Bundeskriminalamt (BKA)

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Angesichts dieser Unwägbarkeiten und Risiken verbieten sich unseres Erachtens Gedanke und Verwendung des Begriffs der selektiven Prävention, wenn es um Personen und Gruppen geht, die selbst gar nicht in einer Weise in Erscheinung treten, die auf eine potenzielle Gefährdung hinweisen könnte. Wir schlagen vielmehr vor, in diesen Fällen weiterhin von universeller Prävention (oder auch von „Demokratieförderung“) zu sprechen. Im Rahmen selektiver Prävention sollten dagegen nur solche Maßnahmen realisiert werden, die sich nicht an spezifisch definierte „Risikogruppen“ richten (vgl. Kap. 5.1, „Universelle Prävention“). Vielmehr sollte selektive Prävention sich u. E. auf tatsächlich beobachtbares Verhalten beziehen, das auf mögliche Annäherungsprozesse an Ideologien oder Gruppierungen hinweist. Damit sind auch Erfordernisse hinsichtlich adäquater Indikatoren, Diagnoseverfahren und Umgangsweisen mit „Verdachtsfällen“ verbunden, die im Folgenden skizziert werden. Im Weiteren verwenden wir daher den Begriff der selektiven Prävention ausschließlich für Maßnahmen, die sich auf konkret beobachtbares Verhalten und konkrete Positionen von Einzelnen und Gruppen beziehen.

Neben direkt gefährdeten bzw. als gefährdet wahrgenommenen Personen stellen auch Akteure aus dem sozialen Nahfeld dieser Personen relevante Zielgruppen im Handlungsfeld selektiver Prävention dar. Zu den Zielgruppen dieser „indirekten Prävention“ zählen insbesondere Angehörige (vor allem die Eltern), aber auch Freunde, Mitschülerinnen und Mitschüler oder etwa ältere Vertrauenspersonen außerhalb der Familie – etwa eine Lehrerin, die einen guten „Draht“ zu einem Jugendlichen hat, ein Geistlicher oder auch eine Sporttrainerin oder ein -trainer. Das soziale Nahfeld einzubeziehen eröffnet Möglichkeiten, präventiv auf junge Menschen einzuwirken, die anderweitig nicht erreichbar sind. Angehörige und andere Vertrauenspersonen können wie in der indizierten Prävention (s. Kap. 5.3, „Indizierte Prävention“) eine wichtige positive emotionale und soziale Ressource darstellen. Mitunter sind sie aber auch selbst Bestandteil hinwendungsfördernder Konstellationen und Dynamiken und können auch aus diesem Grund in Maßnahmen der selektiven Prävention einbezogen werden (s. u.).

In beiden Phänomenbereichen stellen – ebenfalls im Sinne indirekter Prävention – professionelle Akteure eine weitere Zielgruppe von selektiv-präventiven Maßnahmen dar. So kommen etwa pädagogische Fachkräfte in ihrer alltäglichen Arbeit mit evtl. gefährdeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Kontakt. Sie kommen aus der Kinder- und Jugendhilfe, aus Schulen und Kindertagesstätten oder sind gegebenenfalls auch Polizeikräfte. Im Rahmen selektiver Präventionsmaßnahmen können sie – zusammen mit anderen Akteuren – mitunter in Fachberatungen (siehe „Runder Tisch“) eingebunden werden, in denen es um einzelne gefährdete junge Menschen geht, mit denen sie z. B. als Lehrerin oder Lehrer bzw. Trainerin oder Trainer zu tun haben. Solche professionellen Akteure aus der Regelarbeit können im Rahmen von Fortbildungen in einer angemessenen Wahrnehmung und einem professionellen Umgang mit damit einhergehenden Herausforderungen gestärkt werden (s. u.).

Je nachdem, an welche Zielgruppe sich Angebote richten, werden also Maßnahmen der selektiven Prävention in unterschiedlichen professionellen Handlungsfeldern und Settings realisiert: So findet die Arbeit mit dem sozialen Nahfeld überwiegend in Beratungsangeboten statt, Fortbildungen wenden sich an professionelle Akteure und mit potenziell gefährdeten Personen wird vorrangig im Rahmen der Jugend- und Jugendsozialarbeit gearbeitet.

Indikatoren

Die Ursachen dafür, dass sich Individuen und Gruppen – zumeist im Jugend- oder Jungerwachsenenalter – extremistischen weltanschaulich-politischen Strömungen zuwenden, sind vielfältig und vielschichtig. Biografische Krisenerlebnisse können ebenso eine Rolle spielen wie gesellschaftliche und in persönlichen Beziehungen gemachte Erfahrungen von mangelnder Zugehörigkeit, von fehlender Anerkennung, Perspektivlosigkeit und geringer Selbstwirksamkeit.15)Eine besondere Bedeutung kommt zudem der Jugendphase mit ihren körperlichen und emotionalen Veränderungen, familiären Ablösungsdynamiken und identitätsbezogenen Suchbewegungen zu. In dieser Zeit, in der das Selbstwertgefühl besonders zerbrechlich ist, erscheinen mitunter neue soziale Kontexte, neue Freunde und neue Ziele als Ausweg bei schwierigen Erfahrungen und Anforderungen. Ideologisch geprägte Gemeinschaften, die heile Welten und den besseren Menschen versprechen, können hier auf manche junge Menschen eine besondere Anziehungskraft ausüben.

