Bundeskriminalamt (BKA)

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Existenzielle Ängste

Insbesondere existenzielle Ängste scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Das sind Ängste, die „aus der menschlichen Natur“ entstehen – aus unserer Unfähigkeit, die Zukunft zu kontrollieren, der unvermeidlichen Unsicherheit, was uns erwartet, aus unserem Wissen, dass wir letztendlich sterblich sind oder aus unserer unvermeidbaren Unfähigkeit, mit anderen wirklich dauerhaft zusammen zu sein – unserer existenziellen Einsamkeit.105) Existenzielle Ängste sind im menschlichen Alltag nicht permanent aktiviert, sondern werden durch bestimmte Situationen in den Vordergrund gerückt, etwa wenn wir von anderen ausgeschlossen werden oder unsicher sind.

Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass Menschen, die unsicher sind, radikalere Gruppen bevorzugen.106) Ebenso tolerieren Menschen, die an ihre eigene Sterblichkeit erinnert wurden, eher Rassismus, gewalttätige militärische Interventionen, Aggressionen und sogar Selbstmordanschläge im Namen ihrer Eigengruppe.107)Auch das Gefühl von Ausschluss begünstigt die Akzeptanz von Terrorismus.108) Solche existenziellen Ängste schwächen auch die Ablehnung extremistischer Propagandavideos109) ab und können somit potenziell die Tür für radikalere Ideologien und Gedanken öffnen.

Ansprache von Bedürfnissen

Bezüglich der persönlichen Eigenschaften hat die bisherige Forschung bereits einige Faktoren untersucht, die eine Wirkung von Propaganda im Internet begünstigen können. Beispielsweise bewerteten Menschen, die ein Bedürfnis nach klaren Hierarchien und Ordnung haben, Regeln und eine einfache Weltsicht bevorzugen und bereit sind, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen Autoritäten auflehnen (also Menschen, die autoritaristisch sind) oder die Gewalt als ein Mittel zur Konfliktlösung akzeptieren, extremistische Propagandavideos positiver.110) Auch Individuen, die bereits radikalere Ansichten vertreten, bewerten Propaganda positiver.111) Wie Meleagrou-Hitchens et al. in ihrer Forschungsübersicht zur Rolle des Internets in Radikalisierungsprozessen betonen, darf nicht vergessen werden, dass extremistische Inhalte im Netz den Nutzenden einfache Antworten auf komplexe sozio-politische Fragen und konkrete Hilfestellungen bei der Ausübung von Gewalt bieten (siehe oben). Online-Medien können die Suche nach solchen Materialien für Personen mit einer entsprechenden Einstellung erleichtern, auch wenn der Anteil an expliziten Gewaltvideos selbst zu Hoch-Zeiten des für seine Brutalität bekannten, „IS“ vergleichsweise klein war.112)

Aber nicht nur autoritaristische oder gewaltverherrlichende Angebote sind im Netz zu finden, viele Angebote zielen auch auf das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit ab. Klickt man sich etwa durch das ultrarechte Pseudo-Presse-Angebot, sieht man, dass viele dieser Blogs ausdrücklich dazu auffordern, aktiv an Demonstrationen teilzunehmen, Geld zu spenden, die Seite zu „liken“ oder Sticker zu verteilen.113) Damit bieten sie Mediennutzenden „einfache“ Möglichkeiten, die eigene Sache zu unterstützen und wecken darüber hinaus das Bedürfnis, „etwas bewegen zu können“, zu befriedigen. Ähnliches bietet auch der „IS“: In ausgeklügelten Propaganda-Strategien werden Sympathisierende aufgefordert, Materialien auf neue Server zu laden und im Netz zu verbreiten, um somit eine Löschung durch Plattformbetreiber zu vermeiden und die Reichweite zu erhöhen.114) Das ermöglicht es auch „Jihobbists“, sich aktiv zu beteiligen.115)

Schließlich spricht Propaganda auch das Bedürfnis nach Bedeutung an. Die Suche danach im Leben (und der damit verbundene Wunsch, etwas „Besonderes“ oder jemand „Wichtiges“ zu sein) ist ein bedeutender Faktor in Radikalisierungsprozessen.116) Videos, in denen Kämpfende sowie Märtyrerinnen und Märtyrer glorifiziert werden, Likes von anderen Mitgliedern der Community, Verschwörungstheorien, die einem versprechen, man sei unter den Wenigen, die „die Wahrheit“ verstanden haben – sie alle versprechen dem Individuum das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Online-Medien wirken demnach in einem Zusammenspiel aus Push- und Pull-Faktoren auf individuelle Radikalisierungsprozesse. Mit Hilfe von attraktiven Geschichten, Identifikationsangeboten und digitaler Eins-zu-Eins-Betreuung versuchen Extremistinnen und Extremisten, neue Gleichgesinnte zu gewinnen und Mitglieder bei Aktionen zu unterstützen. Ob diese Pull-Faktoren allerdings auch zum Erfolg führen, hängt von verschiedenen Push-Faktoren auf Seiten des Individuums ab. Besonders existenzielle Ängste, die Suche nach Sinn, ein Bedürfnis nach einfachen Antworten und Hierarchien sowie der Wunsch nach Selbstwirksamkeit können als Push-Faktoren die Ablehnung extremistischer Angebote schwächen. Hier ist die Prävention gefordert, eigene Pull-Angebote zu machen, die Mediennutzenden nicht-extremistische Antworten auf ihre Fragen und Bedürfnisse bieten.

Ansatzpunkte der Prävention für das Online-Individuum

Angebote für die Extremismusprävention auf der engen, nahezu privaten Ebene des Online-Individuums sollten an den Bedürfnissen der Empfängerin bzw. des Empfängers, den Push-Faktoren, ansetzen und die eigenen Pull-Faktoren nutzen. Neben Angeboten zur Orientierung für junge Menschen, die (auch) im Netz zu finden sein sollten, sind persönliche Ansprache und attraktive Angebote besonders wichtig. Letztere sollten 1. auf authentische Geschichten setzen, 2. Anwerbeversuche von Seiten der Extremistinnen und Extremisten aufdecken und 3. mit positiven Influencerinnen und Influencern arbeiten.

Authentische Geschichten als Baustein der Radikalisierungsprävention

Das Lernen über Erzähltes, Lebensgeschichten und biografische Erfahrungen ist eine bewährte Methode in der Pädagogik, um einerseits Betroffenheit und Empathie zu erreichen, andererseits über Geschehnisse zu informieren und glaubwürdig aufzuklären. Aussteigergeschichten aus der rechtsextremen Szene oder Rückkehrer-Interviews deutscher Konvertitinnen und Konvertiten aus dem Dschihad können unserer Praxiserfahrung nach interessierte Jugendliche ob der Brutalität solcher Berichte zum Nachdenken anregen.

Insgesamt werden solche Geschichten, Erzählungen und Berichte, die sich gegen extremistische Botschaften wenden, als Gegenbotschaften oder auch Counter-Narrative bezeichnet. Dieser Begriff ist insofern etwas irreführend, da es gar nicht unbedingt um „Gegen“-Argumente geht, sondern auch um Argumente, die für die große Botschaft der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind.117) Counter-Narrative werden daher durchaus auch kritisch diskutiert, auch, weil sie selbst Ziel von Hassrede sein können118) oder durch Empfehlungsalgorithmen mit problematischen Inhalten verbunden sind.119)

Die Forschung zu Videos, die sich im weitesten Sinne gegen Extremismus und für demokratischen Pluralismus einsetzen, zeigen, dass solche Videos besonders effektiv sind, wenn sie eine gute Geschichte erzählen – eben genau so wie Propagandavideos.120) Schaut man sich unterschiedliche „Genres” von Gegenbotschaften genauer an, so sind es besonders persönliche Geschichten von Aussteigern, die eigene Fehler authentisch berichten, ohne andere zu verurteilen, die bei jungen Erwachsenen positive Reaktionen hervorrufen und die Identifikation mit demokratisch handelnden Personen fördern. Unwahrscheinlich erscheint hingegen, dass Videos gegen Extremismus direkt zur Ablehnung extremistischer Ideologien führen121)oder gar de-radikalisieren können.122)

Bereits heute arbeiten verschiedene Präventionsprogramme mit solchen Lebensberichten: Auf der multimedialen Website „Die Tränen der Dawa“123)des Violence Prevention Networks etwa können Schülerinnen und Schüler anhand von Videos die Radikalisierung zweier Freunde nachempfinden.

Pop-Dschihadistische Kultur im Internet reflektieren – Anwerbeversuche aufdecken

Eine Ästhetisierung extremistischer Aussagen, kombiniert mit dem alltäglichen Lifestyle der jungen Generation, ist eine problematische Vermischung, die reflektiert werden muss, zum Beispiel im unterrichtlichen Zusammenhang.124) Konkret können im Unterricht solche Seiten betrachtet und an ihnen exemplarisch die propagandistischen Absichten aufgezeigt werden. Alternative Angebote, wie bspw. die Seite der Jungen Islamkonferenz,125)die Seite ‚mein Islam‘,126) betrieben von Lehrenden und Studierenden des Fachs Islamische Religionspädagogik in Ludwigsburg, bieten einen fachlich fundierten Raum für Information und Auseinandersetzung.

Präventionsangebote können sich zudem ebenfalls die Kreativität und den Wunsch nach Selbstwirksamkeit junger Mediennutzender für die Erstellung eigener Inhalte zunutze machen. Das Projekt „#bildmachen – Politische Bildung und Medienpädagogik zur Prävention religiös-extremistischer Ansprachen in Sozialen Medien“, das von ufuq.de geleitet wird, hat das Ziel, Jugendliche und junge Erwachsene gegenüber Inhalten im Bereich des religiösen Extremismus zu stärken. Auf der Website www.bildmachen.net findet sich eine „Hall of Meme“ mit den besten Bildern aus den Workshops, die gespeichert und geteilt werden können.

Positive Influencerinnen und Influencer

Resultierend aus dem vorherigen Punkt ist es notwendig, den „Jugendlichen auf der Suche“ demokratische Angebote der Identifikation zu machen. Bei den viel erwähnten und zitierten YouTuberinnen und YouTubern der „Datteltäter”, die anti-rassistische und anti-dschihadistische Videos auf ihrem Kanal posten, stellt sich aber die Frage, ob sie Jugendliche aus bildungsfernen Schichten mit ihrer akademischen Art überhaupt erreichen können. Ähnliches gilt für die bpb-Reihen #whatIS oder „Begriffswelten Islam” auf YouTube, die Fragen zum Islam zu beantworten versuchen. Auch hier stehen teilweise hohe kognitive Hürden vor dem Verstehen. Eine Inhaltsanalyse zu Gegenbotschaften zeigt, dass insgesamt viele Videos gegen Extremismus „von oben herab” agieren, etwa wenn Fachleute Vorträge halten.127) Die Vortragsweise eines Pierre Vogel mag vielen plump und unakademisch erscheinen, tausende von jungen Männern hat er jedoch damit erreicht. Die Faszination erfolgreicher Prediger auf Jugendliche und das Angebot an extremistischen Videos zu untersuchen, ist nicht umsonst ein zentraler Aspekt aktueller Forschungsprojekte in Deutschland.128)

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen