Bühne des Kapitels / Moduls
Universelle Prävention
5.1 Extremismusprävention in Deutschland – Praxiskonzepte
Inhalt des Kapitels / Moduls
Konkrete Handlungsempfehlungen zur Universellen Prävention23) sind:
a. Positive Erfahrungen mit sozialer Vielfalt
Vorurteilsprävention im Vorschul- und frühen Grundschulalter (z.B. Kennenlernen von sozialer und kultureller Vielfalt, regelmäßige Kontakte zu Kindern unterschiedlicher sozialer Gruppen/anderer Kulturen oder Ethnien ermöglichen).
b. Förderung von bestimmten Sozialkompetenzen und Training sozial-kognitiver Fähigkeiten
Diese Maßnahmen bieten sich besonders im Altersbereich von 6-14 Jahren an, zum Beispiel mittels des Einsatzes standardisierter universeller Präventionsprogramme (siehe Grüne Liste Prävention). Es sind solche Programme zu empfehlen, die extremismusspezifische Kompetenzen, Empathie und Perspektivübernahme, Konfliktregelung, geistige Differenziertheit und moralische Entwicklung fördern.
c. Maßnahmen im sozialen Nahfeld
Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern, Förderung der emotionalen Bindung zu den Eltern, Förderung der Zugewandtheit der Eltern und der Familie, Prävention Häuslicher Gewalt/Gewalt in der Erziehung/gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen, Förderung positiver Konfliktregelung, Erhöhung der Bindung zur Schule, Anerkennung pro-sozialer Mitwirkung im Elternhaus, der Schule und des sozialen Umfeldes (Vgl. dazu auch Programme aus der „Grünen Liste Prävention“ unter www.gruene-liste-praevention.de).
d. Identitätsstiftende Maßnahmen
Diese Maßnahmen bieten sich zur Unterstützung der positiven Identitätsbildung bei Jugendlichen im Alter von 12-16 Jahren an, insbesondere profitiert davon die Risikogruppe derjenigen, die kaum Anschluss an nicht-verhaltensauffällige Peers finden. Es geht konkret darum, Jugendlichen Möglichkeiten des Ausprobierens, der Übernahme von Verantwortung im sozialen Bereich sowie der Identifikation und Bedeutungszumessung zu ermöglichen. Das kann im Sport, in der Freizeit, bei kulturellen Aktivitäten, in Familien, in der Schule oder in der Gleichaltrigen-Gruppe geschehen. Es bedarf realistischer und altersgerechter Anerkennungsstrukturen, damit der Aufbau einer positiven sozialen Identität gelingt. Es sind vielfältige Präventionsmöglichkeiten im Rahmen der klassischen Jugendarbeit denkbar, die insbesondere dort installiert werden sollten, wo solche Angebote fehlen.
e. Politische und kulturelle Bildung
Sie betrifft die Vermittlung positiver politischer Werte für die Zielgruppe der älteren Jugendlichen und Heranwachsenden im Altersbereich von 15-20 Jahren (z.B. Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Vertrauen in staatliche Organisationen). Geeignet sind insbesondere interaktive Maßnahmen, aktives Erleben und Erfahren demokratischen Engagements sowie demokratischen Handelns und demokratischer Kultur in schulischen und außerschulischen Zusammenhängen. Es sind niedrigschwellige Formate zu empfehlen, die insbesondere politisch desinteressierte oder bereits szeneaffine Jugendliche erreichen können.
f. Kontaktmaßnahmen
Kontaktmaßnahmen gehören zu den wichtigsten und lohnendsten Aktivitäten der Vorurteilsprävention. Es handelt sich um Maßnahmen, bei denen sich Mitglieder unterschiedlicher sozialer Gruppen persönlich begegnen und in Interaktion treten. Dies kann im Rahmen von strukturellen Maßnahmen in Kindergarten und Schule, z. B. durch integrativen Schulunterricht oder den Einsatz kooperativer Lernmethoden, bei Sport-, Freizeit- und Kulturaktivitäten oder im Rahmen von Schüleraustauschen geschehen. Diese Projektform eignet sich für Institutionen, Vereine, Verbände, im Sport, in Stadtteilen oder in Gemeinden. Besonders empfehlenswert sind grundsätzlich Kontaktmaßnahmen, bei denen sich die unterschiedlichen Gruppenmitglieder auf Augenhöhe begegnen und ein gemeinsames Ziel verfolgen. Es sollte keine Konkurrenzsituation entstehen und der Kontakt durch Autoritäten (z. B. Lehrkräfte, Erzieherinnen, Erzieher u. ä.) vermittelt werden. Solche Kontaktmaßnahmen sind für alle Altersgruppen und alle sozialen Kontexte geeignet. Ungünstige Kontaktsituationen sind aber zu vermeiden. Zum Beispiel ist es vorteilhaft, gemischte Gruppen gegeneinander Fußball spielen zu lassen. Wenn man aber Mannschaften aus unterschiedlichen sozialen Gruppen gegeneinander spielen lässt, ist dies eine ungünstige Kontaktsituation, die sich eher kontraproduktiv auswirken kann.
g. Weitere Maßnahmen im Rahmen der positiven Jugendentwicklung
Maßnahmen nach den Konzepten der positiven Jugendentwicklung beziehen sich auf allgemeine Aspekte einer gelungenen (oder gesunden) Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und sind daher nur mittelbar für die Prävention von Radikalisierungsprozessen und politischem Extremismus relevant. Scales und Leffert24) haben beispielsweise das Modell der Entwicklungsressourcen vorgeschlagen und unterscheiden dabei externale (von außen bereitgestellte) und internale (individuelle) Ressourcen. Zu den externalen Ressourcen, die Kinder und Jugendliche brauchen, um sich gesund und frei von Problemen und Defiziten zu entwickeln, gehören soziale Unterstützung (Familie, Schule, Nachbarschaft), Empowerment (Wertschätzung junger Menschen), tragfähige Bindungen (Familie, Freundeskreise, soziale Vorbilder) sowie kreative Freizeitangebote (Sport, Musik u.a.). Zu den internalen Ressourcen gehören Lernbereitschaft (Leistungsmotivation, Bindung an die Schule), positive Werte (Gerechtigkeit, Gleichheit, Ehrlichkeit), soziale Kompetenzen (positive Kontakte, gute Konfliktlösung) sowie eine positive soziale Identität.
Abschließend sollen noch die Besonderheiten in der Prävention von so genannter (neo-)salafistischer bzw. islamistischer Radikalisierung benannt werden. Hierbei sind die Akteure in besonderer Weise gefordert, zu definieren, was der Gegenstand dessen ist, was es vorzubeugen gilt. Dies verdeutlicht sich bereits in der umstrittenen (und bis dato nicht abschließend geklärten) begrifflichen Benennung des Arbeitsfelds: Neben den oben bereits genannten Begriffen wird auch von Prävention des gewaltorientierten Islamismus, von religiös begründeter, religiös motivierter oder religionsbezogener Radikalisierung bzw. Extremismus u. v. m. gesprochen. Diese Vielzahl an Bezeichnungen ist Ausdruck davon, dass neben der in der Radikalisierungs- bzw. Extremismusprävention (auch des Rechtsextremismus) bereits diskutierten Frage, welchem Grad der Radikalität zuvorgekommen werden soll, hier der Religionsbezug – und damit das Recht der Religionsfreiheit – hinzukommt.
Kurz formuliert geht es dabei explizit nicht um „Islam-Prävention“, sondern um die Prävention von Radikalisierung, die mithin in einen Extremismus münden kann und in Relation zu einer bestimmten Religion – nämlich der islamischen – steht, ohne dass dadurch bereits etwas über die Besonderheit des Verhältnisses Religion – Radikalisierung bzw. Religion – Extremismus gesagt sei.25)
Das bedeutet denn auch keinesfalls den Umkehrschluss, dass der Faktor Religion in diesem Feld der Präventionsarbeit keine Rolle spielt, spielen kann und spielen sollte. Es bedeutet aber sehr wohl, dass die Frage, wie wichtig dieser Faktor für die Präventionsarbeit ist, zentral wird. Insbesondere ist die Fähigkeit des „Spielens der religiösen Klaviatur“, also die Berücksichtigung der Sensibilität von religiöser Sinnstiftung und Identität, stets grundlegend für die Präventionsarbeit. Denn erst dieses Mitdenken und Berücksichtigen ermöglichen letztlich die Unterscheidung zwischen geschütztem Religionsfreiheitsraum und zu prävenierender Abwertungsideologie und -handlung (religiös) Anderer.
Im Rahmen universeller Prävention ist daher die Information zur notwendigen Unterscheidung zwischen Religion und Ideologie ein zentrales Merkmal. Ferner muss die universelle Prävention beachten, dass Religiosität Schutzwirksamkeit gegenüber anderen Risiken (etwa zum Drogenkonsum) entwickeln kann oder Beiträge zum Gemeinwohl entstehen lässt. Das ist auch innerhalb der selektiven Prävention wichtig, besonders in auf die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ausgerichteten Angeboten. In Abgrenzung zum universellen Bereich ist die selektive Prävention aber auch geprägt von der konkreteren Auseinandersetzung mit Ideologie, Risiko- und Schutzfaktoren.
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Fussnoten
1)
Schreiber 2019.
2)
Vgl. Caplan 1964.
3)
Vgl. Gordon 1983.
4)
Der einzige genuine Ansatz aus der Kriminologie findet sich bei Tonry/Farrington und differenziert zwischen „developmental prevention, community prevention, situational prevention, law enforcement“ (Tonry/Farrington 1994). Dieser Ansatz wird hier nicht weiter aufgegriffen, da sich die Prävention von Radikalisierung im Kern innerhalb der entwicklungsorientierten („developmental“) und der gemeinwesenorientierten („community“) Prävention bewegt. Eine weitere Klassifikation wird von dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) eingebracht. Sie unterscheidet nach Art und Ort der Maßnahmen zwischen sozialer, lokaler, situativer und reintegrativer Prävention (Vgl. UNODC 2010).
5)
Vgl. u. a. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o. J.
6)
U.a. Cowen 1977, 1980; Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
7)
„The classifcation that we propose would restrict the use of the term ‘preventive’ to measures, actions, or interventions that are practiced by or on persons who are not, at the time, suffering from any discomfort or disability due to the disease or condition being prevented. This distinction would serve to eliminate most of what is now encompassed in the old category ‘tertiary’.” (Gordon 1983, 108).
8)
Greenberg/Weissberg 2001.
9)
Vgl. Gordon 1983; IOM 1994, 2009.
10)
Vgl. Hafen 2004.
11)
Effektstärken geben als statistischer Wert das Ausmaß der Wirkung eines bestimmten Einflussfaktors an.
12)
Diskutiert wird weiterhin: Die Effektstärke von universeller Prävention ist zwar zumeist gering, aber immer in Bezug auf die Gesamtpopulation zu sehen. Bei der selektiven und indizierten Prävention werden oft mittlere bis große Effektstärken erreicht, dies aber nur in Bezug auf die jeweilige Zielgruppe. Bezieht man diese Ergebnisse ebenfalls auf die Gesamtpopulation, sind die Effektstärken u. U. kleiner als bei der universellen Prävention.
13)
Rose 1985.
14)
Ein Beispiel hierfür ist die „Grüne Liste Prävention“, die der Landespräventionsrat Niedersachsen entwickelt hat und in der Präventionsprogramme, eingestuft nach dem Grad ihrer geprüften Wirksamkeit, dargestellt werden.
15)
Vgl. Fixsen et al. 2005.
16)
Rogers 2003.
17)
Vgl. Gruber/Lützinger 2017.
18)
Vgl. Baier 2018.
19)
Beelmann/Jahnke/Neudecker 2017, 90f.
20)
Vgl. Beelmann, Gutachten 2017, 14.
21)
Ebd., 36.
22)
Ebd., 18.
23)
Ebd., 54-59.
24)
Scales/Leffert 2004.
25)
Eine mögliche diese Überlegungen berücksichtigende Formulierung wäre dann „Prävention von religionsbezogenem (ggf. sogar islambezogenem) politischem Extremismus“.
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