Neben Familie und Freunden sind es vor allem pädagogische Fachkräfte (v.a. aus Schule und Jugendarbeit), aber auch andere Professionelle (z.B. aus der Vereins- oder der Gemeindearbeit), die Veränderungen bei Jugendlichen wahrnehmen und in diesem Zuge auch mit Ideologisierung und der Zuwendung zu extremistischen Angeboten rechnen müssen. Deshalb sind sie es auch, die vor allen anderen nach Indikatoren und „Merkmalen“ fragen, anhand derer sich eine besondere „Extremismus-“ oder “Radikalisierungsgefährdung“ junger Menschen und ein entsprechender pädagogischer Handlungsbedarf erkennen ließen. Das gilt für den Rechtsextremismus, mehr allerdings noch für das – vergleichsweise neue, im gesellschaftlichen Diskurs indes hoch gehandelte – Themenfeld des extremistischen Islamismus.

Dieser Bedarf ist nachvollziehbar. Allerdings mündet er oft in den Versuch, klar zu erkennende, eindeutig abzugrenzende, objektive „Gefährdungsmerkmale“ zu beschreiben. Die Definitions- und Auswahlprozesse, an deren Ende bei bestimmten Personen oder Gruppen ein selektiver oder gar indizierter (vgl. Kapitel 5.3.) Präventionsbedarf angenommen wird, sind jedoch alles andere als „objektiv“: Akteure aus Politik, Sicherheitsbehörden, Sozialarbeit oder Pädagogik definieren „auffälliges“ Verhalten auf der Grundlage ihrer eigenen Biografien, ihres sozialen Status, ihrer individuellen beruflichen Erfahrungen, im Rahmen ihres beruflichen Auftrages und im Kontext gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.17)

Die angelegten Kriterien sind damit von jeweils spezifischen fachlichen Perspektiven und Wertvorstellungen sowie von aktuellen Debatten abhängig, die daraus resultierenden Ein- und Zuordnungen können jedoch eine hohe etikettierende und stigmatisierende Wirkung entfalten.

Religiös begründeter Extremismus?

Vor dem Hintergrund der Religionsferne vieler Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie eines allgemein sehr „islamkritischen“ öffentlichen Diskurses stehen muslimische Jugendliche (oder solche, die von ihrer Umwelt als „muslimisch“ gelesen werden) mitunter schnell unter einem „Radikalisierungsverdacht“. Dies besonders, wenn sie sich positiv oder auch provokativ auf den Islam beziehen – etwa, wenn sie den Wunsch nach einem Gebetsraum in der Schule äußern oder auf religiöse Normen verweisen, von denen sie meist selbst nicht viel wissen. Mitunter wird ihnen das als Ausdruck von Rückzug und Segregation vorgehalten oder ihr Verhalten als mögliche Hinwendung zum Extremismus bzw. Islamismus interpretiert. Tatsächlich ist das nicht auszuschließen. Ohnehin sollten entsprechende Positionen und Verhaltensformen ein Anlass sein, mit Jugendlichen ins Gespräch über ihre Motive und Interessen zu kommen.

Dabei zeigt sich dann in der Regel, dass es nicht um Rückzug oder gar Islamismus geht, sondern das Gegenteil der Fall ist: Wenn Jugendliche Bestandteile „ihrer“ Kultur oder Religion betonen, dann steht dahinter sehr häufig das Bedürfnis, mit ihren Besonderheiten (oder was sie dazu erklären) als Teil der Gesellschaft Anerkennung zu finden. Dabei geht es ihnen bei der Betonung des Islam oft weniger um religiöse Anliegen, sondern um den Islam als Statement, als ein Bestandteil ihres Selbstverständnisses, das sie angesichts vielstimmiger Kritik, Skepsis und rassistischer Anfeindungen behaupten möchten und um dessen Anerkennung sie ringen, offensiver als es noch ihre Eltern und Großeltern getan haben. Diese Protest- und Suchbewegungen von jungen, mehr oder weniger religiösen deutschen „Musliminnen und Muslimen“ sind also zunächst emanzipatorisch und integrativ motiviert (auch wenn sie nicht selten zu Konflikten führen und provokativ in Erscheinung treten mögen), zielen sie doch darauf ab, als gleichberechtigte Teile einer heterogenen Gesellschaft anerkannt zu werden. (Nur in sehr seltenen Fällen und im Zusammenspiel mit anderen Faktoren münden sie in Prozesse der Hinwendung zu extremistischen Ideologien oder Propaganda für extremistische Gruppen). Während aber Slogans wie »Black is beautiful« oder »Ich bin schwul und das ist auch gut so« weithin akzeptiert und zu geflügelten Worten avanciert sind, gerät ein jugendliches »Proud to be Muslim« schnell unter Radikalisierungsverdacht.16)

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen