen Nahfeld (Mesoebene):
Bindungssicherheit (Bindung zur Schule, emotionale Bindung zu den Eltern, Zugewandtheit der Eltern), Familie (Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt oder Gewalt in der Erziehung, Konfliktregelung, Wertevermittlung), Gruppe (Anerkennung pro-sozialer Mitwirkung in Familie, Schule, sozialem Umfeld), Zugehörigkeit, Teilhabe
- Gesellschaftspolitische und sozialpolitische Maßnahmen zur Reduktion von risikoerhöhenden Bedingungen und Förderung der risikomildernden Bedingungen (Makroebene):
Gerechtigkeit, Wohnen, Arbeiten, Sozialpolitik, Integrationsprozesse, Bildungspolitik, Anerkennung, Partizipations- und Teilhabechancen, Medien
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Fussnoten
1)
Schreiber 2019.
2)
Vgl. Caplan 1964.
3)
Vgl. Gordon 1983.
4)
Der einzige genuine Ansatz aus der Kriminologie findet sich bei Tonry/Farrington und differenziert zwischen „developmental prevention, community prevention, situational prevention, law enforcement“ (Tonry/Farrington 1994). Dieser Ansatz wird hier nicht weiter aufgegriffen, da sich die Prävention von Radikalisierung im Kern innerhalb der entwicklungsorientierten („developmental“) und der gemeinwesenorientierten („community“) Prävention bewegt. Eine weitere Klassifikation wird von dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) eingebracht. Sie unterscheidet nach Art und Ort der Maßnahmen zwischen sozialer, lokaler, situativer und reintegrativer Prävention (Vgl. UNODC 2010).
5)
Vgl. u. a. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o. J.
6)
U.a. Cowen 1977, 1980; Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
7)
„The classifcation that we propose would restrict the use of the term ‘preventive’ to measures, actions, or interventions that are practiced by or on persons who are not, at the time, suffering from any discomfort or disability due to the disease or condition being prevented. This distinction would serve to eliminate most of what is now encompassed in the old category ‘tertiary’.” (Gordon 1983, 108).
8)
Greenberg/Weissberg 2001.
9)
Vgl. Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
10)
Vgl. Hafen 2004.
11)
Effektstärken geben als statistischer Wert das Ausmaß der Wirkung eines bestimmten Einflussfaktors an.
12)
Diskutiert wird weiterhin: Die Effektstärke von universeller Prävention ist zwar zumeist gering, aber immer in Bezug auf die Gesamtpopulation zu sehen. Bei der selektiven und indizierten Prävention werden oft mittlere bis große Effektstärken erreicht, dies aber nur in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe. Bezieht man diese Ergebnisse ebenfalls auf die Gesamtpopulation, sind die Effektstärken u. U. kleiner als bei der universellen Prävention.
13)
Rose 1985.
14)
Ein Beispiel hierfür ist die „Grüne Liste Prävention“, die der Landespräventionsrat Niedersachsen entwickelt hat und in der Präventionsprogramme, eingestuft nach dem Grad ihrer geprüften Wirksamkeit, dargestellt werden.
15)
Vgl. Fixsen et al. 2005.
16)
Rogers 2003.
17)
Vgl. Gruber/Lützinger 2017.
18)
Vgl. Baier 2018.
19)
Beelmann/Jahnke/Neudecker 2017, 90f.
20)
Vgl. Beelmann, Gutachten 2017, 14.
21)
Ebd., 36.
22)
Ebd., 18.
23)
Ebd., 54-59.
24)
Scales/Leffert 2004.
25)
Eine mögliche diese Überlegungen berücksichtigende Formulierung wäre dann „Prävention von religionsbezogenem (ggf. sogar islambezogenem) politischem Extremismus“.
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Beelmann, Andreas (2017): Grundlagen einer entwicklungsorientierten Prävention des Rechtsextremismus, Gutachten im Rahmen eines Wissenschafts-Praxis-Dialogs zwischen dem Landespräventionsrat Niedersachsen und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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