Bundeskriminalamt (BKA)

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Es zeigt sich, dass es besonders im Phänomenbereich des religiös begründeten Extremismus kaum Fälle gibt, in denen sich Personen gezielt bei geeigneten Organisationen oder den staatlichen Behörden melden, um aus der Szene „auszusteigen“. Geschieht dies dennoch, so lassen die jeweiligen Personen bereits eine ideologische Distanzierung vom Extremismus erkennen und eine Abnabelung bisheriger Szeneverbindungen ist schon erfolgt.

Nach Erhalt eines entsprechenden Hinweises ist es vor allem wichtig, sich mit dem konkreten Zugang zur betroffenen Person sowie der Art und Weise der ersten Kontaktaufnahme zu befassen. Im Hinblick auf die begrenzten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme ist die Ermittlung des Zugangs eine spezielle Herausforderung. Nach Erhalt des Hinweises auf eine Radikalisierung ist es daher umso wichtiger, bereits vor der ersten Kontaktaufnahme eine möglichst intensive Bewertung des Einzelfalls vorzunehmen. In sicherheitsrelevanten Fällen verfügen die zuständigen Behörden, wie Polizei und Verfassungsschutz sowie bei inhaftierten Personen die Justizvollzugsanstalten, über sehr hilfreiche Informationen zur Person und zum Umfeld. Dies liegt an den phänomenbezogenen Hintergründen, denn gegen zahlreiche Betroffene laufen bereits Ermittlungen oder sind anderweitige Untersuchungen eingeleitet worden. Besonders der Zugang zu inhaftierten religiösen Extremisten muss sensibel vorbereitet und geplant werden. Hier ist vor allem die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Trägern von Bedeutung.

Im Ergebnis muss in jedem konkreten Einzelfall nach der individuellen und für den Sachverhalt passgenauen Möglichkeit des Zugangs gesucht und dieser identifiziert werden, um den für alle Beteiligten wegweisenden Erstkontakt erfolgreich abschließen zu können. Um dies gewährleisten zu können, ist es absolut wichtig, dass alle hilfeleistenden Stellen bereits zu Beginn der Fallbearbeitung eng zusammenwirken.

Ein wesentlicher Aspekt in der Deradikalisierung und dem Disengagement ist das Schaffen einer Motivation zum Ausstieg. Personen, die sich aktiv mit dem konkreten Wunsch des Ausstieges an eine Beratungsstelle wenden, sind dabei noch am ehesten erreichbar. Aber auch hier müssen Strategien erarbeitet werden, wie nach dem Wegfall von möglichen sozialen Bezügen nach Ausstieg aus einer Gruppe mit Bedrohungen und möglicherweise begangenen Straftaten umgegangen wird. Bei Personen, die noch sehr unentschlossen sind und wo beispielsweise erste Kontakte über Angehörige oder Sicherheitsbehörden erfolgten und nicht auf Wunsch der oder des Betroffenen, sind vor allem Techniken des „Motivational Interviewing“ hilfreich, in denen in einem offenen, nicht wertenden Prozess positive und negative Konsequenzen der aktuellen Situation und eines Ausstieges reflektiert und im Sinne einer „Kosten-Nutzen-Analyse“ gegenübergestellt werden. Sinnvoll sind zudem die Erfassung der Integration der oder des Klienten in einer extremistischen Gruppe und die Identifizierung von Faktoren, die einen Ausstieg begünstigen können (zum Beispiel Konflikte in der Gruppe, Enttäuschungen, Druck von außen).28)

Deradikalisierungsprozesse weisen oftmals deutliche Parallelen auf, sind auf den zweiten Blick hinsichtlich der jeweiligen biografischen Hintergründe und der Art und Weise der Radikalisierung im speziellen Fall aber sehr individuell. So bedeutsam die richtig gewählte Ansprache ist, so wichtig ist in der Folge der gewählte Deradikalisierungsansatz bei der betroffenen Person sowie deren Umfeld. Analog zum bereits beschriebenen Vorgehen bei der Kontaktaufnahme sollte bei der Wahl der Mittel der jeweiligen Deradikalisierungsmaßnahme ein besonderes Augenmerk auf den Grund der Radikalisierung sowie dessen Einflusses – sowohl in Bezug auf Risiko- als auch auf Schutzfaktoren – gelegt werden. Ein solcher Analyseprozess erfordert in der Praxis eine multidisziplinäre Bewertung, bei der neben Spezialistinnen und Spezialisten mit phänomenbezogener (z. B. Islamwissenschaften), psychiatrisch-psychotherapeutischer, sozialpädagogischer und gegebenenfalls auch soziologischer Expertise auch Fachkräfte aus den Sicherheitsbehörden eingebunden sind.

Besonders wichtig ist dieser Prozess im Bereich der Flüchtlinge und Asylsuchenden. Angesichts der besonderen Umstände im Bereich dieser beiden Personengruppen, vor allem dem Überwinden von Sprachbarrieren sowie dem Fehlen von sozialen Ankerpunkten, greifen die herkömmlichen pädagogischen Konzepte aus der bislang angewandten Deradikalisierungsarbeit nur bedingt. Hier zeigt sich die Notwendigkeit eines auf den individuellen Einzelfall abgestellten Lösungsansatzes in besonderer Weise.

Auch beim Vorliegen psychischer Störungen ist ein angepasstes Vorgehen notwendig, da die Betroffenen aufgrund der psychopathologischen Auffälligkeiten häufig reguläre Angebote nicht nutzen können.

Grundlage der inhaltlichen Arbeit ist im behördlichen Bereich aber die klare Regelung der Zuständigkeiten und Absprachen. Immer häufiger wird bei der Bearbeitung von Radikalisierungssachverhalten deutlich, dass bereits eine Vielzahl behördlicher Stellen, in Teilen sogar bundeslandübergreifend, mit Person und Umfeld gearbeitet bzw. sich auseinandergesetzt hat. Gleichzeitig ist jedoch in der Praxis häufig ungeklärt, wer die Federführung im konkreten Fall innehat und für die Koordinierung der jeweiligen Maßnahmen verantwortlich ist. Vor allem die abgestimmte Zusammenarbeit von Sozial-, Ausländer-, Justiz- und Sicherheitsbehörden erfordert ein hohes Maß an Vertrauen und Koordination. Die Kompetenzfrage und ungeklärte Zuständigkeiten erschweren die Zusammenarbeit, vor allem vor dem Hintergrund des häufigen zeitlichen Drucks, unter dem entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden müssen. Kommen dann noch weitere Akteure, wie beispielsweise Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von zivilgesellschaftlichen Trägern, hinzu, wird der Austausch, insbesondere personenbezogener Daten, noch komplexer.

Die Erfahrungen, vor allem im Bereich der Bearbeitung zeit- und personalintensiver sowie sicherheitsrelevanter Beratungsfälle, zeigen, dass eine operativ ausgerichtete Koordinierungsstelle als zentraler Ansprechpartner während des gesamten Ausstiegsprozesses dringend erforderlich ist. Die Anbindung der Koordinierungsstelle ist hierbei zweitrangig. Wichtig sind die personell und materiell ausgestattete Ausrichtung der zentralen Organisationseinheit sowie die Übernahme der Verantwortung in den sicherheitsrelevanten Beratungsfällen. Mit einer zentralen Koordinierungsstelle ist es möglich, das Fallmonitoring, die Qualitätssicherung, die Initiierung von ergänzenden Maßnahmen und die Hinzuziehung weiterer erforderlicher Stellen zielgerichtet und vor allem zeitnah zu organisieren und zu koordinieren. Sowohl für die Betroffene bzw. den Betroffenen als auch das persönliche Umfeld sind parallele unkoordinierte Maßnahmen und Gespräche sowie mehrere Ansprechpartner weder vertrauensfördernd, noch ein Zeichen professioneller Vorgehensweise staatlicher Stellen. Maßnahmen, die Überschneidungen mit der Arbeit von Jugendämtern, freien Trägern der Jugendhilfe, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bewährungshilfe und weiteren Stellen in diesem Bereich aufweisen, müssen bereits zu Beginn eines Deradikalisierungsprozesses abgestimmt werden. Rollenklarheit sowie Definition der eigenen Grenzen sind in diesem Prozess klar erfolgsfördernde Faktoren.

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur