Bundeskriminalamt (BKA)

Navigation durch den Inhalt des Kapitels / Modules

Inhalt des Kapitels / Moduls

Akteure

Eine Vielzahl von Akteuren ist erst seit kurzer Zeit, wie im Feld des demokratiefeindlichen Islamismus/islamistischen Extremismus, oder bereits seit längerem, wie beim Rechtsextremismus, in der selektiven Präventionsarbeit tätig. Zu den Angeboten dieser Akteure zählen sowohl allgemeine Angebote in den Regelsystemen als auch Projekte und Angebote spezialisierter Träger.

Regelsysteme der Jugendhilfe, wozu sowohl die Arbeit der Jugendämter und ihrer zivilgesellschaftlich organisierten Kooperationspartner als auch die Arbeit der offenen Kinder- und Jugendhilfe gehören, leisten häufiger selektive Präventionsarbeit im Hinblick auf Extremismus, als es in öffentlichen und fachlichen Diskussionen erscheinen mag, da die meisten präventiven Elemente innerhalb ihres Auftrags- und Angebotsbereichs liegen. Damit wird ein Gros der selektiven Extremismusprävention ganz nebenbei erledigt, ohne dass dabei spezialisierte Angebote vorliegen oder Anwendung finden. Empirische Untersuchungen zu den Anlässen, zum Stellenwert und zu den Resultaten solcher „Präventionsmaßnahmen, die keine sind“ durch die Regelsysteme erscheinen vor diesem Hintergrund lohnenswert. Fachkräfte sind alltäglich vor Ort, unterstützen junge Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme – und leisten so auch einen Beitrag zur Bearbeitung etwaiger Hinwendungsursachen. Aus diesem Grund birgt eine Reduktion von Regelangeboten zugunsten spezialisierter Angebote auch eine Gefahr im Hinblick auf präventive Zielstellungen: Letztere können nicht „flächendeckend“ in der notwendigen Weise früh intervenieren, wenn junge Menschen vor persönlichen Herausforderungen stehen und ggf. empfänglich für ideologische Angebote werden.

Beispielsweise kann durch eine Erziehungsbeistandschaft, die für junge Menschen vor dem 18. Lebensjahr als unterstützende Maßnahme durch Jugendämter initiiert und zumeist durch pädagogische Fachkräfte der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe ausgeführt wird, eine intensive pädagogische Einzelarbeit geleistet werden. Eine solche Maßnahme kann losgelöst von der Überschrift „Extremismusprävention“ erfolgen und gleichzeitig – zum Beispiel mit Hilfe spezialisierter Fachberatung – genau hierauf konzentriert arbeiten, ohne dass sich der junge Mensch unter dem Stigma des gefährdeten Jugendlichen wiederfindet.

Andere Beispiele für selektive Prävention außerhalb von bzw. in Zusammenarbeit mit spezialisierten Angeboten bieten im Alltag auch Jugendfreizeitheime und andere offene Komm-Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, sobald sie ihr pädagogisches Programm differenziert auf die Bedürfnisse ihrer Besucher einstellen, wenn politische Ideologien zum Thema seitens der jungen Menschen werden. Nicht immer braucht es hier Spezialwissen, um fachlich angemessen zu reagieren, wie vielfach angenommen wird. Vielmehr sind sozialpädagogische Fachkräfte bereits durch ihre Ausbildung befähigt (bzw. sollten es sein), geeignete pädagogische Formate zum Beispiel in Form von Exkursionen, Begegnungen, Diskussion und Gespräch anzubieten. Wichtig ist dabei die Fähigkeit, realistisch einzuschätzen, ob und wann sie sich durch spezialisierte Fachkräfte Unterstützung in Form von Angeboten der politischen Bildung, der Fach-, Angehörigen- oder Ausstiegsberatung einholen sollten - wozu auch das Wissen zählt, an welche solcher Anbieter und Angebote im lokalen und überregionalen Raum sich pädagogische Fachkräfte wenden können.

Auch im Bereich Schule geschieht selektive Prävention immer wieder „on the road“: Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter beschäftigen sich gezielt mit Jugendlichen, die zum Beispiel durch ideologische Provokation oder menschenfeindliche Äußerungen auffallen. Ähnlich wie bei professioneller Jugendarbeit außerhalb der Schule sollte im Optimalfall auch hier ein Anteil des präventiven Handelns zum Standardportfolio von Fachkräften gehören, die aber des Weiteren ihre Grenzen kennen und Unterstützungssysteme durch spezialisierte Angebote zum richtigen Zeitpunkt wahrnehmen sollten. Verweisroutinen, Meldeketten und Clearingverfahren können den schulischen Akteuren Orientierung und Handlungssicherheit geben (s. „Runder Tisch“). Eine Herausforderung stellt in diesem Bereich allerdings die Tatsache dar, dass Schulleitungen und übergeordnete Instanzen Bereitschaft und Fähigkeit zeigen müssen, Themen offensiv anzugehen, die oftmals als rufschädigend gelten.

Auch die Regelsysteme psychologischer und psychotherapeutischer Versorgung sowie Angebote von Einrichtungen wie Opferberatungen, Kinder- und Jugendhilfetelefone, Not- und Krisentelefone oder andere Nothilfeformen stellen einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Teil selektiver Prävention dar, indem sie für die unterschiedlichsten Zielgruppen passende Angebote vorhalten und auch dort Krisen abfedern, wo sich eine Radikalisierungsgefährdung auftut, ohne dass sie diesbezüglich spezialisiert sind.

Während in der Vergangenheit vor allem Sucht- und Gewaltprävention, Prävention zur Verhinderung von Eigentumsdelikten und Straßenverkehrsunfällen im Fokus polizeilicher Arbeit stand, stellt diese sich nun auch im Zusammenhang mit der Prävention von religiös begründetem oder politischem Extremismus bundesweit immer sichtbarer auf. Insbesondere geschieht dies durch Vernetzung und Zusammenarbeit mit kommunalen Einrichtungen, Regelsystemen und Trägern von Präventionsarbeit, aber mitunter auch durch die direkte Ansprache von als besonders gefährdet geltenden Personen oder Gruppen.

Eine Sonderrolle, weil meist nicht Teil staatlicher Regelsysteme und Institutionen, spielen im Rahmen von Islamismusprävention Moscheen und Angebote etwa von Migrantenselbstorganisationen. Hier können auch bereits gefährdete junge Menschen Erfahrungen von Zugehörigkeit machen, selbstverständliche Anerkennung ihrer Familienbiografien erfahren, alternative Islamverständnisse kennenlernen oder – z. B. im Rahmen von Protestkampagnen – Selbstwirksamkeit und Partizipation erleben. Insbesondere vor dem Hintergrund unterschiedlicher Nichtzugehörigkeits- und Diskriminierungserfahrungen, die wie gesehen vielfach zu Hinwendungsprozessen und Ideologisierungen (Islamismus, Nationalismen) beitragen, leisten diese Institutionen mit ihrer Arbeit bereits wichtige Beiträge auch zur selektiven Extremismusprävention.23)

Spezialisierte Akteure und Beratungsstellen

Spezialisierte selektiv-präventive Angebote der Jugendhilfe etablierten sich in den 1980er Jahren zunächst als pädagogische Antwort auf den erstarkenden jugendlichen Rechtsextremismus und gewaltförmigen Rassismus in dieser Zeit. Diese häufig aufsuchend ausgerichteten Angebote waren spezialisiert auf Jugendcliquen, die sich vor allem im öffentlichen Raum aufhielten, bereits ein erstes Interesse an extrem rechten Ideologieelementen und Szenen zeigten und durch reguläre pädagogische Angebote nicht mehr erreicht werden konnten. Nach partiellen Fehlentwicklungen in den Anfangsjahren (Stichwort: „Glatzenpflege auf Staatskosten“) waren sie lange Zeit umstritten und förderpolitisch an den Rand gedrängt. Seit einigen Jahren – u. a. infolge des Aufdeckens der NSU-Morde – werden entsprechende Angebote wieder stärker gezielt gefördert. In ähnlicher Weise wird inzwischen auch in einigen Projekten mit islamistisch gefährdeten Jugendlichen gearbeitet. Solche aufsuchenden Spezialangebote sind entweder in die Regelstruktur einer Straßensozialarbeit eingeflochten, welche bereits über Zugänge und Bindungen zu den Zielgruppen verfügt, oder sie fördern selbst diese Kontakte durch intensive Vor-Ort-Präsenz im Sozialraum und bauen ein Spektrum von Hilfs- und Unterstützungsangeboten auf.24)

In den letzten Jahren sind zudem Angebote der Jugendhilfe entstanden, die alternative Zugangswege wählen – und so auf den Umstand reagieren, dass jugendliche Zielgruppen heute wegen veränderter Freizeit- und Kommunikationsgewohnheiten im öffentlichen Raum weniger als homogene Cliquen präsent und erreichbar sind. Diese Angebote setzen stärker auf die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, insbesondere mit der Schule, um möglicherweise gefährdete Jugendliche zu identifizieren und für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Eine Variante ist hier, dass Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter als Mittler fungieren, die bei Hinweisen auf mögliche Gefährdungen den Kontakt zwischen Jugendlichen und Spezialangeboten herstellen.

Dieser Ansatz ist idealerweise mit einer Schulung für Lehrkräfte verbunden, die neben Informationen zu potenziellen „Indikatoren“ auch Hilfestellungen bietet, wie Jugendliche angesprochen und zur Wahrnehmung der Angebote animiert werden können. In einer anderen Variante werden speziell geschulte Akteure, etwa im Rahmen der Schulsozialarbeit, direkt an Schulen angesiedelt. Im Handlungsfeld „islamistischer Extremismus“ arbeiten einzelne Angebote außerdem gezielt mit Moscheegemeinden zusammen. Solche spezialisierten Angebote der Jugendhilfe haben sich gerade im Bereich der selektiven Prävention als geeignet erwiesen, um extremistischen Tendenzen im Jugendalter entgegenzuwirken. Doch haben sie am Gesamtangebot pädagogischer Spezialprojekte nach wie vor einen vergleichsweise begrenzten Anteil – der Großteil an Angeboten auch der Jugendhilfe ist universal-präventiv ausgerichtet.

Dagegen konnte sich in Deutschland in den letzten Jahren ein nahezu flächendeckendes Netz von Fach- und Beratungsstellen sowohl zum Rechtsextremismus als auch zu religiös begründetem Extremismus etablieren.25) Die Beratungsstellen zum Rechtsextremismus bearbeiten neben der Ausstiegshilfe (s. Kapitel 5.3, „Indizierte Prävention“) Anfragen von Fachkräften, pädagogischen Einrichtungen, Behörden und lokal sozialräumlich arbeitenden Einrichtungen, Schulen und Angehörigen. Die Beratungsstellen im Bereich des religiös begründeten Extremismus decken zwar in erster Linie den hohen Bedarf an Angehörigenberatung, werden jedoch in einzelnen Fällen auch von Schulen, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, der Flüchtlingshilfe und im Zusammenhang mit präventiven Einzelfallmaßnahmen einbezogen. Im Hinblick auf beide Phänomenbereiche arbeiten Beratungsstellen je nach Fallsituation sowohl in selektiver als auch in indizierter Prävention und an deren Schnittstellen. Die meisten Beratungsstellen in Deutschland werden von freien Trägern realisiert, von denen einige auf den Bereich der Extremismusprävention spezialisiert sind. Vereinzelt sind Beratungsstellen an staatlichen Institutionen angesiedelt.

Selektive Prävention am "Runden Tisch"

In der Regel haben es pädagogische Fachkräfte in Schule und Jugendarbeit mit „problematischen“, konfliktreichen – z. B. abwertenden – oder aggressiven Positionen und Verhaltensformen von Jugendlichen zu tun, die nicht auf eine extremistische Ideologie deuten oder darauf gründen. In all diesen Fällen können sie auf der Grundlage ihres pädagogischen Know-hows agieren, um Lösungen zu finden und damit auf diese Weise auch etwaigen Hinwendungs-und Radikalisierungsprozessen vorbeugen. Die Übergänge können aber fließend sein. Wenn Fachkräfte, die mit jungen Menschen arbeiten, gravierende Veränderungen feststellen, die auf eine islamistisch-extremistische oder rechtsextreme Ideologisierung deuten könnten, sollten sie in einem ersten Schritt Gespräche im Kolleginnen- und Kollegenkreis suchen, um zusätzliche Perspektiven auf das Verhalten des jungen Menschen zu erlangen und damit ein vollständigeres Bild zu erhalten. Auch können in den Einrichtungen etablierte Melderoutinen, Clearingverfahren oder Notfallordner helfen. In diesem Rahmen können erste Maßnahmen besprochen und umgesetzt werden. Sollten diese Maßnahmen im weiteren Verlauf nicht zu Verhaltensänderungen, sondern zur Verdichtung der Vermutung eines beginnenden Hinwendungsprozesses führen, empfehlt sich der „Schritt nach draußen“. Hier können unter Beachtung datenschutzrechtlicher Bestimmungen und ggf. der Einhaltung von Verschwiegenheitspflichten (§208 StGB) Beratungsstellen, das zuständige Jugendamt oder spezialisierte Fachkräfte der Polizei eingeschaltet werden, mit denen die Beratungsstellen im Feld der selektiven Prävention in Kontakt stehen.

Für Minderjährige können Jugendämter einen „Runden Tisch“ einberufen, für dessen Umsetzung Protokolle und Routinen möglichst schon im Vorhinein bestehen sollten. An ihm sollten neben Vertreterinnen und Vertretern aus Schule oder Jugendeinrichtungen, Beratungsstellen und polizeilichen Fachkräften beispielsweise auch Sporttrainerinnen und -trainer, religiöse Gemeinden oder andere Personen aus dem Umfeld des bzw. der Jugendlichen teilnehmen und sich über Maßnahmen und Angebote zu seiner bzw. ihrer Unterstützung beraten. Auf diese Weise sind alle (mit ihren Informationen, Möglichkeiten und Kompetenzen) mit im Boot – z. B. auch, wenn über eine polizeiliche Ansprache oder die Initiierung eines Ausstiegsprozesses zu beraten ist. So trägt der „Runde Tisch“ auch zur Entlastung pädagogischer Einrichtungen bei, die oft befürchten, mit der schwierigen und belastenden Situation allein gelassen zu werden. Konflikte in der Bewertung und bei der Wahl der Mittel bleiben dabei nicht aus. Vor diesem Hintergrund empfehlt es sich z. B. für Schulen und Jugendeinrichtungen, bereits vorab und „anlassunabhängig“ einen vertrauensbildenden Kontakt zu den unterschiedlichen Beratungsstellen, den Jugendämtern und betreffenden polizeilichen Stellen zu suchen.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen