Bundeskriminalamt (BKA)

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Die digitale Gesellschaft

Radikalisierung in der digitalen Gesellschaft

Gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse finden heutzutage mit Hilfe von Online-Medien statt. Früher kam den Massenmedien (beispielweise dem Rundfunk, den Tageszeitungen im Bereich Print und dem Fernsehen) die zentrale Rolle zu, zwischen dem politischen System und den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, um eine informierte Teilhabe zu ermöglichen. Online wird das Angebot an medialen Informationen durch unzählige alternative Nischenprodukte ergänzt, auch solche mit extremistischen Inhalten. Die Vielfalt an extremistischen Angeboten profitiert von drei fundamentalen Veränderungen: Wer Inhalte veröffentlichen kann, wie diese Inhalte ausgewählt werden und die globale Vernetzung von Inhalten.

Vielfalt von Aktiven durch den Wegfall von „Gatekeeperinnen und -keepern

Früher waren Medien in ihren Möglichkeiten, Inhalte zu veröffentlichen, durch verschiedene Faktoren begrenzt, etwa durch die Seitenzahl einer Zeitung. Meist entschieden Profis, etwa Herausgeberinnen und Herausgeber, welche Informationen es durch dieses „Tor“ (engl. Gate) in die Arena der Öffentlichkeit schafften und gedruckt oder ausgestrahlt wurden. Das hat sich mit dem Internet verändert.

Heutzutage kann quasi jede und jeder eigene Inhalte erstellen, kommentieren, und diese – zumindest potenziell – einem globalen Massenpublikum zugänglich machen. Auch wenn zumindest in Deutschland immer noch die meisten Menschen ihre Nachrichten primär durch den Fernseher erhalten12), degradiert das Internet Medienmacherinnen und -macher durch die Veröffentlichungsmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht von Torwächterinnen und -wächtern (engl. Gatekeepern) zu „Torbeobachterinnen und -beobachtern“.13)

Daher macht es allein die schiere Masse an Zugängen zu digitalen Öffentlichkeiten unmöglich, das Hochladen von Propagandainhalten zu verhindern. So berichtete Facebook, dass das Video des rechtsextremistischen Terroristen, der im neuseeländischen Christchurch im März 2019 in zwei Moscheen 50 betende Musliminnen und Muslime getötet und seine Tat live im Netz gestreamt hatte, zunächst nur von 200 Personen gesehen worden war. Insgesamt fanden sich aber in den ersten Stunden nach dem Anschlag über eine Million Kopien des Videos auf der Plattform. Diesen Umstand machen sich verschiedene Akteurinnen und Akteure zunutze: Grob lassen sich extremistische Medieninstitutionen, Privatpersonen und Fake Accounts unterscheiden.

Extremistische Medieninstitutionen

Das Angebot extremistischer Medieninstitutionen umfasst sowohl Unterhaltungsmedien als auch Nachrichtenkanäle. Insbesondere der selbsterklärte „Islamische Staat“ (IS) machte zu seinen Hoch-Zeiten mit hochprofessionellen, „hollywoodartigen” Filmen auf sich aufmerksam, die teilweise mit mehreren Kameras und hochkomplexen Zeitlupen von eigenen Filmstudios inszeniert wurden.14) Aber auch rechtsextremistische Akteurinnen und Akteure nutzen Unterhaltungsmedien wie Videospiele oder Musikvideos für ihre Zwecke.

Desinformationen

Desinformationen sind absichtlich verzerrte oder frei erfundene Inhalte mit überdauernder Täuschungsabsicht, etwa frei erfundene Gerüchte über Straftaten von Geflüchteten. Manchmal werden Desinformationen auch als „Fake News” bezeichnet, allerdings sind Desinformationen nicht unbedingt „fake“ – oft werden korrekte Inhalte in einen verzerrten Kontext gesetzt oder mit irreführenden Überschriften versehen.

Gezielte Desinformationen und Propaganda werden längst nicht nur von extremistischen Medieninstitutionen verbreitet, auch andere Mediennetzwerke – teilweise mit Verbindungen zu staatlichen Stellen – werden zu Propagandazwecken eingesetzt oder spielen extremistischen Narrativen in die Hände. Etwa wenn der russische Auslandssender Russia Today (RT) Verschwörungstheorien verbreitet, oder ungarische und iranische Nachrichtenmedien Falschnachrichten anonymer Schweizer Verschwörungstheorieblogs teilen. Zudem verbreiten sich Falschmeldungen auch über professionelle Medienkanäle und politische Akteurinnen und Akteure. Für Deutschland beobachtete die Stiftung Neue Verantwortung, dass neben rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Akteurinnen und Akteuren auch unsauber arbeitende Massenmedien zur Verbreitung von Fehlinformationen beitragen. Die Washington Post identifizierte beispielsweise 492 Falschaussagen, die der amtierende US-Präsident Donald Trump in den ersten 100 Tagen seiner Regierung tätigte. Die chinesische Regierung hat gar ein offizielles Propaganda-Ministerium, das unter anderem die Inhaftierung und „Umerziehung“ der muslimischen Minderheit der Uiguren unter unmenschlichen Bedingungen als „Kampf gegen der Terror“ verbrämt.

Für Nachrichten findet sich ein alternatives „Pseudo-Presse“-System mit eigenen Medienagenturen, Zeitungen, Radio- und Video Kanälen im Netz.

Auf Seiten islamistischer Extremistinnen und Extremisten sind das etwa die Nachrichtenagentur des „IS“, die Aamaq News Agency, die sich unter anderem mit der Verbreitung von Bekenner-Meldungen zu terroristischen Anschlägen einen Namen gemacht hat, oder die online Hochglanzmagazine Dabiq oder Rumiah.

Im ultra-rechten Spektrum tragen in Deutschland (ebenso wie global) unzählige pseudo-journalistische Websites, Blogs und angebliche Online-Zeitungen zur Verbreitung von propagandistischen Desinformationen bei. Die lebhaft geführte Debatte um sogenannte „Fake News“ im Nachklang der US-Wahl 2016 ist nur ein Ausdruck dieser umfassenden „Desinformationsordnung“.15)

Für Mediennutzende ist es häufig schwer, zwischen politisch verzerrter Meinung und faktisch akkuraten Nachrichten zu unterscheiden. So zeigte eine Studie des Pew Research Centers 2018, bei der einer repräsentativen Stichprobe von Amerikanerinnen und Amerikanern jeweils fünf Fakten und fünf Meinungsäußerungen vorgelegt wurden, dass nur 26 Prozent der Befragten alle Fakten korrekt als Fakten identifizieren konnten. Bei Meinungsäußerungen erkannten lediglich 35 Prozent, dass es sich um eine Meinungsäußerung und nicht um ein Faktum handelte.16)

Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich propagandistische Gerüchte und Desinformationen teilweise mit enormem Erfolg verbreiten. Als Kanzlerin Merkel 2018 ein Interview zu der Entscheidung der Essener Tafel gab, keine Menschen mit Migrationshintergrund mehr aufzunehmen, wurde der stark verzerrte Artikel des rechtsextremen Blogs „Halle Leaks“, bei dem der Kanzlerin ein gefälschtes Zitat zugeschrieben wurde, bei Facebook 134 mal so häufig geteilt wie der entsprechende Artikel der „Zeit“ zum selben Thema.17)

Auch bei Twitter verbreiten sich Gerüchte schneller als professionelle Nachrichten, wie eine Studie aller zwischen 2006 und 2017 auf Twitter geteilten Nachrichten, die als „falsch“ gekennzeichnet wurden, zeigt – insbesondere, weil Mediennutzerinnen und -nutzer mit geringer „Twitter-Erfahrung” dazu beitrugen, Falschmeldungen zu verbreiten und so die Reichweite dieser Inhalte vergrößerten.18)

Struktur und Informationen zum Kapitel / Modul

Fussnoten

Literatur

Quellen